DIE DREHUNG DER SCHRAUBE/THE TURN OF THE SCREW

Ein kleiner Beitrag zu einem weiten Interpretationsfeld

Jede literarische Nation mag diese Texte haben – vielbesprochen und über Generationen hinweg ein Faszinosum. Kafkas VERWANDLUNG, Flauberts MADAME BOVARY oder Joseph Conrads HEART OF DARKNESS sind solche Textkörper. Immer wieder neu interpretiert, findet jeder Jahrgang an Literaturwissenschaftlern noch einen Aspekt, der nicht genug beleuchtet wurde oder geht mit brandneuen Instrumenten literarischer Analyse an diese Texte heran, wodurch immer wieder spannende Neuinterpretationen entstehen, die andere Perspektiven eröffnen. Im angelsächsischen Raum ist neben Conrads Novelle einer der generell meistbesprochenen Texte solcher Art sicherlich Henry James´ THE TURN OF THE SCREW (Original erschienen 1898; hier Deutsch DIE DREHUNG DER SCHRAUBE, 2015/21).

Wahrscheinlich sind es Regalkilometer an Sekundärliteratur, mit denen dem Werk zu Leibe gerückt, in denen es interpretiert, analysiert und dekonstruiert wurde; Regalkilometer, auf denen jedes Wort umgedreht und verkehrt, untersucht und auf alle möglichen Bedeutungen hin überprüft wurde. Die Untersuchung von James´ Erzählung fand ebenso unter Berücksichtigung der spezifischen Vorlieben und Abneigungen des Autors statt, wie unter psychoanalytischen, unter feministischen, unter geschlechtsspezifischen und natürlich Meta-Aspekten. Ganz gelegentlich wurde die Erzählung auch einfach als das betrachtet, als was sie zunächst erscheint: Als eine „ganz einfache Geistergeschichte“. So war es Oscar Wilde, der seine Vorliebe für James´ Meisterstück genau damit begründete, es mit einer „giftigen kleinen Horrorgeschichte“ zu tun zu haben.

Was an James´ Text ist es, dass die Kritiker und Literaturwissenschaftler derart ins Grübeln gerieten und geraten? Was macht nach wie vor die Faszination dieses Stücks Literatur aus? Zum einen ist da die Erzählperspektive: Ein namenloser Ich-Erzähler (wobei dies an dieser Stelle unter Vorbehalt so benannt sei, denn auch dazu ist noch einiges zu sagen) berichtet von einem Abend, nicht näher definiert wo und wann, an dem sich eine Gesellschaft offenbar Gruselgeschichten erzählt. Ein Mann namens Douglas berichtet von einer Geschichte, die ihm die Gouvernante seiner deutlich jüngeren Schwester anvertraut habe. Ja, sie habe ihm gar ein Manuskript gegeben, in welchem sie die ganze Begebenheit niedergeschrieben hat. Nun also ist dieser Douglas bereit, seinen Zuhörern eben diese Niederschrift vorzutragen. Allerdings, so wendet Douglas ein, sei dies eine, wenn auch sehr genaue, Abschrift, die er einst vom Original angefertigt habe. Diese Perspektive veranlasste die Kritiker seit jeher zu Spekulationen, ob es sich hier um einen wahrheitsgetreuen Bericht handele oder aber um die Aufzeichnungen einer hysterischen Person, die etwas überspannt die Fantasien zweier Kinder zu ernst nimmt und darob eine Katastrophe auslöst. Oder ob Douglas eine wirklich „werkgetreue“ Abschrift angefertigt habe? Oder aber – was immerhin auch eine Möglichkeit darstellt – den angeblichen Originaltext lediglich erfunden hat, um seiner erfundenen Geschichte größeren Authentizitätsgehalt zu attestieren. Sozusagen das Äquivalent des 19. Jahrhunderts zur gern herangezogenen modernen Behauptung, etwas basiere auf „wahren Begebenheiten“.

