DIE SOMNAMBULE ODER DES STAATSKANZLERS TOD
Ein Epochengemälde mit feinem Strich und leiser Ironie
Günter de Bruyn nimmt sich der letzten Liebe des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg an. Dieser – immerhin neben dem Freiherrn vom Stein und Wilhelm von Humboldt einer der drei großen Reformer Preußens, liberal und den Napoleonischen Ideen gegenüber aufgeschlossene und zudem Mitverfasser des ersten Entwurfs einer Verfassung für Preußen, die dann jedoch nicht zustande kam – war zeitlebens ein Lebemann gewesen, mehrfach verheiratet, dennoch immer auch bereit, Affären und Tändeleien einzugehen, traf seine wohl letzte große Liebe – Friederike Hähnel – 1816 in der Praxis des Arztes Dr. Wolfart. Der war ein bekennender und zum damaligen Zeitpunkt bereits recht populärer Anhänger des Mesmerismus und behauptete, mit den Methoden seiner magnetischen Heilmethoden in nahezu allen medizinischen Belangen Heilerfolge zu erzielen. Hardenberg – wie viele gebildete Männer und durchaus auch Frauen seiner Zeit modernen, durchaus dem Zeitgeist der Romantik entsprechenden Trends und Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen – war durch seinen Leibarzt und Protegé Dr. Koreff auf den Magnetiseur aufmerksam gemacht worden. Die junge Friederike Hähnel erweckte umgehend Hardenbergs Aufmerksamkeit, brachte offenbar auch in seinem fast sechsundsechzigsten Lebensjahr die Libido in Aufruhr. Da Hardenberg bereits in dritter Ehe verheiratet und Vater zweier mittlerweile erwachsener und ebenfalls im Stand der Ehe befindlicher Kinder war, zudem die Zeitläufte die Restauration und also die reaktionären Kräfte, mithin ihm nicht unbedingt wohlgesonnene Kreise, erstarken ließen, kam eine erneute Scheidung und weitere Eheschließung nicht in Frage. Zumal die Ehelichung seiner derzeitige Gemahlin Charlotte ebenfalls schon Skandal gemacht hatte: Zu jung, nicht standesgemäß und zudem eine ehemalige Schauspielerin und Sängerin, war Hardenberg ein recht hohes gesellschaftliches und also soziales Risiko eingegangen, als er ihr sein Jawort gab. So arrangierte er sich mit der Situation, indem er die Hähnel seiner Gemahlin als eine Art Gesellschaftsdame andiente, zugleich fand er mit dem zweifelhaften Herrn von Kimsky einen ergebenen Gatten für seine Geliebte. So hatte er sich mit für ihn wesentlichen Menschen umgeben, doch zeigte dieses Tableau – ein jüdischer Leibarzt, eine junge, anrüchige Gemahlin und eine noch viel jüngere Geliebte, die in Diensten des Hauses stand, zudem Freundschaften mit im preußischen Berlin schräg angesehenen Figuren wie dem Chronisten, Publizisten und Diplomaten Varnhagen – nicht nur sein liberales, modernes Denken, es zeigte natürlich auch ein in einer zunehmend konservativeren Gesellschaft zunehmend ungebührlicheres Verhalten. Hardenberg nahm seine Entourage in den folgenden Jahren bis zu seinem Tode 1822 auf eine Menge Reisen mit, während er sich gegen die aufkommende Restauration stemmte, wenn auch mit wenig Erfolg. Nach seinem Tode verliert sich Hähnels, besser: Frau von Kimskys Spur in den europäischen Ländern, allerdings wird sie gelegentlich in Briefen und Tagebüchern erwähnt, meist schlecht beleumundet, galt sie doch als diejenige, die sich den damals schon ältlichen Hardenberg gefügig gemacht haben soll. De Bruyn kann ihre Spur in großen Abständen bis 1872 nachverfolgen. Am 22. Dezember des Jahres stirbt sie in Rom, wo sie Jahrzehnte verbracht hatte.
