HETZJAGD/EIN VERRÄTERISCHES GESICHT/UN HOMME À ABATTRE

Ein eher ungewöhnlicher Polit-Thriller über die Jagd nach einem Nazi-Schergen

Barcelona, 1967. Auf einer Industriebrache parkt ein Wagen, ein Mann steigt aus, raucht, sieht sich um, bemerkt einen Lieferwagen, geht auf diesen zu, untersucht ihn und sieht, daß eine Kamera darin versteckt ist. Er läuft weg, aus dem Wagen springt ein Mann, verfolgt ihn, auch der Lieferwagen setzt sich in Bewegung und überfährt den Fliehenden schließlich. Auf einer Müllkippe wird der Leichnam des Mannes von seinen Häschern entsorgt.

Ein Kommando sucht den SS-Schergen Schmidt (Luis Padrós), der unter dem Namen Hans Fromm in Spanien als Architekt arbeitet. Zu dem Kommando, das unter der Leitung von Julius (Luis Prendes) steht, gehören auch die beiden Männer, die zu Beginn die Leiche entsorgt haben. Es sind Raphaël (Jean-Louis Trintignant) und Georges (André Omansky), Ziehsohn von Julius.

Julius selbst war während der deutschen Okkupation Frankreichs Opfer der Gestapo und später Gefangener in einem Konzentrationslager, in dem Schmidt Aufseher gewesen ist. Doch will er eindeutige Beweise, bevor er Order gibt, den Mann zu exekutieren. Offenbar gehört Schmidt in seiner neuen Identität einem Ring von Alt-Nazis an, die von Spanien aus versuchen, wieder zu erstarken.

Die Gruppe hat gegenüber von Schmidts Appartement eine Wohnung angemietet, von wo aus sie den Mann beobachten und filmen. Sie verfolgen und fotografieren ihn, sie stellen fest, daß er einmal die Woche von dem immer gleichen Taxi abgeholt wird und offenbar zu konspirativen Treffen fährt. All die Indizien beweisen aber noch nicht mit letzter Gültigkeit, daß Fromm der Gesuchte ist.

Georges drängt immer wieder darauf, endlich loszuschlagen, da durch den Fund der Leiche die ganze Operation gefährdet werden könnte. Raphaël beruhigt Georges, da er Julius zu verstehen scheint. Bei einem dieser Gespräche deutet Raphaël an, daß er selber – offenbar als einziger der Gruppe – für seine Dienste bezahlt wird.

Er selbst hat im Appartement neben dem von Schmidt eine junge Frau entdeckt, die er attraktiv findet, von der er aber vor allem annimmt, daß sie ebenfalls damit beauftragt ist, Schmidt zu beobachten. Raphaël nimmt Kontakt mit ihr auf, lässt seinen Charme sprühen und becirct sie.

Bei Gelegenheit dringt Julius in das Appartement ein und durchsucht es. Er glaubt, einen stichhaltigen Beweis finden zu können, den er möglicherweise erst erkennen kann, wenn er ihn vor sich hat. Als er im Appartement ist, kommt Schmidt zurück. Julius versteckt sich im Wandschrank und kann so ein Telefonat belauschen und wird sogar Zeuge, wie Schmidt abgeholt wird zu einem weiteren Treffen.

Das Kommando lockt Schmidt schließlich in eine alte Villa, wo sie ihn töten wollen. Doch alles ist zu umständlich geplant, Schmidt wird mißtrauisch und kann sich schließlich befreien. Er überwältigt Nils (Jose-Maria Angelat), einen weiteren Mann des Kommandos, entwaffnet und tötet ihn. Dann flieht er. Bei der Verfolgung stirbt ein weiterer Mann des Kommandos von Julius.