Die feministische Literaturkritik nahm Anstoß daran, dass hier zwei männliche Erzähler eine weibliche Erzählperspektive brechen und somit stark entfremdeten. Genau da sollte der genaue Leser allerdings erstmals stutzen und einhaken. Es wurde weiter oben bereits darauf verwiesen: Hat der Leser es wirklich mit zwei männlichen Erzählern zu tun? Denn nirgends in James´ Text gibt es einen Hinweis darauf, dass die Ich-erzählende Person, namenlos, wie sie ist, ein Mann sei. Im Gegenteil: Liest man die Dialoge, die sich zwischen Douglas und der Ich-erzählenden Person entspinnen genau, gibt es einige Hinweise darauf, dass es sich sehr wohl um eine Frau handeln könnte. Denn immer wieder finden sich kleine Bemerkungen, Markierungen im Text, die auf eine tiefere emotionale Bindung zwischen der Ich-erzählenden Person und Douglas schließen lassen, durchaus auch auf eine Liebesbeziehung. Geht man einmal davon aus – obwohl die Annahme in Bezug auf das, was Douglas dann anschließend erzählt oder vorträgt, sehr wohl ihren Reiz hätte, geht es doch vor allem um Fragen von Anstand und moralischem Wohlverhalten, bzw. dessen Gegenteil – dass James seinem Text keine homoerotische Ebene einschreiben wollte, so kann man durchaus davon ausgehen, dass sich zwischen Douglas und dem/der Ich-ErzählerIn entweder eine feine Bindung besteht oder aber im Entstehen begriffen ist.

Schon an dieser Stelle also wird Henry James´ Text prekär – und da hat die eigentliche Erzählung noch nicht einmal begonnen.

Desweiteren hat die Kritiker immer die Frage beschäftigt, ob ein solch rationaler Geist wie Henry James ernsthaft eine Geistergeschichte habe schreiben wollen? Nun weiß man, dass der Amerikaner James zeitlebens ein Faible für das „alte Europa“ und da ganz besonders für das klassische England/Großbritannien hatte. Wohl wahr ist, dass er in seinen Romanen und Erzählungen – gerade den frühen Werken – oftmals für seine genauen psychologischen Darstelllungen gefeiert wurde. Doch muss das nicht bedeuten, dass er auch ein ausgeprägtes Interesse an den psychologischen Werken seiner Zeit gehabt haben muss (obwohl es auch dafür Belege geben soll). Es muss sich hier also nicht zwingend um die Beschreibung einer in jener Zeit als typisch weiblich betrachtete Hysterie handeln, im Gegenteil. Tatsache ist, dass sowohl aus Werkstattberichten als auch Äußerungen einiger Zeitgenossen hervorgeht, dass James sich sehr für Geistererscheinungen und die Darstellung selbiger interessiert hat. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass der Leser es tatsächlich mit einer Geistergeschichte zu tun hat. Ganz schlicht.

Erst spät und unter dem Einfluss dekonstruktivistischer Textanalysen konnte sich die Wissenschaft darauf einigen, dass der Autor Henry James möglicherweise sehr bewusst beide Lesarten in seinem Text angelegt hat und die Verunsicherung des Lesers, die dadurch entsteht, möglicherweise genau so gewollt und in Kauf genommen hatte. Warum sollte ein Autor, der an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert operierte und durchaus mit einigen der wesentlichen Texte seiner Zeit vertraut gewesen sein dürfte, nicht genau diese Ambivalenz gewollt und seinem Text eingeschrieben haben? Denn genau das ist ja das Grundprinzip der Erzählung: Verunsicherung. Entfremdung. Angst. Was als (moralisch) fester Grund betrachtet wurde, weicht mit einem Mal auf, wird diffus, entbehrt sicheren Halts.

