DRACH/DRACH

Szczepan Twardoch wirft einen weiten, einen gewagten und gewaltigen Blick auf das 20. Jahrhundert

Gewalt, Gewalt und immer wieder Gewalt? Muss das wirklich sein? Gibt es denn kein anderes Thema, gerade, wenn man einen Blick über einen langen, einen weiten Zeitraum wirft? Betrachtet man das 20. Jahrhundert – abseits der reinen, objektiven Daten – als einen Zeitabschnitt, der sich aus einem anderen, früheren Zeitabschnitt ableitet, gleitend, kontextualisiert, nicht immer klar zu definieren, sondern fließend, unübersichtlich, so wie das Feld in den Hain übergehen mag, dann bleibt dem Betrachter wahrscheinlich nicht viel anderes übrig, als zumindest grundlegend auch über Gewalt nachzudenken und auch darüber zu reden. Zwar sei die Gewalt im Laufe der Jahrhunderte – so sagen die Soziologen und die Sozialhistoriker[1] – global zurückgegangen, doch sei das 20. Jahrhundert ein Ausreißer gewesen, dialektisch gesehen eine Antithese. Zu gewaltig diese beiden Weltkriege, die viele Historiker als einen zweiten dreißigjährigen Krieg begreifen, zu gewalttätig jene Ereignisse, die sich in Folge und durch diese Kriege ausgelöst ereigneten, zu brutal die Genozide und Menschheitsverbrechen, die vor allem die Shoah bedeutete. Zu gewaltig und gewalttätig aber auch die vielen, vielen Stellvertreterkriege, die im Laufe des Kalten Krieges in der damals so genannten Dritten Welt geführt wurden. Und nicht nur dort.

Wie will man diesen ebenso gewaltigen wie gewalttätigen Zeitabschnitt überblicken, wie ihn erfassen? Welcher Erzähler sollte dies bewerkstelligen können? Welche Stimme wäre gewaltig genug, einen solch großen und weitläufigen Zeitabschnitt zu erfassen und ihm angemessen Ausdruck zu verleihen? Müsste es nicht, wie in der antiken Tragödie, schon ein Chor sein, der das Geschehen kommentiert? Einige Autoren verfahren genau so. Man erinnere sich an Harry Mulisch, der in seinem Epos DIE ENTDECKUNG DES HIMMELS (1992) einen himmlischen Chor das Geschehen kommentieren ließ – das ist eine Möglichkeit. Denn wer könnte Zeit und Raum besser überschauen, als etwas Göttliches? Und wie anders sollte es in der Postmoderne möglich sein, wohl wissend, dass die „großen Erzählungen“ nicht mehr möglich sind? Wissend, dass der auktoriale Erzähler im Grunde ausgedient hat, zu gestrig, gar vorgestrig, zu sehr eine Stilfigur des 19. Jahrhunderts? Nur die ironisch gebrochene göttliche Stimme könnte noch weit genug ausgreifen.

Szczepan Twardoch entscheidet sich in seinem epochalen Werk DRACH (2014/Dt. 2016/17) für einen anderen, doch nicht minder gangbaren Weg, den man trotz aller Wucht, die darin liegt, doch auch kritisch betrachten kann: Es ist die Erde selbst, die von den Zerstörungen durch den und von der Zerstörungslust des Menschen berichtet. Ein scheinbar dem magischen Realismus entlehntes Prinzip. Zutiefst postmodern. In drei langen Teilen und einem Intermezzo, welches die Erlebnisse einer der Hauptfiguren des Romans – Josef Magnor – im Ersten Weltkrieg genauer beleuchtet und damit auch das, was Historiker oft und gern die Urkatastrophe des „kurzen“ 20. Jahrhunderts[2] nennen, berichtet also die Erde selbst von den Figuren dieses Epos und Dramas, das sich da an der deutsch-polnischen Grenze entfaltet. Eine Grenze übrigens, die ebenso schwammig und uneindeutig ist, wie die scheinbar so objektive Einteilung in Daten, Uhrzeiten und den daraus abzuleitenden Beurteilungen der Wirklichkeit durch die das Exakte so liebenden Menschen, die sich davon Klarheit versprechen. An entscheidender Stelle im Roman bringt die erzählende Erde diese Sehnsucht nach Klarheit auf einen Nenner: Sie ist männlich und entspricht dem Ingenieurswesen, der neuen Zeit, dem Architekten – eine weitere Hauptfigur der Erzählung ist der Urenkel des Josef Magnor, Nikodem, seines Zeichens äußerst erfolgreicher Architekt und erster polnischer Gewinner eines der wichtigsten Architekturpreises der Welt – Räume, Straßen, Städte, Länder in exakte Grenzen und Begrenzungen einzuteilen, während es viel eher dem weiblichen Prinzip, aber auch dem Ländlichen und auch dem Historischen entspricht, den Feldrand zu betrachten, wo der Kulturteil der Bepflanzung in den von Unkraut überwucherten Hain übergeht. Grauzonen, Uneindeutigkeiten. Fragmentierungen.