Aufgescheucht, weiß Schmidt nun, daß er fliehen muß. Er rafft Akten und Unterlagen zusammen und will seine Kameraden treffen. Das Kommando bereitet sich darauf vor, die Flucht zu unterbinden. Sie kennen den Treffpunkt des Nazi-Rings. Vor Ort beziehen Raphaël und Georges weit voneinander Posten. Als Schmidt auftaucht, kann Raphaël ihn stellen. Es kommt zu einem Schußwechsel, beide Männer werden verletzt. Als die anderen Männer des Nazi-Rings herbeieilen, scheint Raphaël ihnen zuzurufen, sie sollten die Unterlagen sichern, Schmidt könnten sie liegenlassen. Seine Kameraden erschießen den ehemaligen SS-Mann im Vorbeifahren. Julius und Georges kommen herbeigerannt und kümmern sich um Raphaël.

Ein sehr beliebtes Thema im europäischen Thriller der 60er und 70er Jahre war die Verstrickung von Alt-Nazis in Geheimorganisationen, die auch nach dem Ende des Weltkriegs versuchten, den „alten Geist“ aufrecht zu erhalten. Filme wie Ronald Neames THE ODESSA FILES (1974) sind beredtes Beispiel dafür. Allerdings hatten Filme wie dieser oft etwas von Kolportage und Sensationsgier, sie wirkten reißerisch, da sie mit einem realistisch anmutenden Thema – es gab geheime Organisationen, die Alt-Nazis eine neue Heimat boten – den Zuschauer in Bann schlagen und zugleich den Flair des Agententhrillers bedienen konnten, inklusive Action und Verfolgungsjagden.

Auch Philippe Condroyer greift das Thema in seinem Thriller UN HOMME À ABATTRE (1967) auf, geht es allerdings weitaus unspektakulärer und auch weniger spekulativ an. Hier ist es eine nie näher spezifizierte Einheit, die in Barcelona Jagd auf einen SS-Schergen macht, der offenbar in einen Ring von Alt-Nazis verstrickt ist. Anders als Neame und andere, die ein ähnliches Sujet nutzten, geht Condroyer dabei sehr realistisch, fast ohne die typischen Action- oder Verfolgungssequenzen, vor; wenn er solche Momente inszeniert, sind auch diese realistisch gestaltet und werden nahezu dokumentarisch, distanziert, beobachtet.

Betrachtet man die Abläufe im Film genau, handelt es sich bei UN HOMME À ABATTRE eher um die nahezu dokumentarische Beobachtung einer reinen Kommandoaktion. Minutiös scheint der Film die Planung und Ermordung eines Mannes zu schildern, den seine Häscher als den KZ-Aufseher Schmidt identifiziert zu haben meinen. Jean-Louis Trintignant und André Oumansky spielen die beiden ausführenden Organe, die für einen von Luis Prendes als zweifelnden, von Skrupeln und fürchterlichen Erinnerungen geplagten, aber auch sehr mutigen Mann, arbeiten. Dieser Julius war selbst Gefangener in einem Konzentrationslager und kennt den Gesuchten Nazi Schmidt, den Luis Padrós als distinguierten Herren gibt. Condroyer, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, verfolgt die Suche und Ausforschung von Schmidts Leben äußerst präzise.

Trintignants Raphaël zeigt Julius Überwachungsfilme, die das Kommando von Schmidt gemacht hat. Wir sehen seinen Weg zur Arbeit, seine Gewohnheiten zuhause, wie er mehrfach in der Woche das immer gleiche Taxi besteigt. Raphaël und Georges, Omanskys Rolle, legen vor Julius, und damit vor dem Zuschauer, ihr Beweismaterial aus. Sie haben eine konspirative Wohnung direkt im Block gegenüber dem, in welchem Schmidt wohnt, angemietet und überwachen ihn mit Hilfe einiger Kollegen Tag und Nacht. Julius aber bleibt skeptisch. Er will mehr, bessere und eindeutigere Beweise. Für all diese Szenen, in denen ganz sachlich Hinweise und Indizien zusammengetragen und präsentiert werden, aber auch für Julius´ Zweifel, nimmt sich der Film viel Zeit. Obwohl die Kamera, von Jean Penzer geführt, immer in der erwähnten Distanz bleibt, das Tempo des Films eher gemächlich ist, gelingt es Condroyer, Spannung aufzubauen und zu halten. Auch die aus Julius´ Zweifeln entwachsenen Aktionen – er entschließt sich, in das Appartement seines Erzfeindes einzudringen und einen letztgültigen Beweis, den vielleicht nur er erkennen kann, zu suchen; als er den Plan umsetzt, kommt Schmidt unverhofft zurück und empfängt einen seiner Kameraden, wodurch Julius und der Zuschauer wichtige Informationen erhalten – werden im gleichen Tempo inszeniert, bleiben präzise in der Beobachtung, wobei die Kamera aber auch die Schweißtropfen auf Julius´ Stirn einfängt und mit diesem und ähnlichen kurzen Zwischenschnitten immer die menschliche Dimension des Unternehmens berücksichtigt.