Denn dies ist Douglas Geschichte: Eine namenlose junge Frau tritt eine Stelle als Gouvernante zweier Kinder – Miles und Flora – auf einem Anwesen namens Bly an. Der Onkel der Kinder – in den sie sich möglicherweise ein wenig verliebt, was eine Motivation für ihr späteres, immer unerbittlicheres Handeln sein könnte, will sie vor ihm doch bestehen – weist sie mit aller Härte an, ihn niemals, unter keinen Umständen, mir Belangen die Kinder betreffend zu behelligen. Er wolle mit deren Erziehung nichts zu tun haben. Kaum auf dem Anwesen eigetroffen, wo sie von Flora und der Haushälterin Mrs. Grose sowie einigen Hausangestellten begrüßt wird, sieht sich die Gouvernante mit einer ersten, sehr wesentlichen Schwierigkeit konfrontiert: In einem Brief wird ihr mitgeteilt, dass der in Kürze für die Ferien auf Bly eintreffende Master Miles (in James Erzählung als etwa neun Jahre alt bezeichnet) nicht mehr an sein Internat zurückkehren dürfe. Offenbar hat er sich eine nicht wiedergutzumachende Verfehlung geleistet, deren genauerer Sachverhalt in dem Schreiben allerdings nicht mitgeteilt wird. Miles und die etwas jüngere Flora erweisen sich zunächst als bezaubernde Kinder, die ihre neue Aufsichts- und Vertrauensperson mit ihrem Charme geradezu für sich einzunehmen wissen. Doch bald wird die Gouvernante Zeugin seltsamer Begebenheiten: Sie sieht einen Mann auf den Zinnen des Turms von Bly, an einem See wird sie einer weiblichen Person ansichtig, die Flora entweder zu rufen, zumindest aber zuzuwinken scheint. Ab nun häufen sich die Anzeichen für einen Spuk. Mrs. Grose, die von der Gouvernante ins Vertrauen gezogen wird, mutmaßt, dass es sich um Peter Quint und Ms. Jessel handle – den vormaligen Verwalter des Anwesens und die Vorgängerin der Gouvernante. Nur seien beide allerdings bereits verstorben. Es entwickelt sich ein regelrechter Kampf zwischen der Gouvernante und ihren Schutzbefohlenen, die sie aus dem Einflussbereich ihrer früheren Bezugspersonen befreien will. Doch die scheinen bereits weitaus größeren Einfluss zu haben, als die Lebenden je ahnten. Schließlich trennen die Gouvernante und Mrs. Grose die Kinder, während letztere mit Flora gen London fährt, bleiben Miles und die Gouvernante auf Bly zurück. Und hier kommt es schließlich zur finalen Konfrontation – und zu einer Tragödie.

Angst ist möglicherweise noch das geringste Motiv in dieser Geschichte. Verunsicherung und vor allem Entfremdung sind es, die James´ Erzählung bestimmen. Die namenlose Gouvernante ist, gemessen an den Vorkommnissen, deren Zeugin sie wird und die James literarisch brillant in Szene zu setzen versteht, erstaunlich angstfrei. Sie setzt sich einer ihr vollkommen unbekannten Gefahr aus, um ihrer Pflicht gerecht zu werden. Pflicht ist sicherlich eines der wesentlichen Motive der Erzählung. Pflicht und in gewissem Sinne Gehorsam. Hier versteht jeder, wo sein Platz ist. Mrs. Grose ebenso, wie die Gouvernante, Miles und Flora ebenso, wie ihr Onkel. Ohne dies in irgendeiner Weise explizit zu erklären, gibt der Amerikaner Henry James ein interessantes Bild der britischen, besser: spezifisch englischen Klassengesellschaft wieder, in der ein jeder von Geburt an weiß und vor allem versteht, an welchen Platz das Leben (Schicksal) ihn oder sie gesetzt hat und wie man sich an diesem Platz zu verhalten hat. So ist Mrs. Grose eindeutig verängstigt, sucht diese Angst aber mit aller Gewalt zu verstecken. Gäbe sie der Angst nach, wäre sie nicht mehr in der Lage, ihren Pflichten nachzukommen. Allerdings kommt sie durch das Verhalten der Gouvernante in einen fürchterlichen Zwiespalt: Nun nämlich muss sie sich entscheiden, welcher Angst sie widerstehen will: Der um die Kinder oder der vor ihrer neuen Verbündeten, die so eisern entschlossen scheint, den Geheimnissen in Bly auf den Grund zu gehen.