Berichtet wird in DRACH in vielen, vielen Einzelkapiteln, die jeweils die Jahreszahlen im Titel tragen, die sie – manchmal nur mit einem flüchtigen Gedanken – streifen, von den Erlebnissen des Josef Magnor, der in den Oberschlesiens Kohleminen arbeitet, nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt ist, erzählt wird von seinen Freunden und Genossen, denen er sich anschließt, als es darum geht, bessere Bedingungen zu erkämpfen für die Arbeiter unter und über Tage. Zugleich wird die Geschichte von Caroline erzählt, Tochter aus gutem Hause, die Josefs auf einer Kirmes ansichtig wird und ihn begehrt, wie er sie begehrt. Es wird berichtet von den Geschehnissen um die Familien Magnor und Czoik, die sich vermählen, von ihren Erlebnissen durch die Jahrzehnte, das gesamte 20. Jahrhundert durchspannend. Bis hin zu Nikodem und seinen sehr modernen Problemen um Beziehungen und Kindererziehung und darum, wie man den eigenen Bedürfnissen gerecht wird in den Ansprüchen der (Post)Moderne. Und es wird in einer Doppelbewegung, die unbeschreiblich ist in ihrer sprachlichen Ästhetik davon berichtet, wie all das immer wieder in Katastrophen endet – großen und kleinen; solchen, die in den Geschichtsbüchern auftauchen und solchen, die lediglich in den Berichtsbögen der Notärzte erscheinen.

Was die Erzählerin, die Erde, uns immer wieder vor Augen führt in diesem Panorama eines Jahrhunderts, das ist die Gewalt, die offenbar das Movens hinter allem zu sein scheint. Krieg als Vater aller Dinge – dieses Philosophenwort, das so gern falsch verstanden wird, ist hier immer gegenwärtig und wird doch ad absurdum geführt. Denn eines macht die Erzählerin auch klar – und diese Klarheit ist vielleicht der deprimierendste Aspekt eines Romans, der an deprimierenden Aspekten nicht arm ist – , gnadenlos klar: Nichts von alledem ist wichtig oder gar wesentlich. Alles ist eins. Der Mensch – als Kollektiv oder als Individuum – geht aus der Erde hervor und verschwindet eben auch wieder in ihr. Er ist Teil eines endlosen Kreislaufs, der nie enden wird, gleich, welche Wichtigkeit der Einzelne seiner persönlichen Geschichte, seinen Lieben, seinen Freunden, seinen Kindern, Eltern, der Arbeit usw. beimisst. Es geht weiter und der Einzelne wird vergessen werden, früher oder später. Meist früher. Eine Binse? Ja. Aber vielleicht eine, an die erinnert zu werden von Zeit zu Zeit Not tut.