Genau das scheint Condroyers eigentliches Anliegen zu sein: Die Spannung einzufangen, die dieses Unternehmen, diese Operation, für alle Beteiligten bedeutet. Bevor wir irgendeinen Fetzen Sprache gehört haben, werden wir zu Beginn des Films Zeugen, wie Georges und Raphaël einen uns ebenfalls unbekannten Mann erst anfahren und den offenbar Toten dann auf einer Müllkippe entsorgen. Nichts, was sie uns sympathisch machen würde. Im Gegenteil, eigentlich würden wir, als Zuschauer, nach unseren Sehgewohnheiten davon ausgehen, es mit miesen Mafia-, mindestens aber Gangstertypen zu tun zu haben. Doch schon in einer der direkt darauffolgenden Szenen wird der Mord von Raphaël gegenüber Julius angesprochen. Er und Georges erklären, weshalb sie so handeln mussten und Julius nimmt dies schließlich so hin. In der Konsequenz, so Georges, bedeute es aber, daß sie nun schneller handeln müssten, um dem Fund der Leiche zuvor zu kommen. Der nämlich würde Schmidt auf jeden Fall warnen. Georges, Julius´ Ziehsohn, drängt während der Zeit, die der Film umfasst, immer wieder darauf, zuzuschlagen und kann Julius´ Zauderei weder verstehen, noch akzeptieren. Es ist Raphaël, der Georges immer wieder beschwichtigt und zu erklären versucht, weshalb es Julius so wichtig sei, einen zweifelsfreien Beweis für Schmidts Identität zu erlangen. Geschickt etabliert Condroyer hierarchische Strukturen; ohne je explizit darauf hinzuweisen, vermittelt er uns ein sehr genaues Psychogramm dieser Gruppe von rächenden Attentätern. Zeigt in all der Präzision und scheinbaren Abgeklärtheit Bruchstellen und Risse im inneren Gefüge des Kommandos. Aber auch Unsicherheiten bei einzelnen.

Ob Julius, Georges oder Raphaël, ob die weiteren Beteiligten an dem Komplott oder Schmidt – all diese Figuren sind sehr genau beobachtet und werden mit wenigen Mitteln so skizziert, daß wir genaue Vorstellungen davon haben, wie sie ticken, welchen Platz sie in den Abläufen und eben den Hierarchien vor Ort einnehmen. Wir verstehen Julius´ Motivation und es gelingt Luis Prendes, die Not dieses Mannes, aber auch seine Einsamkeit, spürbar zu machen. Äußerlich eher einem Handelsvertreter oder dem Abteilungsleiter eines Finanzdirektoriums entsprechend, wirkt dieser Mann keineswegs kaltblütig und brutal, wie man es bei einem Job wie seinem vermuten würde. Doch bleiben uns all diese Männer letztlich auch fremd. Schmidt ist ein eiskalter Killer, von dem man anhand seiner Art sich zu geben durchaus annehmen kann, daß er jenem KZ-Vorsteher entsprach, den Julius in seinen Schilderungen des Lagerlebens beschreibt. Julius und seine Männer sind für uns aber ebensolche Killer. Wir kennen ihr Motiv und können ihr Handeln – aus unserer eigenen Kenntnis der Geschichte, auf die Condroyer sich zwingend verlässt – nachvollziehen. Rache ist sowohl dramaturgisch als auch emotional ein sehr starkes Motiv – und was könnte man besser verstehen, als daß ein Opfer des Nazi-Terrors Rache üben will?