Mrs. Grose ist verunsichert. Doch ebenso verunsichert ist die Gouvernante. In dem Schreiben, welches sie aus Miles´ Internat erhält, wird dessen Verfehlung nicht erwähnt. Offenbar ist diese so schlimm, dass sie im viktorianischen England mit seinem engen moralischen Korsett gar nicht der Erwähnung nötig ist, Andeutungen genügen. Henry James spielt brillant mit genau diesem Fakt: Nie erfahren wir, wessen die Kinder wirklich ansichtig geworden sind, als sie Quint und Ms. Jessel ausgeliefert waren. Nie erfahren wir, was Miles sich wirklich geleistet hat. Er erinnert sich, gegenüber einigen seiner Spielkameraden Andeutungen gemacht zu haben, etwas gesagt zu haben – doch weder weiß er noch, was er gesagt hat, noch, wem gegenüber genau er sich geäußert hat. Es wird wohl, so die dauernde Unterstellung in der Geschichte, etwas zutiefst Anstößiges gewesen sein. Also etwas sexuell Konnotiertes. Und eben das wird andeutungsweise immer wieder dem Verhältnis zwischen Peter Quint und Ms. Jessel nachgesagt: Die beiden seien verdorben gewesen, was im viktorianischen England nur bedeuten kann, dass sie Unzucht getrieben haben. Diese Tatsache wurde später gern besonders ausgeschlachtet, vor allem in Michael Winners eher zu vernachlässigendem Film THE NIGHTCOMERS (1971), der die Vorgeschichte zu THE TURN OF THE SCREW erzählt und dabei recht explizit wird.

In James Erzählung – und dies ist ein ausgesprochen interessanter Querverweis, der u.a. auf D.H. Lawrence´ Roman LADY CHATTERLEY´S LOVER (1928) verweist, wo das Klassenverhältnis immer noch eine enorme Rolle spielt – ist allein der Hinweis, dass Ms. Jessel eine Dame gewesen sei, eine Frau von Bildung und Stand, während Quint ein einfacher, grobschlächtiger Mann war, an dem der Master of Bly Manor, der Onkel der Kinder, eben einen Narren gefressen hatte, ausreichend genug, den Skandal zu verdeutlichen, den die Verbindung zwischen diesen beiden bedeutet. Es ist gar nicht nötig, explizit zu werden, was die Spezifika dieser Beziehung betrifft, um dem Leser seiner Zeit das ganze Ausmaß dieser Verbindung vor Augen zu führen. Hier wurden Klassenschranken verletzt, hier haben Bedienstete die als natürlich betrachtete Ordnung verlassen, haben sich über Grenzen hinweggesetzt. Darin besteht der eigentliche Skandal.

Die Gouvernante begreift eher instinktiv als evidenzbasiert, dass Quint und Ms. Jessel die Kinder „infiziert“ haben, wie sie es nennt (und womit James ein wenig mit den biologistischen Schrecknissen seiner Zeit spielt, in der allerlei Krankheiten organischer wie psychischer Natur entdeckt und in ihrem Ausmaß erstmals begriffen wurden). Sie will die Kinder diesem Einfluss unbedingt entreißen. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass nirgends in James´ Erzählung angedeutet wird, dass Miles und Flora für den Tod von Quint und Ms. Jessel verantwortlich sind. Diese Interpretation floss später in die Betrachtung der Geschichte ein und ist sicherlich ein weiteres unheimliches Detail, das sich gut einfügen lässt, doch nimmt man James´ Text genau, handelt es sich – wenn überhaupt, denn es bleibt ja immer auch die Möglichkeit, dass die namenlose Ich-Erzählerin schlicht ein überreiztes Gemüt hat und eine Hysterikerin ist, was um die Jahrhundertwende als Erklärung durchaus en vogue gewesen wäre – um eine Obsession. So oder so gelingt es James auf brillante Art und Weise, ganz verschiedene, sich teils sogar ausschließende, teils entsprechende Interpretationsmuster ineinander zu flechten. Da kommen psychologische Aspekte ebenso zum Tragen wie biologische und natürlich unheimliche, weil übernatürliche.

