GOAT MOUNTAIN
David Vann sucht die Dämonen seiner Familie zu bannen - mit bedingtem Erfolg
Ein erwachsener Mann indianischer Abstammung berichtet uns Lesern von dem vielleicht entscheidenden Moment seines Lebens: Als Elfjähriger von Vater, Großvater und einem Freund der Familie – Tom – auf die familieneigene Jagd mitgenommen, um seinen ersten Hirsch zu erlegen, läuft an diesem Wochenende alles schief: Als sie an ihrem Camp ankommen, sieht Tom durch den Sucher seines Gewehrs eine Wilderer am gegenüberliegenden Hang. Er lässt den Jungen ebenfalls durch das Fernrohr blicken, doch der, anstatt den Wilderer zu beobachten, drückt ab und tötet den Mann mit einem einzigen Schuß. Sofort ändert sich die Statik der Gruppe: Verschüttete Konflikte zwischen Vater und Großvater brechen auf, immer deutlicher wird, wie stark die Tradition der Gewalt die Familie bestimmt, wie tief die Mythologie des Tötens das familiäre Selbstbild prägt. Der Icherzähler erzählt schonungslos von den eigenen Gefühlen und der Hybris, die von ihm Besitz ergriffen hat in dem Moment, in der er die Macht des Tötens spürt. Er fühlt sich den anderen der Gruppe schlagartig überlegen und lässt sie – außer den Großvater, der zusehends mythische Züge annimmt – seine Verachtung spüren. Im Gegenzug muß er aber auch erfahren, wie ihn die Tat schlagartig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat. Eine Mischung aus Angst und Hass macht sich ihm gegenüber bemerkbar, die erst von Tom, dann auch von dem Vater ausgeht. Nachdem der Vater den Toten ins Camp gebracht hat entspinnt sich zwischen Vater und Großvater zusehends ein essenzieller Konflikt darüber, wie die Tat zu begreifen sei: Ist sie ein Akt für sich, etwas Singuläres, eine Ungeheuerlichkeit, oder aber steht sie in einer endlosen Reihe ewigen Tötens – gleich ob Tier oder Mensch tötet und getötet wird – deren Gewalt lediglich tabuisiert und hinter Regeln und Gesetzen eingehegt wird? Die Schändung einer menschlichen Leiche und das widerrechtliche, weil nicht astreine und saubere Töten eines Hirschs – wo ist der Unterschied? Und der Erzähler, der seltsam unreflektiert diese Begebenheit seiner Kindheit/Jugend schildert, stellt genau dies in den Raum: Ist die Sichtweise seines Großvaters richtig, die wahrscheinlich (das Buch gibt darüber wenig bis keine Auskunft, es ist reine Interpretation) mit einer nativen Sichtweise übereinstimmt und die Wirklichkeit eines Volkes wiedergibt, das genau diese Erfahrung machen musste, oder aber die moralische Empörung des Vaters, der – offenbar (erneut: Interpretation) weit mehr in der Wirklichkeit der Moderne verankert – die Wurzeln seiner Herkunft, die Verbindung mit den Ansichten seines Volkes verloren hat. Zugleich ergreift eine sich immer mehr in ihm ausbreitende Vorstellung der Apokalypse von dem Jungen Besitz: Er phantasiert sich in eine alttestamentarische Vision des Landes, in der er, einem Jakob gleich, zum Opfer stilisiert. Er wird sich entscheiden müssen, ob er Opfer oder Täter, schuldig oder machtlos sein will – und es wird erneut Gewalt sein, die die Situation auflöst.
