DIE POSTKARTE/LA CARTE POSTALE

Anne Berest nimmt die Leser*innen mit auf eine Reise durch die eigene Familiengeschichte, in der sich das ganze Grauen des 20. Jahrhunderts spiegeln und einfangen lässt

Es dauert nicht lange. Man liest die ersten fünfzehn, zwanzig Seiten in Anne Berests Roman DIE POSTKARTE (LA CARTE POSTALE, Original 2021; Dt. 2023), da hört man diese Stimmen im Kopf: Die Stimmen derer, die „es nicht mehr hören können“, die „endlich mal Schluss machen wollen mit dem Thema“, die sich fragen, ob man nun auch noch die Geschichten der ganzen französischen Juden „ertragen müsse“. Eben jene Stimmen, die im Grunde gar nichts mehr hören wollen von deutscher Schuld, auch nicht von der Verantwortung, die aus Schuld erwächst. Die Stimmen jener, die sich einfach belästigt fühlen. Von den anderen, von deren Geschichten, ihrem Leid, ihrer Not, ja, von der Geschichte selbst, von einem Gestern – solange dieses „Gestern“ nicht ein vermeintliches Zauberland gewesen ist – das einfach nicht vergehen will und doch endlich, endlich vergehen soll.

Nun könnte man diesen Stimmen entgegenhalten: Schaut euch die Nachrichten an, seht, was da geschieht, in den einschlägigen Vierteln in Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Oder – natürlich – im Internet. Seht doch, wie dieses Volk nicht einmal Hundert Jahre nach dem wohl größten Menschheitsverbrechen, das je geschah, in Ruhe und Frieden leben kann, wie die einschlägigen Erzählungen wieder hervorgekramt werden, wie die alten und neuen Codes wieder auf „den“ Juden verweisen. Sei es als Herr des internationalen Großkapitals, sei es als Kriegstreiber, sei es als zersetzendes Element von was auch immer. Nichts hat sich geändert, gar nichts.

Man könnte aber auch Folgendes sagen zu denen, die sowieso nicht hören wollen: Man könnte sagen: Lest das! Denn sonst entgeht euch ein großartiges Stück Literatur! Lest es doch einfach um seiner selbst willen, wenn euch der Hintergrund denn so furchtbar aufregt und so wenig interessiert. Denn hier kann man etwas lernen. Man kann etwas lernen darüber, wie französische Autor*innen sich dieses Sujets annehmen, man kann aber auch etwas lernen darüber, wie Literatur – selbst die, die scheinbar rein biografisch und also faktisch, nicht fiktional erscheint – zu diesem Thema funktionieren kann, wie sie den Leser mit wenigen skizzenhaften Strichen ganze Welten eröffnen, Personen, Leben nahebringen kann und dabei – man wagt kaum, das im Angesicht des eigentlichen Themas so zu benennen – auch noch unterhält, weil sie spannend ist wie ein Krimi.

Berest war zuvor literarisch durch eher Leichtgängiges aufgefallen. Gemeinsam mit Audrey Diwan, Caroline de Maigret und Sophie Mas hatte sie den Megaseller HOW TO BE A PARISIAN WHEREVER YOU ARE (2013) geschrieben, in welchem die vier Pariserinnen sich und die Klischees, die auch sie erfüllen, auf den Arm nahmen. Auch ihr erster Roman TRAURIG BIN ICH SCHON LANGE NICHT MEHR (2010), nahm sich zwar eines durchaus ernsten Themas an, behandelte es aber mit einem gewissen Witz und dem sprichwörtlichen französischen Charme. Selbstverständlich ist das bei dem Thema, welches DIE POSTKARTE behandelt, nicht mehr auf gleiche oder auch nur ähnliche Art und Weise möglich. Und doch bleibt auch hier etwas von diesem Leichtgängigen, das Berests Schreiben ausmacht. Die Dialoge zwischen ihr und ihrer Mutter, die lange Passagen des Romans ausmachen, sind durchaus noch davon geprägt. Selbst dort, wo die Wut, der Schmerz und auch die Not durchdringen, die auch immer mitschwingen. Doch gerade dadurch, dass einige dieser Dialoge so alltäglich wirken, erhält dieses Buch einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit.