In den Begegnungen mit Quint gewinnt die Gouvernante den Eindruck, dass dieser sie wahrnimmt, wodurch eine Art Wettstreit um die Kinder entsteht. Als wolle Quint sich seines immer noch gültigen Einflusses auf die Kinder versichern, scheint er gegen seinen Widerpart – eben diese neue Gouvernante – vor- und anzugehen. Doch nie wird er übergriffig, sein Einfluss auf eine diesseitige Realität scheint eingeschränkt, wenn es überhaupt einen gibt. Anders sind die Begegnungen mit Ms. Jessel. Diese scheint zu leiden. Am See will sie (vielleicht) Kontakt zu Flora aufnehmen, doch im Haus, in jener Nacht, in der die Gouvernante ihr Zimmer verlässt, Quint im Garten zu sehen meint und dort später Miles findet, der behauptet, nur deshalb das Haus verlassen zu haben, um ihr zu beweisen, dass er unartig sein kann, in dieser Nacht nimmt die Gouvernante Ms. Jessel auf der Treppe als leidendes Wesen wahr. Ob sie sich in ihrem Sehnen nach der Liebe Floras verzehrt oder doch nach Quint als einem – ihrem – Herrn und Meister, ihrem Liebhaber, das bleibt dahingestellt und scheint James als letztgültigen Herrn und Meister über die Erzählung (wenn man denn, ganz hermeneutisch, so will) auch nicht wirklich zu interessieren. Fakt ist, dass es James gelingt, in all diesen Beziehungen und Zusammenhängen immer, ohne jemals explizit zu werden, etwas Verkommenes, etwas Verruchtes anklingen zu lassen, etwas, das der spätviktorianischen Gesellschaft gereicht haben dürfte, um den Skandal zu wittern und ihre Empörungsbereitschaft hervorzurufen. So gesehen also auch ein doppelbödiges Spiel mit seinem Publikum.

Dieses Spiel spiegelt sich eben nicht nur in der prekären Erzählersituation, sondern auch darin, wie in den (angeblichen) Aufzeichnungen der Gouvernante sich immer wieder die Ebenen verschieben. Ihre erzählerische Grundhaltung ist eine fast pathetische. Sie will die Kinder erretten, sie will um sie kämpfen, um ihr Seelenheil ringen. Sie ist sich sehr sicher, es wirklich mit Geistererscheinungen zu tun zu haben. Und wenn sie zu Mrs. Grose geht und ihr von ihren Beobachtungen erzählt, ist die Haushälterin sofort bereit, ihr von Quint und Ms. Jessel zu erzählen. Man könnte also meinen, dass auch Mrs. Grose an Geister und Geisterscheinungen glaubt, sie zumindest für möglich hält. Das entspräche vielleicht einem herkömmlichen Volksglauben an alle möglichen außernatürlichen oder gar übernatürlichen Gegebenheiten. Doch tauchen später im Text immer wieder Hinweise auf, dass Mrs. Grose selbst nicht ganz sicher erscheint hinsichtlich der geistigen Gesundheit ihrer nominellen Vorgesetzten, also der Gouvernante. Sie ergreift mit Flora die Flucht gen London, aber warum? Will sie der Konfrontation mit Miles entgehen? Oder will sie nicht mitschuldig werden an dem, was die Gouvernante möglicherweise mit diesem vorhat? Und was dann ja schließlich auch in einer Katastrophe endet? James gelingt es hier auf wahrlich meisterliche Weise, seinem Text immer wieder Verunsicherungen, SOGAR leichte Ungereimtheiten einzuschreiben, die die Erzählung in ihrer Kohärenz unterlaufen. Immer wieder muss der Leser sich automatisch fragen, was es mit dieser Erzählung eigentlich auf sich hat, ja, er wird geradezu aufgefordert, das Berichtete zu hinterfragen.