Umso mehr trifft das Ende, das andeutet, daß Raphaël eine Art Doppelagent ist, scheint er dem fliehenden Kollaborateur des Nazi-Rings doch zuzurufen, der solle nur die Akten einsammeln, die Schmidt – zu dem Zeitpunkt durch mehrere Kugeln schwer verletzt – bei sich trage, den Mann selbst könne er liegen lassen. Im Vorbeifahren erledigen die Fliehenden dann den Job und feuern mehrfach auf Schmidt, während Raphaël von seinen herbeieilenden Kollegen versorgt wird. Nach all der sachlichen Betrachtungsweise der vorangegangenen 80 Minuten, ist es wie ein Schock, daß die gesamte Operation von vornherein unterwandert gewesen zu sein scheint. Plötzlich werden einzelne Sätze verständlich, die im Verlauf des Films fielen. Man versteht, weshalb Georges auf seinen Vorwurf, Raphaël sei das Ergebnis des Unternehmens gleichgültig, er verhalte sich wie jemand, der dafür bezahlt wird, die Antwort erhält, dem sei ja auch so – ob er das nicht gewusst habe? Offen bleibt Georges Frage, wer Raphaël denn bezahlt. Julius? Raphaël lächelt dieses Trintignant-Lächeln, diese Mischung aus Süffisanz und fast charmanter Herablassung, und stellt die Gegenfrage, wie naiv Georges eigentlich sei?

Verständlicher wird auch die Rolle der ominösen Claudia (in der deutschen Fassung wird daraus eine „Olga“, was möglicherweise Verbindungen zum KGB andeuten soll, die aber keiner wirklichen Logik entsprechen würden), die neben Schmidt wohnt und von Raphaël nicht nur während seiner Nachtschichten beobachtet wird, sondern die er auch kontaktiert und mit der er sich trifft. Die Leichtfertigkeit, mit der er seinen Posten verlässt und einem scheinbaren Schäferstündchen nachgeht, lässt uns stutzen, noch erstaunter sind wir, als Schmidt auf seiner Flucht energisch bei der Dame gegen die Tür klopft und ihren Namen ruft. Man scheint sich zu kennen.

So offenbart sich am Ende dieser dichten 82 Minuten Laufzeit ein Abgrund an Doppeldeutigkeit und Hinterhältigkeit. Auf leise Weise, fast unbemerkt, gibt Condroyer einen bitterbösen Kommentar darauf ab, daß selbst die im Film überzeugend als moralisch motiviert dargestellte Suche nach den Nazi-Tätern längst eine Art Geschäft geworden ist, in dem auf ähnliche Art und Weise gespielt wird, wie im Agentenmilieu jener Jahre. Und wo sich offenbar Leute tummeln, die genau diesem Milieu entstammen. Raphaël bleibt vollkommen undurchschaubar, scheint aber immer mehr als alle andern zu wissen. Nur verrät der Film nie, worin genau dieses Wissen besteht. Es wirkt als Figur immer bedrohlicher. Alles spielt sich in einem dem Zuschauer nie näher erläuterten Bezugsrahmen ab, von dem wir lediglich merken, daß selbst Julius, der scheinbare Mastermind der geschilderten Operation, ihn nicht durchschaut, vielleicht nicht einmal begreift – also begreift, daß es ihn überhaupt gibt.

Es ist immer wieder interessant, Filme wie UN HOMME À ABATTRE mit dem zeitlichen Abstand und der Kenntnis der heutigen filmischen Standards zu betrachten. Es erstaunt immer wieder, wie ausgeprägt eigen der Look des Spannungs- und also Genrekino im Europa der 60er Jahre war. Nicht nur bei dem, was gezeigt wurde – die Selbstverständlichkeit, mit der die Männer Seat und Peugeot fahren; letztlich verweisen nur die Trenchcoats darauf, daß eine gewisse Globalisierung westlicher, d.h. amerikanischer, Kultur bereits fortgeschritten war – sondern auch, wie es gezeigt wurde. Man sieht, wie dieses europäische Kino, natürlich beeinflusst von der Nouvelle Vague und dem italienischen Neorealismus, eine vollkommen eigene Bildsprache, eigene Manierismen und Vorlieben ausgeprägt hatte. Die Distanz der Kamera und damit des ganzen Films, wird durchgehend aufrechterhalten. Durch die sachlich angelegte Form, wie selbst die letzten 20 Minuten des Films unspektakulär inszeniert werden, die deutlich an Tempo zulegen, den Rhythmus und auch die Erzählperspektive verändern, wenn plötzlich auch auf Schmidt und dessen Flucht fokussiert wird, wird der Zuschauer gezwungen, immer in seiner Beobachterstellung zu verharren. Er wird emotional nicht eingebunden, bzw. entsteht die emotionale Ebene des Films lediglich dadurch, daß der Zuschauer die Emotionen der Agierenden auf der Leinwand betrachten und einordnen muß.