Im ersten Teil des Romans erzählt Lélia, Annes Mutter, ihrer Tochter von deren Großmutter Myriam und deren Seite der Familie. Die Rabinovitch´ waren Aschkenasim, Ostjuden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem heutigen Russland fliehen mussten, als dort der so oder so latente Antisemitismus immer mehr zunahm und schließlich das Leben selbst durch die häufigen Pogrome bedroht war. Diese Flucht artet zu einer wahren Odyssee aus, die Teile der Familie bis nach Palästina verschlägt, nicht aber Myriams Eltern, die sich schließlich in Frankreich ansiedeln, dort ein durch und durch bourgeoises Leben führen, sich assimiliert glauben und umso überraschter sind, als sie unter der deutschen Besatzung nicht als Franzosen, sondern als Juden behandelt werden. Schließlich werden Myriams Eltern Ephraïm und Emma sowie ihre Geschwister Noémie und Jacques deportiert, nur Myriam gelingt – eher durch Zufall – die Flucht. Während des 2. Weltkriegs schließt sie sich über ihren Mann, einen Pariser Künstler mit allerlei Verbindungen sowohl in die Pariser Künstler und Bohème-Szene als auch diverse Widerstandsgruppen, der Résistance an und kämpft gegen die Deutschen. Erst nach dem Krieg siedelt sie sich in dem kleinen Ort an, in dem auch die junge Anne die Oma erinnert.

An das Schicksal der Familie erinnert eine Postkarte, die Lélia erhält. Anonym, ohne Absender oder Ansprache. Lediglich das Motiv der Pariser Oper ist darauf abgebildet und es stehen die vier Namen von Myriams engsten Verwandten darauf. Die Namen derer, die nicht mehr zurückgekommen sind und von deren Schicksal die Welt und also auch Myriam erst nach und nach erfahren wird. Und so schildert Lélia auch, wie Myriam Tag für Tag ins Hotel Lutetia pilgerte, immer in der Hoffnung, hier doch noch auf die Eltern oder eins der Geschwister zu stoßen.

Anne will alles über die Familie wissen, doch ihre Mutter will nur bedingt erzählen und erst recht nicht nachforschen, wer ihr die Karte geschickt haben könnte. So verschwindet sie für Jahre in Lélias Archiv, bis Anne eines Tages damit konfrontiert wird, dass ihre Tochter erzählt, in ihrer Schule „möge man Juden ja nicht so“. Das hat ihr wiederum eine Mitschülerin erklärt. Anne will verstehen, wie sich der Antisemitismus nicht nur durch die Zeiten frisst, sondern wie es ihm immer wieder gelang und gelingt, sich auszubreiten und sein Gift in die Gesellschaften zu träufeln. Sie will nun auch gegen den Willen ihrer Mutter wissen, was es mit dieser Postkarte auf sich hatte und beginnt mit intensiven Nachforschungen, wer sie einst an Lélia geschickt haben könnte.

Von dieser Suche erzählen die größten Teile des Romans. Aber auch Myriams Geschichte während des Kriegs behandelt Berest eingehend und so erhält man wie nebenbei auch eine gute und fundierte – wenn auch natürlich nicht wissenschaftlich aufgearbeitete – Geschichte der Résistance, die keineswegs das einheitliche Gebilde war, als das sie heute oftmals dargestellt wird. Schließlich gelingt es Mutter und Tochter sogar, das Geheimnis um die mysteriöse Postkarte und deren Absender zu lüften – welches sich dann, naturgemäß, als gar nicht mehr so geheimnisvoll erweist. Wie so oft im Leben steckt hinter allem mehr Zufall, Vergesslichkeit und Nachlässigkeit, denn Zielstrebigkeit oder gar böse Absicht.

Was Anne Berest hier aber überdeutlich herausarbeitet – und allein dafür lohnt sich die Lektüre selbst für jene, die um diesen Befund ganz genau wissen – ist die Tatsache, dass Geschichte nicht nur nie vergeht, sondern immer noch in die Gegenwart und wahrscheinlich also auch in die Zukunft hineinwirkt. Ganz gleich, ob es sich dabei um die „große“, also die Weltgeschichte handelt, oder aber um die „kleine“, die private Geschichte. Gerade anhand der Shoah lässt sich ja, wie kaum an anderen Ereignissen der Historie, zeigen, wie das Große das Kleine bestimmt, wie eins ins andere spielt.

Gerade durch die stilistischen Brüche, die Berest wagt – reine Erzählung im ersten und letzten Teil des Romans, Einschübe von Dialogen mit ihrer Mutter und dem Mailverkehr der beiden, genaue Rechercheergebnisse und Hinweise auf die Entwicklungen im Vichy-Frankreich und der 4. Republik, die auf den 2. Weltkrieg folgte und bis Ende der 1950er Jahre, genauer 1958, währte – wird die Verquickung der Weltereignisse mit den Nöten und dem Leiden des Einzelnen so deutlich. Und wenn sich die Autorin an reine Erzählung wagt – und „wagen“ ist hier bewusst gewählt im Angesicht des zu Erzählenden – dann mit einer Vorsicht und auch einer Poesie des Grauens und des Schmerzes, die ganz offensichtlich an den wesentlichen Werken zum Thema, von Primo Levi bis Robert Anthelme und darüber hinaus, geschult ist. Sehr genau geschult ist.

