DAS VIERTE PROTOKOLL/THE FOURTH PROTOCOL
Literatur aus einer anderen, einer vergangenen Zeit
Hat man den Kalten Krieg – oder dessen Ende in den 80er Jahren – noch selbst erlebt, stellt sich bei der Lektüre eines Romans wie Frederick Forsyths DAS VIERTE PROTOKOLL (THE FOURTH PROTOCOL, Original erschienen 1984; Dt. 1984/2013) schnell die Frage, wer das heute eigentlich noch lesen soll – außer eben Leser*innen, die die Fünfzig bereits überschritten haben. Die Spannung, die der Roman leidlich verbreitet, wird sich kaum jemandem erschließen, der oder die sich an jene Jahre nicht erinnern kann. Allerdings ist dies ein Schicksal, das Forsyth mit einigen seiner Kollegen aus dem Thriller-Genre teilt. Auch die frühen Bücher eines John le Carré dürften heute nur noch historisch Interessierten zugänglich sein.
Forsyth – auch darin vergleichbar mit vielen seiner Kollegen – kommt selbst aus der Praxis. Anders als Ian Fleming, der Erfinder von James Bond, oder le Carré arbeitete Forsyth zwar (soweit bekannt) nicht hauptberuflich für den Auslandsgeheimdienst MI6, war aber als Auslandskorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters und Journalist der BBC in Einsätzen in Paris und Ost-Berlin sowie immer wieder in Afrika. Die britische Außenpolitik beschäftigt ihn zeitlebens und in seiner Autobiographie THE OUTSIDER: MY LIFE IN INTRIGUE (2015) beschrieb Forsyth, dass er mehrfach Aufträge für den MI6 übernommen habe. Eine durchaus glaubwürdige Behauptung. Fraglos ist Forsyth hervorragend informiert und ein wahrer Meister der Recherche. Seine Romane vermischen denn auch meist Zeitgeschichte und lassen jede Menge zeitgenössische Figuren auftreten, vermischen ihre faktenbasierten Ausgangssituationen dann aber mit oft ausgesprochen spannenden Plots, die sich jedoch immer an der Realität orientieren und dadurch authentisch und glaubwürdig wirken.
In DAS VIERTE PROTOKOLL ist es eine ebenso geheime wie groß angelegte Sabotageaktion der Sowjetunion unter Mithilfe des Meisterspions Kim Philby, der nach seiner Enttarnung 1963 nach Moskau geflohen war. Hier nun geht es darum, mit einer kleinen Atombombe, die zwar beträchtlichen, aber nicht apokalyptischen Schaden anrichten soll, die britische Wählerstimmung so zu beeinflussen, dass bei vorgezogenen Neuwahlen die Labour Party – also die in den 70er Jahren weit nach links gerückte sozialdemokratische Partei Großbritanniens – einen Erdrutschsieg erringen könnte, da sie die Partei der Abrüstung ist. Sobald sie dann die Macht über Downing Street 10 errungen hat, soll eine marxistisch-leninistische Gruppe innerhalb der Partei das Ruder an sich reißen, einen ihnen genehmen Premier einsetzen und umgehend die NATO und die EU verlassen und sich den Sowjets anheischig machen.
Aus verschiedenen Perspektiven – britische Ermittler in Gestalt des Regierungsbeamten und Agenten John Preston; höhere Chargen des MI5 und des MI6; der Generalsekretär der KPDSU, der die Aktion mit Philby und einigen wenigen Vertrauten am KGB vorbei plant; den sowjetischen Agenten vor Ort, die die Aktion ausführen sollen; dem KGB-Chef, der sich düpiert fühlt usw. – erzählt Forsyth nun minutiös, wie die Aktion geplant und durchgeführt wird und zugleich, wie es vor allem Preston nach und nach gelingt, das Spionagewerk aufzudecken. Dabei nimmt die Handlung verschlungene Umwege und Nebenpfade, führt nach Südafrika und immer wieder in die geheimen Archive der Dienste und endet schließlich in einer wahren Engführung in einer wilden Verfolgungsjagd und anschließenden Überwältigungsaktion im schönen Norfolk, wo das Ziel des Angriffs – eine geheime Flugzeugbasis – liegt.
Wie es der*die Leser*in von Forsyths Werken gewohnt ist, nimmt sich der Autor auch hier sehr, sehr viel Zeit für Details und genaue Beschreibungen. Wird eine Einheit – hier bspw. die SAS, eine der deutschen GSG9 vergleichbare Spezialeinheit – eingeführt, werden Aufbau und Kommandostrukturen genauestens erklärt, gleiches gilt für die Abläufe in den verschiedenen geheimen Diensten, seien es die der Briten oder jene der Sowjets. Man kann bei Forsyth allerdings sicher sein, dass seine Angaben und Erklärungen genauestens recherchiert wurden, dementsprechend stimmen und nicht dramaturgisch verfälscht oder überhöht würden. Andererseits ermüden diese deskriptiven Ausflüge auch enorm. Man merkt Frederick Forsyth immer den Journalisten an. Ob dieses Handwerk zwingend den Lesefluss fördert oder gar die Spannung erhöht, sei einmal dahingestellt. Forsyth ist hier auch nicht bereit, die Handlung künstlich aufzublähen oder actionreicher zu gestalten, als unbedingt nötig. Wenn die Protagonisten seiner Story wochenlang in einem Haus hocken und ein Objekt beobachten, dann schildert der Autor genau das. Sie warten, sie langweilen sich, sie essen Take-away-Food vom Chinesen und lesen die Sportnachrichten in der Tagespresse. Es geschieht oft wenig, umso erstaunlicher, dass man dies alles doch mit einer gewissen Gespanntheit liest und wissen will, wie es weitergeht.
Spannungsliteratur im eigentlichen Sinne – gemessen an Autoren wie Robert Ludlum oder Ken Follett – sind Forsyths Romane nämlich nicht. Ihm scheinen die akkurate Detailbeschreibung, die historische Genauigkeit und zeitgenössische Analyse wichtiger, als es ein actiongeladener Plot oder eine Einzelszene, die den*die Leser*in fesselt, je sein könnten. So hat man bei seinen Romanen oft den Eindruck, sehr genaue Berichte von realen Ereignissen und Begebenheiten zu lesen. Mit dieser stilistischen Haltung gelingt es ihm dann auch, etwaige literarische Schwächen zu übertünchen. Denn gemessen an einem Kollegen wie John le Carré, der tatsächlich über ein hohes Maß literarischer Möglichkeiten und literarischen Gespürs verfügt, kann Frederick Forsyth nicht bestehen.
So ist diese Literatur denn auch weniger gut gealtert als die des Kollegen. Auch dessen Werke, es wurde eingangs erwähnt, sind im Grunde nur für die interessant, die sich explizit und dezidiert für die Geschichte des Kalten Krieges interessieren. Doch kann man einen Roman wie DAME, KÖNIG, AS, SPION (1974) immer auch noch als reinen Spannungsroman oder gar mit literarischem Genuss lesen. Folgt man hingegen einem Roman wie dem VIERTEN PROTOKOLL, bleibt trotz Forsyths Erklärwille Vieles unverständlich und fremd, da hier eine Zeit heraufbeschworen wird, die endgültig vorbei zu sein scheint, wie etwas nur vorbei sein kann. Wer diese Jahre nicht zumindest ansatzweise erlebt hat, wird hier wenig Freude empfinden und kaum einen Mehrwert bei der Lektüre empfinden.