Condroyer hat mit UN HOMME À ABATTRE ein Stück intelligentes europäisches Spannungskino geschaffen, daß den interessierten Betrachter auch heute noch überzeugen und sogar unterhalten kann. Es lohnt sich, einen erneuten Blick auf dieses Kino zu werfen. Auch und gerade in Bezug zu ähnlichen Filmen jener Jahre, die ähnliche Stories als Background für reines Unterhaltungskino nutzten. Condroyer bietet ebenfalls Spannung, mutet dem Zuschauer aber darüber hinaus nicht nur zu, selber zu erfassen und einzuordnen, was genau auf der Leinwand geschieht, und bietet eine gänzlich andere Perspektive auf ein solches Kommando. Es ist weder heroisch, noch sonderlich aufregend, dabei zu sein, vielmehr ist es hier eine fast öde Tätigkeit, begleitet von Zweifeln und Befürchtungen. Und die bleiben nicht nur den Figuren auf der Leinwand schließlich erhalten. Bedrückend.

2 thoughts on “HETZJAGD/EIN VERRÄTERISCHES GESICHT/UN HOMME À ABATTRE

  1. Rainer Rabowski sagt:

    Hallo,

    wegen meiner Vorliebe für Trintignant habe ich den Film jetzt zum zweiten Mal gesehen, und deswegen nach anderen Interpretationen geschaut – und bin noch begeisterter! Eine straighte Story, keine Sperenzchen. Keine Rückblenden, keine Botschaft, keine Thesen. Das Production-Design, die kongeniale Duhamel-Musik (die gegen Ende etwas von Melville’schem Drama bekommt!). Die pittoreske Unterbestimmtheit der Drehorte in einem spanischen Winter. Die Mar Plana-Sequenz fotographiert wie von Antonioni. Und so weiter. Alles wohltuend auf seiner Höhe, wohltuend anders.

    Dazu kommt der Exotismus einerseits der zeitlichen Distanz, sowie gewisser, den Genrekonventionen von heute vorausliegenden Unüblichkeiten. Ein erheblicher Grund für den Charme der ‚alten Filme‘ liegt für mich darin, dass sie in ihrer Sparsamkeit gegenüber der heutigen, oft nur behaupteten Raffinesse ihrer Erzähl- und Inszenierungsperfektion, erzählerisch überlegter, d. h. ökonomischer und also überzeugender erscheinen.

    (Im Gegenteil wirken die modernen ‚Produktionen‘ durch all den Mehraufwand an Mitteln – jede Menge Tote, Verfolgungsjagden, Explosionen! – sowie alberner Prämissen und überdrehten Plot-Kompliziertheiten wegen nur umso geistloser. Leere, umso aufwändigere Spektakel à la ‚Mission Impossible‘ – da war ‚Kobra, übernehmen Sie‘ noch besser! Da hatten sie auch die weißen Lieferwagen mit Überwachungstechnik, aber ohne den Overkill.)

    (Diesen Effekt neulich sogar bei einem Fassbinder-Film gefunden, von wegen dessen manchmal gescholtenem ‚Kolportage-Stils‘ [der ja damit auch noch die Zeiten, in denen die Filme spielen, also frühe Bundesrepublik, ‚zitiert‘]; aber siehe: Nicht nur hebt er sich dadurch von der Möchtergern-Modernen ab, er funktioniert – auch weil er damit Mittel für Anderes, für die Schauspielerei, fürs Detail frei macht!)