Und was dann allerdings auffällt und ganz andere, neue Interpretationsräume eröffnet, das ist die Rolle, bzw. die relative Abwesenheit der eigentlichen Hauptprotagonisten, also der Kinder, in diesem Text. Erst zur Hälfte des Textes etwa gesteht James ihnen eigene Dialogzeilen zu. Bis dahin werden sie bestenfalls beschrieben, doch meist indirekt, indem die Erzählerin und Mrs. Grose sich über sie unterhalten. Fast mutet es an, als geisterten die Kinder selbst durch den Textkörper, seltsam ätherisch, körperlos, so dass der Begriff „geistern“ dabei sehr genau und treffend gewählt ist. Sind diese Kinder, die sich in die Fänge einer selbstvergessenen Gouvernante und eines offenbar sich dem Bösen verschreibenden Verwalters begeben haben, möglicherweise ebensolche Geister, wie es Quint und Ms. Jessel der Erzählung nach seien sollen? Und würde man dieser Interpretation folgen – bedeutete dies nicht doch, dass das Ganze eine Phantasmagorie dieser vielleicht etwas überspannten jungen Frau ist, die all dies aufgeschrieben hat? Schließt sich der Kreis in jenem Moment, in dem wir annehmen müssen, dass es weder einen Onkel noch ein Anwesen namens Bly noch zwei Kinder, auch keine Mrs. Grose und erst recht keinen Verwalter Quint und auch keine Ms. Jessel gegeben hat? Womit aber haben wir es dann zu tun?

Die englische Gesellschaft – ein weit beackertes Forschungsfeld, doch im Grunde reicht es, die bekanntesten Werke eines Charles Dickens zu lesen, um die These bestätigt zu finden – war immer eine kinderfeindliche. Kinder wurden ausgenutzt, sie wurden als kleine Erwachsene behandelt, sie wurden bestenfalls wegegegeben in Internate und höhere Schulen, in denen sie grausamen Erziehern ausgeliefert waren, die sie teils zu kleinen Soldaten drillten, die später in den Armeen der Könige und Königinnen dafür sorgen konnten, das Empire auszuweiten und zu beherrschen. Ist dann die Aufzeichnung der namenlosen Ich-Erzählerin möglicherweise nichts weiter als ein äußerst beredtes Beispiel für diese Kinderfeindlichkeit? Mag dies eine Art des Aufbegehrens gewesen sein gegen eine Arbeit, die der Verfasserin zutiefst verhasst war? Oder, um die Schraube einer weiteren Drehung zu unterziehen: Mag dies der Aufschrei einer jungen Frau gewesen sein, die die Verachtung gegenüber Kindern in dieser Gesellschaft allzu genau durchschaut hatte und sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als sie in eine Geistergeschichte zu verpacken und Kindern damit genau diesen Platz zuzuweisen: Den von verlorenen kleinen Wesen, die nicht gesehen und erst recht nicht gehört werden sollten? Dies sind schlicht weitere Interpretationsmuster zu einem Text, der die literarische Welt nun schon so lange in Atem hält und fasziniert.

Vielleicht, nur ganz vielleicht aber, liegen die Dinge anders, einfacher. Vielleicht verhält es sich mit THE TURN OF THE SCREW ja so, wie Oscar Wilde es gesehen hat: Vielleicht ist dies einfach nur eine absolut wunderbare, giftige kleine Horrorgeschichte…

One thought on “DIE DREHUNG DER SCHRAUBE/THE TURN OF THE SCREW

  1. Dietrich Feldhausen sagt:

    „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ wußte Goya schon 100 Jahre vor dem Erscheinen von „The Turn of the Screw“ – und entsprechend lässt sich m.E. über dieses Werk sagen: Die Verdrängung der Sexualität (im Titel: Screw) gebiert Paranoia. Für mich nimmt diese Verdrängung bei James förmlich satirische Züge an, wenn es z.B. heißt: Die Erzieherin habe sich von dem quälenden Gedanken nicht befreien können, dass, wenn Quint und Mrs. Jessel gleichsam durch den Raum schwebten, Miles und Flora „schreckliche, unvorstellbare Dinge sahen, die auf die schlimmen Zeiten ihres früheren Umgangs mit dem verruchten Paar zurückgingen. Solche Dinge hinterließen natürlich für den Augenblick ein Frösteln auf der Haut, das wir uns indes nicht eingestanden und wortreich überspielten.“ Die Feinheiten von James‘ Erzähltechnik in allen Ehren – aber dies Buch ist vor allem eine erbarmungslose Analyse viktorianischer Prüderie.

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