Twardoch ist da ein gewaltiger Wurf gelungen. Ein historischer Blick auf jene Region, die gern als Schlesien und Oberschlesien bezeichnet wird und von der wir im Laufe dieser über 400 Seiten, die – ohne Kenntnisse des Polnischen zwar nur schwer zu beurteilen, doch erscheint es so – von Olaf Kühl kongenial übersetzt wurden, lernen, dass sie auch nur ein Landstrich auf der Weite der Welt ist, in der dieses Nichts, als das der Mensch oftmals erscheint, sich müht, zu bestehen. Und in und an den immer gleichen Verhältnissen – der Liebe, der Freundschaft, der Familie, dem Unrecht zwischen den Geschlechtern, dem Unrecht zwischen den Klassen, der Macht der Institutionen, der Macht der Waffen, der Macht der Gewalt (sic!) und der Macht der Macht selbst als Ordnungsprinzip – zu leiden und zu verzweifeln. Vielleicht ist ein Wesen wie Caroline, die Josef so schmerzlich begehrt, ohne je zu begreifen, was dieses Begehren ist, was es ausmacht oder gar, was es bedeutet, vielleicht ist diese Caroline in ihrer vollkommenen Lieblosigkeit, die auf einen eklatanten Mangel an Empathie und Emotion, aber auch auf ein fehlendes reflexives Bewusstsein des eigenen Wesens, der eigenen Stellung in der Welt und des kulturellen, sozialen und historischen Kontextes, vielleicht ist genau dieses Wesen das perfekte Wesen des 20. Jahrhunderts: Sowohl in der Bedeutung, in diesem Jahrhundert zu leben, zu bestehen, als auch in der Verkörperung dieses Jahrhunderts, das doch einst so verheißungsvoll mit der Entdeckung jenes Kontinents begonnen hatte, den wir „Unterbewusstsein“ nennen, und doch in die bewusst gewollte Bewusstlosigkeit der rohen Gewalt, der reinen Vernichtung, zur Verneinung an sich, zur Negation des Menschlichen und seines Wesens geführt, sich entwickelt hat.

Man kann Vieles an diesem Roman kritisieren: Die Erzählperspektive der Erde, die sich gerade auf dieses Fleckchen Welt kapriziert; an dem dieser Erde zugeschriebenen Konzept des Kreislaufs und dadurch der Gleichzeitigkeit (was in eklatantem Widerspruch zu den Jahreszahlen zu Beginn der Kapitel steht, die ja eben doch Chronologie widerspiegeln, wiedergeben) aller Ereignisse (im Text immer wieder in der Formulierung „zur gleichen Zeit, aber viel früher“ oder „…zu einer anderen Zeit“ markiert); an der Auswahl der Figuren und ihrer spezifischen Geschichten (was sicher und vor allem in der gegenwärtigen Figur des Nikodem deutlich wird); daran, dass zwischen Josef und seinem Urenkel ganze Dekaden lediglich nur gestreift werden und damit also sehr wohl eine zeitliche Auswahl und damit auch eine Hervorhebung getroffen wird. Eine Hervorhebung, die letztlich im Widerspruch zu der ewigen Wiederholung steht, nichts an all diesen Schicksalen sei wichtig, alles sei Eins und gleiche sich in einem ewigen Kreislauf und in ewiger Wiederholung des Immergleichen. All das kann kritisiert werden, ja, der Leser mag sich daran sogar reiben.

Aber ist das ein Fehler? Sollte Literatur nicht auch immer Reibungsfläche sein? Eine Möglichkeit, die Welt anders zu sehen und auch auf eine Weise, aus einer Perspektive, die den Lesenden vielleicht nicht zwingend gefällt, die aber immer einen neuen Blickwinkel anbietet. Vor allem aber gelingt es Twardoch, einen literarischen Sog zu entwickeln, der den Leser mitzieht, dem man sich im besten Sinne des Wortes nicht ent-ziehen kann, auch nicht entziehen will, sondern dem man sich gleichsam hingibt, sich fallen lässt, aufgeht in diesem weiten Panorama menschlichen Leids, das doch angeblich so unbedeutend ist, und zugleich sich lesend reibt an Form und Stil dieses Schreibens. Was könnte Literatur mehr sein? Was könnte Literatur größer machen? Was voller, was gelungener? DRACH ist genau das Meisterwerk, welches die Kritiker in ihm sehen und es ist mehr als das. Vor allem aber ist das ein wirklich großes Buch.

 

[1][1] Vgl. Pinker, Steven: GEWALT. EINE NEUE GESCHICHTE DER MENCHHEIT. Frankfurt a.M.; 2011.

[2] Vgl. Hobsbawm, Eric: DAS ZEITALTER DER EXTREME. WELTGESCHICHTE DES 20. JAHRHUNDERTS. (AGE OF EXTREMITIES. THE SHORT 20TH CENTURY 1914-1991). 1994/1995/1998/2000. Aber auch: Iván T. Berend u.a.

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