    ***

    Ihrer Bewertung des Films stimme ich weitgehend zu. Die kluge Entwicklung des ‚Psychogramms der Gruppe‘, deren Arbeit als ’nahezu dokumentarische Beobachtung einer reinen Kommandoaktion‘. Etc. Allerdings sehe ich in Ihrer Besprechung doch auch einige Schnitzer.

    Olga: Nein, sie ist keine Nachbarin, sie ist einfach nur die früh eingeführte Freundin von Fromm, die Zeichenlehrerin (die ihm die Geburtstagstorte zu dem ihn später eindeutig als Schmidt identifizierenden Datum bringt). Sie hat mit der von Raphael beobachteten jungen Frau (‚Sandra‘, also die Lagrange-Figur) nichts zu tun.

    Das Verschwinden dieser Olga später – wenn Fromm in die Kunstschule flieht, um sie zu treffen, um auf seiner Flucht möglicherweise kurz bei ihr unterzukommen oder sich zu verabschieden oder was immer (sie ist die ihm nächste Person) – ist offenbar absichtlich inszeniert, parallel und konzertiert mit Kunz‘ Wagenauftrag den ganzen Tag, den kaputten Reifen und so weiter.

    (Den Namen ‚Claudia‘ habe ich übrigens nicht einmal gehört.)

    Dass ‚Sandra‘, die andere junge Frau, sich auch mit Fotographie beschäftigt, ist nur eine (unernst gemeinte) Bemerkung von Raphael, kein Indiz für irgendwas, und tatsächlich gibt es im ganzen Film keinen Hinweis, dass sie etwas von Fromm/Schmidt weiß (die Fotos sind, soweit erkennbar, einfach nur Modefotos). Wenn diese Bemerkung von Raphael überhaupt etwas bedeuten soll, dann so etwas Ähnliches wie später die ‚Dokumente‘, wegen denen Fromm/Schmidt am Ende gegen alle Gefahr in seine Wohnung zurückkehrt – es wird ihre Wichtigkeit suggeriert, aber was sie enthalten, bleibt auch unerklärt; das alles sind innerhalb der Logik des Films eher MacGuffins.

    Auch die Ost-Assoziation zu Olga halte ich eher für interpretatorischen Überschuss. Der Vorname Olga war – eingewandert über die russische Migration Anfang des vorigen Jahrhunderts (ähnlich wie ‚Stanislaus‘ als männliche Variante) – eine Zeit lang in Frankreich sogar populär. Denken Sie an Picassos Olga, oder an Sartres/Beauvoirs Olga [Kosakiewicz].

    Ich hätte es verständlich gefunden, wenn der Rechts-Katholizismus oder gar die Rattenlinie in dem Film mal angeklungen wäre: 1966 lebte Franco noch – was zum Teil wohl die Deutsch-Freundlichkeit der lokalen Politik erklärt bei der sonstigen spanischen Ausländer-Hysterie. Aber letztlich brauchte es das wohl nicht.

    Raphael: Ich finde ihn überhaupt nicht bedrohlich, sondern durch seine größere persönliche Distanz zu der ganzen Unternehmung souveräner, weniger verstrickt, besser im Urteil.

    Er ist auch kein Doppelagent – es werden nur seine Motive nicht eindeutig gemacht; dass er auch mal an etwas anderes denken will – die kurze Liebesgeschichte, für die er die ‚Infrastruktur‘ der Gruppe nutzt – macht ihn eben auch weniger fixiert oder fanatisch. Doch ist es dann eben diese Ambivalenz, die ihn zu der komplexeren, die ganze Unternehmung moralisch erst wieder öffnenden Figur macht.

    Es wird ja auch sonst im Film nicht alles bis zum Letzten erklärt; auch ob er wirklich bezahlt wird, ist letztlich nicht eindeutig: Raphael hat die Distanz, sowohl den Zweifler Julius als auch den Draufgänger Georges miteinander auszubalancieren. So verweist die Liebesgeschichte eben auch auf die Frivolität der Unternehmungen der Gruppe: auf die Beiläufigkeit der Aktionen eines sich moralisch überhebenden Mordkommandos in einem ansonsten so bürgerlich wie klandestin zweifelhaft gelebten Leben.