Mit leichtem Strich, pastellfarben, fast plaudernd im Ton, entwirft Günter de Bruyn anhand dieser nicht allzu spektakulären und in ihrer eher geringen Dramatik wohl auch nicht unüblichen Liebesgeschichte, die eine Affäre bleiben musste, ein Sitten- und Gesellschaftsbild der Zeit um den Wiener Kongreß, also jener Jahre der Neuordnung Europas, die so entscheidend nicht nur für das 19. Jahrhundert Deutschlands werden sollten. Dabei gelingt es ihm, scheinbar rein deskriptiv, die Quellen immer nennend, durchaus auch kritisch anmerkend, daß diese oft nur stückweise und unvollständig Rückschlüsse auf die Personen dieser Menage und ihre Handlungen erlauben, im Kleinklein des Privaten das Große der europäischen Politik aufscheinen zu lassen. De Bruyn enthält sich weitestgehend aller Interpretation, er analysiert auch nicht, er spürt lediglich, ganz im Sinne eines klassischen Historikers, dem Was-ist nach und hält sich dort angenehm zurück, bzw. setzt seine sprachlichen Markierungen, wo Kenntnis in Spekulation übergeht. Der Leser erhält, unaufgeregt dargeboten, einen Überblick über einen Teil jenes Personals, welches jene Jahre mitbestimmt hat – Kotzebue, von Humboldt, der Fürst Pückler, Varnhagen und Hardenberg selbst natürlich – ohne diese Figuren lediglich in ihrer angestammten Rolle als papierene Wesen internationaler Diplomatie erfassen zu können, sondern durchwegs als Menschen mit Bedürfnissen, Emotionen und durchaus auch Verzweiflung. Denn obwohl de Bruyn den leichten Ton anschlägt und somit eine wohltuende Distanz zwischen sich als Erzählendem und seinem Sujet legt, obwohl durchaus feine Ironie zum Tableau seiner stilistischen Mittel gehört und der Erzählung ein angenehmes Tempo und Rhythmus verpasst, kann man durch diese Zeilen hindurch schon spüren, wie da einer, der sein Leben einem liberalen Staat gewidmet hatte, nicht nur sein öffentliches Werk zuschanden kommen, sondern auch sein persönliches Glück durch die Zeitläufte, die aufkommende reaktionäre Haltung und zunehmend engeren Moralvorstellungen bedrängt, ja bedroht sieht. Und ohne, daß de Bruyn es explizit drauf anlegt, gelingt so also nicht nur eine Vermenschlichung ansonsten lediglich trockenen Geschichtsbüchern Entsprungener, sondern es gelingt auch, die kleine, persönliche Tragödie, ein Minimeisterwerk der amourösen Diplomatie – Anstellung der eigenen Geliebten bei der eigenen Gemahlin, die eingefädelte Ehe mit dem Herrn von Kaminsky – in den weitaus größeren, doch ebenso stillen des beginnenden 19. Jahrhunderts sich spiegeln zu lassen.
Günter de Bruyn ist ein kleines Kabinettstück gelungen, sicher eher ansprechend für den, der sich einer wesentlichen Ära europäischer Geschichte einmal anders nähern will, ohne dabei die geschichtlichen Entwicklungen gänzlich außer Acht zu lassen. Hier erfahren wir einiges über Lebensstil und Lebensweise, darüber, wie bei Hofe Politik auch mit Geschenken und ähnlichem gemacht wurde, wir erfahren darüber, wie in einem vergleichsweise engen aristokratischen Stand sich wesentliche Personen immer wieder begegneten, aber auch erfahren wir, wie ein unruhiger und oft die Lokalitäten wechselnder Haushalt funktionierte oder wie ein Herr wie Hardenberg seine Landgüter zu wunderbaren Parkanlagen (Pückler war hier vor allem zuständig) und Oasen der Erholung ausbauen und gestalten ließ. Eine Epoche entsteht vor unserem lesenden Auge, mithin die feinste Leistung, die Prosa zu erbringen vermag. Es lohnt.