Dies ist ein hervorragendes Beispiel eben dafür, wie von der Shoah, von dem zentralen Verbrechen (und Geschehen) des 20. Jahrhunderts auch jetzt noch und immer wieder erzählt, berichtet werden kann, jetzt, wo die Zeitzeugen langsam sterben und aus lebendiger Geschichte Historie wird. Es beschäftigt jene, die sich schon lange mit der Thematik beschäftigen, dass die Zeitzeugenberichte ebenfalls zu Literatur werden, wenn niemand mehr mit der Autorität dessen, der es erleben musste, durchleben musste, berichten kann. Anne Berest erzählt eben davon, wie man sich dieser Geschichte annähern kann und muss und wie die Geschehnisse von damals das heute definieren können.

Sie berichtet nicht nur von dem skandalösen Satz, Juden seien in der Schule der Tochter nicht wohlgelitten, sondern auch von einem Abendessen bei dem Mann, mit dem sie in den Jahren ihrer Recherche eine Affäre, später ein ernsthaftes Liebesverhältnis beginnt. Hier wird sie von Freunden ihres Liebhabers mit dem mangelnden Fachwissen über das Judentum konfrontiert, was soweit geht, ihr zu unterstellen, keine „wirkliche“ Jüdin zu sein. In einer ebenso absurden wie erschreckenden Umkehr historischer Tatsachen, wird Berest praktisch durch die Bedrängnis, die sie in dieser Situation erfährt, zur Jüdin „gemacht“. Und auch dazu muss sie sich verhalten, sie muss, wie durch die Situation ihrer Tochter in der Schule, eine Haltung finden, einen Standpunkt, von dem aus sie agieren kann. Die Suche nach der eigenen jüdischen Identität, die in ihrem Fall zunächst ausschließlich über den Zivilisationsbruch der Shoah geschieht, wird auch zu einer Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Und genau diese Suche – auch eine Suche nach der verlorenen Zeit – führt zu dem Buch, das die Leser*in während der Lektüre in der Hand hält.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Titel DIE POSTKARTE deckungsgleich ist mit einem der in Deutschland weniger bekannten Werke des französischen Denkers Jacques Derrida. Der vollzieht in seinem Text LA CARTE POSTALE. DE SOCRATE À FREUD ET AU-DELÀ von 1980 die Sendung – oder besser: Lieferung – durch die europäisch-abendländische Geistesgeschichte nach und versucht dabei u.a., sich über den Begriff der Sendung, der Post, der Lieferung und also auch dessen was geschieht zwischen dem Moment, in welchem wir etwas abschicken, und jenem, in dem es seinen Adressaten erreicht, klar zu werden. Er bemüht sich darum, mit sich selbst übereinzukommen, worin das mediale Momentum liegt, das hier geschieht. Wie wirkt das, was vielleicht vor Jahrhunderten gesendet wurde in uns hinein, bestimmt die Gegenwart, hat sie gebildet? Und – ein wesentlicher Aspekt in Derridas Text – welche Rolle spielt dabei die Liebe? Denn war es nicht der Liebesroman vor allem, der als Briefroman entstand und die Form bestimmte?

Die titelgebende Postkarte in Berests Text entspricht auf etlichen Ebenen den Derrida´schen Überlegungen, man mag kaum an einen Zufall glauben. Zumal Derrida selbst jüdischen Glaubens war und dies gerade in seinem späteren Werk, dessen Beginn LA CARTE POSTALE für viele Rezipienten darstellt, immer deutlicher, wesentlicher und auch dringlicher wurde. Anne Berest wird sein Werk zumindest in groben Zügen kennen und sie wird verstanden haben, wo hier Übereinstimmungen liegen. Vor allem auch, weil der Grund, diese Postkarte einmal geschrieben zu haben, zutiefst von der Liebe zu Menschen geprägt war, die es nicht mehr gibt und deren Abwesenheit in der Welt – auch dies ein immer wiederkehrendes Thema bei Derrida, die Abwesenheit – zu begreifen ein Leben lang gedauert hat.

Deren Grab wurde in den Lüften geschaufelt, dort, wo man nicht eng liegt.

 

 

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