    Ihr eklatantester Irrtum unterläuft Ihnen aber am Schluss. ‚Nur die Aktentasche …‘ das ruft nicht Raphael, sondern der Mann auf dem Rücksitz von Kunz‘ Taxi, also ‚Horst‘, mutmaßlich der Chef des Deutschen-Rings, der, der den am Boden liegenden Schmidt/Fromm schließlich aus dem fahrenden Auto erschießt. Und ich denke, dass etwas anderes auch nicht suggeriert werden sollte; der Blick von Kunz auf den angeschossenen Raphael ist dann nur noch ein rückversichernder. Schmidt/Fromm ist aufgeflogen und für die Gruppe eine zu große Gefahr.

    Übrigens Raphael denkt ja auch am Ende, Kunz sei der Schütze gewesen, und er behauptet das gegenüber seinen herbeieilenden Mitverschwörern: So ist alle individuelle Schuld um eine weitere Nuance verschoben. Das alles halte ich für ziemlich raffiniert: Die Irrtümer – ‚die Doppeldeutigkeit, die Hinterhalte‘, auf die Sie zu Recht hingewiesen haben – sind bei sämtlichen Urteilen immer schon inbegriffen – das ist dann sozusagen noch post-existenzialistisch, wenn man will.

    (Sorry für meine Ausführlichkeit, aber dieser Film ist es mir wert.)

    Noch zwei Tipps:
    Alain Cavalier: Der Kampf auf der Insel.
    Trintignant, Rechtsterrorismus, diese interessant früh-europäische Atmosphäre, das Hôtel de Suède, Hausbootsfahrten auf der Seine … (leider etwas verwässert mit einer Liebesgeschichte und der entzückend jungen, aber hier auch etwas aufdringlich wirkenden Romy Schneider).

    Zur Ben Barka-Affäre:
    Das Attentat
    Der bessere Film: J’ai vu tuer Ben Barka (als UK-Import erhältlich) Mehr als sehenswert!

  2. Gavin Armour sagt:

    Hallo Rainer Rabowski,

    ersteinmal möchte ich michsehr herzlich für Ihren ausführlichen Kommentar bedanken! Sie kennen und lieben den Film.

    Ich selbst habe ihn bisher lediglich ein einziges Mal gesehen und müsste ihn erneut schauen, um so dezidiert auf alle von Ihnen erwähnten Einzelheiten eingehen zu können. Ich hoffe, Sie sehen mir nach, dass ich dies nicht umgehend erledigen kann.

    Ihre Einwände beziehen sich hauptsächlich auf meine Interpretation der Handlung, Da kann ich Ihnen zustimmen. Ich erinnere mich, dass ich die Handlung sehr interpretationsoffen fand. So würde ich bspw. annehmen, dass eine Figur wie Olga und Raphaels Interesse an ihr keineswegs auf eine distanziertere oder gatr menschliche Seite hindeuten , sondern genau die von mir angenommene Verwirrung stiften soll. Ich fand die Figure Raphael nicht zuletzt durch Trintignants brillante Darstellung so ominös und eben auch bedrohlich in ihrer Undurchsichtigkeit.
    In einem Punkt muss ich Ihnen alledings zsutimmen: Ich selbstw ar verwirrt, was das Ende anging und wer nun genau den Satz rief. Da mag meine Freude an der Ambivalenz, die der Film zumindest mir suggeriert mit mir durchgegangen sein. Danke also auch hier für Ihre Interpretation, bzw. die Berichtigung.

    Ein Wort zum „Wortsalat“. Ich konnte selbst nicht sehen, wie der Text zunächst erschien. Gewöhnlich muss ich bei Erstkommentaren diese freigeben. Das hat damit zu tun, dass ich sehr, sehr schlechte Erfahrungen im Netz gemacht habe und mich lieber doppelt und dreifach absichere.

    Noch einmal vielen Dank für Ihren Beitrag und Grüße
    Gavin Armour

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