DER UNTERSUCHUNGSRICHTER
Eine Grammatik der Wirklichkeit, die es nicht gibt...
DER UNTERSUCHUNGSRICHTER ist der vierte Text/Prosaband der ARCHIVE DES SCHWEIGENS des Österreichers Gerhard Roth. Wir verfolgen den Untersuchungsrichter Sonnenberg, dem geneigten Leser schon aus dem Vorband AM ABGRUND bekannt, wie er diversen Ermittlungen in Wien nachgeht. Vor allem versucht er zu erforschen, wo sein Wahn beginnt und wo die Wirklichkeit aufhört. Wieder und wieder entgleiten ihm Situationen und lösen sich in scheinbar vollkommen sinnfreien Aktionen und Begebenheiten auf. Hunde beginnen zu sprechen und folgen dem Richter, immer wieder wird er fast Zeuge von Morden, mehrmals entrinnt er Anschlägen auf sein Leben nur knapp, dann wieder wird er – obwohl durch den Besitz einer Tatwaffe schwer belastet – vom Gerichtspräsidenten gedeckt usw. Das alles scheint seinem zunehmenden Wahn geschuldet. Auch muß Sonneberg die Erfahrung machen, daß er mühelos in den Kopf eines Verdächtigen blicken kann. Der Hund, Schwiff genannt, obwohl vor Sonnenbergs Augen verendet, erhebt sich und geht auf Wanderschaft, schließt sich einem Flußschiffer an. Wenn aber Sonnenbergs „Wahn“, seine Wahnbilder, sich selbstständig machen kann/können, hat man es dann noch mit Wahn zu tun? Oder ist es die Wahrnehmung der Welt nach eigenen Gesetzen? Und was hat es mit den Gesetzen eigentlich auf sich? Denen einer Gesellschaft, die letztlich auch nur willkürlich „gesetzt“ werden, aber auch denen der Realität? Und dann, schließllich (und vielleicht beginnt der Roman erst damit): Was hat es mit den Gesetzen des Denkens und des Schreibens auf sich? Denn wenn Sonnenberg in den Kopf eines vierzehnjährigen Verdächtigen gucken kann, warum sollte dann nicht Gerhard Roth, so er denn die auktoriale Erzählerstimme ist, die den Text unterbricht und zunehmend zurückdrängt, in den Kopf Sonnenbergs schauen? Und warum sollte nicht Sonnenberg in den des Erzählers schauen? Und warum sollten nicht alle diese in den Kopf des Lesers schauen?
Was sich in den ersten drei Bänden ankündigte, findet im vierten Band dieses gewaltigen Zyklus eine Art der Vollendung: Die Suche nach den Gesetzmäßigkeiten der Realität, also die Suche nach der „Wahrheit“, kann sich nicht auf den Inhalt eines Textkörpers beschränken. Roth spannt die Juristen und die Psychologen (die er gleichermaßen nicht leiden kann) zusammen und zeigt uns ein Geflecht der Wirklichkeit, das restlos willkürlich zustande kommt. Die Juristerei definiert die Gesellschaft, die Psychologen definieren darin die Normen. Und die einen brauchen die anderen: Ohne die Psychologie ist die Juristerei nicht lebensfähig, denn ein Beteiligter eines Verfahrens fühlt sich immer ungerecht behandelt. Das aber gilt es zu verstehen, einerseits, erfolgreich abzustreiten (vor dem Betreffenden) andererseits. Wenn aber die Grammatik(en) der Wirklichkeit reiner Willkür entstammen, dann ist die eigentliche Norm allen Seins der Wahn, das Chaos, die Undurchdringlichkeit indifferenter Zeichensysteme. Und diese Erkenntnis kann nicht an der Grenze eines Textkörpers Halt machen. Diese Erkenntnis hat unweigerlich Auswirkungen auf das Geschriebene, mehr noch auf den, der schreibt. Und so wird dieser Text, der ja laut Untertitel auch kein Roman, sondern die „Geschichte eines Entwurfs“ ist, schließlich zu einer schriftstellerischen Selbstbefragung und -rechtfertigung. Roth sieht ein, daß alles Denken, daraus resultierend das Schreiben, zu reiner Willkür gesetzter Gesetzmäßigkeiten grammatikalischer Art wird. Löst man diese Grammatiken auf, bleibt das, was er viel später, zu Beginn seines im Titel gleichlautenden Abschlußbandes des „Orkus“-Zyklus beschreibt: schwarz-weiße Buchstabengewitter im Kopf. Eine Erzählung im engeren Sinne ist dann nicht mehr möglich.
Ähnlich wie Peter Handke einige Jahre zuvor zu dem Ergebnis kam, die Geschichten (im Sinne einer Story) seien auserzählt, so wie anfangs der 80er Jahre die französischen Philosophen der Postmoderne (wie in diesem Falle konkret Jean-Francois Lyotard) meinten, die „großen Erzählungen“ seien auserzählt, so muß auch Gerhard Roth an den Punkt gekommen sein, jegliche Art inhaltlichen Schreibens abzulehnen. Er geht in einigen Momenten sogar so weit, das Schreiben für sich generell abzulehnen. Wer dem Zyklus „Die Archive des Schweigens“ chronologisch (soweit man hierbei von einer Chronologie reden kann) gefolgt ist, weiß, daß der „irre“ Franz Lindner Roths Bezugspunkt war durch nahezu alle drei Vorläuferbände, vor allem im LANDLÄUFIGEN TOD. Das er, Roth, nun, hier, im vierten Band, zu dem Schluß kommt, der Wahn könne nicht zwischen den Klappen eines Buches verharren, sondern müsse ebenso aus dem Buch heraustreten, wie er durch den Kopf des Autors (des Lesers ebenso?), der Wirklichkeit entstammend, hinein gekommen ist, kann nicht verwundern. Daß der Autor sich fragt, inwiefern er selbst dem Wahn verfallen sein muß, liegt in der Logik/Grammatik/dem Gesetz dieses Zyklus.
Roth kommt in der inneren Entäußerung sehr nah an sich selbst heran. In diesem Band gibt es keine Ausflucht mehr, sprachlich eng geführt, muß der Leser nah an den Gedanken bleiben, die ihm entweder Sonnenberg oder der auktoriale Erzähler (Roth?) darbieten. Dadurch entsteht allerdings ein dichtes Textgeflecht, das einen ganz eigenen Sog entwickelt, dem man sich schwer entziehen kann. Hier hat man es mit einer Art der Prosa zu tun, die sich dem herkömmlichen Schreiben netziehen und sich der Philosophie anschließen will, nur um festzustellen, daß auch die Philosophie nicht hilft, denn sie wiederum ist eine Denkgrammatik der Vernünftigen, der Gesunden. Die Verzweifelten, wie Roth schreibt, bleiben auch von ihr unerreicht.
Vielleicht, so Roths Überlegung ganz zum Schluß des Buches, muß eine neue Philosophie entstehen, in „den Irrenhäusern, in Gefängnissen und Hospitälern“. Vielelicht können wir erst mit dem Schauen anfangen, wenn wir uns aus den Fängen der Grammatik, aus dem Regelwerk der Gesetze, aller Gesetze, befreit haben?