Autor David Vann schreibt in seinem Dankwort am Ende des Buchs, es sei eine Rückkehr zum Beginn seines Schreibens, als er sich mit der Gewalt habe auseinandersetzen wollen, die seine Familie geprägt hat. Zudem – dies weiß man, Vann erwähnt es aber auch noch einmal explizit – hat Vann indianische Vorfahren, was einen Schlüssel zur Interpretation seines Werkes liefert, vielleicht den entscheidenden. Gewalt ist sicherlich der wesentliche Punkt, der Movens, die Achse, um die sich dieser Text dreht. Es gibt Momente solch tiefer, ekelerregender Widerlichkeit, daß man den Text am liebsten zur Seite legen möchte. Es ist dabei weniger der Mord an dem namenlosen Wilderer, der als Lebender nie in diesem Text auftaucht, dessen Kadaver – man muß es so brutal sagen – vom Vater genau wie der eines Tieres behandelt wird und dessen Behandlung das eigentliche Zeichen, das Symbol all dessen ist, was schief läuft. Verrohung und Entgrenzung. Keiner dieser Männer weiß, wie man mit der Situation umgehen soll, allerhöchstens der Großvater, der die Tötung eines Mannes („Mord“ wäre wahrscheinlich der falsche Begriff, was den Umgang mit dem Geschehen noch bedrückender, das Geschehen an sich noch surrealer wirken lässt) einfach in das allgemein Töten einordnet und dabei eine moralisch zwar vollkommen abseitige, im Grunde aber der Sache nicht unangemessene Haltung einnimmt. Wenn der Junge dann aber doch noch, weil die Männer in ihrer Hilf- und Ratlosigkeit erst einmal einfach mit ihren Plänen zur Jagd weitermachen, seinen Hirsch schießt, diesen allerdings nicht mit dem ersten Schuß erledigt, hebt der Text zu einer seitenlangen, unerträglichen Beschreibung an, wie der Erzähler und sein Vater das Tier mit allen Mitteln, schließlich mit Tritten, zur Strecke bringen, wie der Kadaver dieses toten Wesens vom Jungen geschändet wird, wie er, in seinem Kampf mit diesem toten Tier, bei dem ihm niemand zur Seite steht, dieses mehr und mehr in Stücke schneidet und schließlich verliert. Nichts bleibt vom Stolz und der Ehre der Jagd. Dieser Hirsch stirbt einen elenden Tod und Vann erspart uns nichts davon. Den Menschen mit einem einzigen, gezielten und perfekt platzierten Schuß erledigt, das Tier schließlich dreckig, in Stücke geschlagen und der Kadaver dann ähnlich geschändet, wie der des Mannes: Am Ende dieses Wochenendes ist das, was einmal als amerikanischer Nationalsport galt – das Jagen – derart diskreditiert, daß man zumindest dies als Verdient des Buches anerkennen will. Doch zugleich sind in diesem Mischmasch aus richtigem und falschem Töten (das in seiner Ein-Schuß-Ideologie, die dem Jäger ein Gesetz ist, ein wenig an Michael Ciminos Film THE DEER HUNTER von 1978 erinnert) alle Sicherheiten verloren gegangen, die beiden Tötungen – die des Menschen und die des Tieres – stellen in ihrer Art und Weise eine Verletzung der Ordnung dar. Nichts kann mehr sein, wie es einst war.
Doch muß man konstatieren, daß dieser Text, die Idee des Textes, soweit sie sich dem Leser entschließt, nicht aufgeht. Die Idee, den Leser direkt in eine bereits laufende Situation zu werfen, mit Figuren zu konfrontieren, die zunächst (und in diesem Fall: während des gesamten Textes) keine Geschichte, keine Vergangenheit, nicht einmal einen Charakter haben, um so allegorisch eine Weltbeschreibung aus einer Situation en miniature heraus zu generieren, ist immer riskant. In diesem spezifischen Fall kommt hinzu, daß die Konstruktion eines Ich-Erzählers, der von einem jüngeren Selbst, einem elfjährigen Selbst erzählt, dabei aber einerseits diesen Elfjährigen Reflektionen über die Situation, das Land und – abstrakter – darüber anstellen lässt, daß das Land zu einer Landschaft geistiger Ödnis, ja, daß die Wildnis des Jagdreviers zu einem Ausdruck apokalyptischen Geschehens wird, zugleich aber nicht in der Lage ist, sein Tun – das Töten eines Menschen angemessen – zu reflektieren, diese Konstruktion ist schon in der Anlage nicht ungefährlich. Denn schnell verwickelt sich der Text in seinen eigenen Erzählebenen. Der Junge – als Junge – ist offenbar in einem Spannungsverhältnis zwischen der christlichen und der Mythologie seines Volkes gefangen. Der erwachsene Erzähler (dessen Situation, die Erzähl- wie die Lebenssituation, wir nie genauer erklärt bekommen, wir also auch nicht wissen, wie sich die Geschehnisse auf das weitere Leben dieses Menschen ausgewirkt haben) hinterfragt seine kindlichen Reflektionen von einst aber weder, noch weiß er sie zu ergänzen. Scheinbar ist dieser Mann nie älter geworden, als sein elfjähriges Ich es einst war.
Wie ist es aber nicht einmal einem Erwachsenen, der die Geschichte nun in einen (reflexiven) Text bannt, möglich, das Verhalten des damaligen Jungen, dessen Gedankenwelt, seien Beweggründe und seine Entfremdung von der Welt, seinem Tun und den Menschen, die ihn lieben, zu reflektieren? Da wir nichts über die Lebensbedingungen dieser vier Menschen wissen, nicht wissen, wie sie arbeiten, ob und mit wem sie verheiratet sind, welches ihre Freude, welches ihre Trauer ist, bleiben diese Menschen seltsam abstrakt, sie bleiben Thesen, die ganze Situation, vollkommen losgelöst aus jedem historischen und sozialen (und, nimmt man die Reflektionen, ja, Meditationen über Jesus in der Wüste ernst, die den Text ab der zweiten Hälfte immer stärker bestimmen, auch weltlichen) Kontext, bleibt aseptisch. Exemplarisch, thesenhaft, letztlich unempathisch. Dadurch bleibt uns das eigentlich ungeheuerliche Geschehen seltsam fremd und fern. Wirklich emotional reagieren wir auf jene schon erwähnte Szene mit dem Hirsch, das Töten eines Menschen lässt uns seltsam unberührt. Doch wirft uns das nicht auf uns selbst zurück, wir generieren keinen Erkenntnisse über uns selbst, werden nicht mit unserer eigenen Gewalttätigkeit konfrontiert, da sowohl die Situation als auch die Protagonisten uns entäußert bleiben. So entsteht auch kein innerer Dialog mit dem Buch, was Vann wohl wollte – eine Auseinandersetzung – wir verfolgen das alles aus der Distanz und ziehen uns dann auf einen Punkt zurück, an dem die Handlung nicht berührt, weil sie uns nicht betrifft. Das mag anders sein, wenn man Amerikaner ist, vielleicht trifft das Werk einen anderen, wunderen Punkt, wenn man bedenkt, wie sehr die Jagd, also das Töten, dort als ein Sport betrachtet wird, was natürlich massiv dazu beiträgt, daß Gewalt, Waffen und Gewalt, immer noch Basis amerikanischen Denkens und Handelns sind. Für den europäischen Leser bleibt dies aber fremd und auch eher unverständlich.
Vann ist ein sprachgewaltiger Autor, der sicherlich etwas zu sagen hat. Hier scheint, folgt man seinen eigenen Angaben, das Persönliche, diese seltsame Melange aus Gewalt, indianischer Tradition und Geschichte und christlicher Prägung (vor allem durch das Alte Testament, das hier schließlich an allen Ecken und Enden durch die Textur schimmert), doch weitaus stärker in den Text eingeflossen zu sein, als vielleicht beabsichtigt. Ein hermetischer Text, der den Leser als Gast behandelt, ihn an seinen tieferen Geheimnissen jedoch nicht wirklich teilhaben lässt.