OH WILLIAM!

Elizabeth Strout erzählt aus dem Leben der Lucy Barton

OH WILLIAM! (Original unter demselben Titel 2021; Dt. ebenfalls 2021) ist Elizabeth Strouts Nachfolger zu ihrem Roman DIE UNVOLLKOMMENHEIT DER LIEBE (MY NAME IS LUCY BARTON; Original und Deutsch 2016) und vertieft den Charakter der Schriftstellerin Lucy Barton, die wir im Vorgänger als Patientin in einem Krankenhaus kennenlernten, wo sie von ihrer Mutter besucht wurde, zu der sie eine gelinde gesagt schwierige Beziehung hatte. Strouts früherer Roman wirkte in seiner äußersten Redundanz fast wie ein Anti-Roman, wie ein Roman, der sich dem Leser gleichsam zu verweigern schien. Eher ein Notizbuch als ein durchkonzipiertes Werk.

OH WILLIAM! gibt nun sehr viel tiefere und literarisch auch eindeutigere und umfassendere Einblicke in das Leben der Lucy Barton. Erzählt von ihr selbst. Aufgehängt wird ihr Erinnerungswerk, das nämlich ist es im Kern, an einer Fahrt, die sie mit ihrem Ex-Mann William unternimmt, als dieser nach der Trennung von seiner dritten Frau – Lucys Nachnachfolgerin – erfährt, dass er eine Halbschwester hat, die irgendwo in Maine lebt. Lucy willigt nach einer Nacht des Überlegens ein William zu begleiten, nachdem er sie um Hilfe gebeten hat, wie in den Jahren seit ihrer Scheidung immer wieder einmal. Und während sie neben William durch ein tristes Maine fährt, gleiten ihre Gedanken immer wieder zu ihrer gemeinsamen Vergangenheit – sie waren einmal eine Familie, haben zwei mittlerweile erwachsene und voll im Leben stehende Töchter – wie auch in ihre eigene Geschichte als Kind einer bitterarmen Familie im ländlichen Illinois. Und ebenso spekuliert sie immer wieder über Williams Geschichte, wobei sie feststellt, dass man mit jemandem noch so viel Zeit, noch so viele Jahre verbracht haben kann, man kennt ihn letztlich nicht wirklich. Allerdings, so Lucys wie immer vollkommen unsentimentale Feststellung, kennt man sich auch selbst nicht sonderlich gut, gleich wie alt man ist, in welchem Stadium des eigenen Lebens man steht. Ja, vielleicht kennt man sich mit zunehmenden Jahren sogar immer weniger.

Unsentimental ist die vielleicht treffendste Beschreibung von Elizabeth Strouts Schreiben, ihrer Literatur. Nie gleitet diese Literatur in Klischees ab, nie wird sie weinerlich, allzu nostalgisch oder eben gar sentimental. Immer bleibt sie scharf, immer auch in einer Beobachterposition, auch wenn sie, wie hier, aus der spezifischen Sicht ihrer Hauptfigur erzählt. Die ist ja nicht umsonst Schriftstellerin. Lucy beobachtet ihre Umgebung – was zu teils wirklich trübseligen Beschreibungen eines ruralen Maines führt, die weit, weit entfernt sind von den manchmal fast rührseligen, weil arg idyllischen Darstellungen derselben Gegenden durch, sagen wir, Stephen King. Lucy beobachtet aber auch die Menschen in ihrer Umgebung sehr genau, was gerade in den Charakterisierungen sowohl ihres Ex-Mannes als auch seiner späteren Gattinnen und auch der Töchter oftmals schon an eine Schmerzgrenze reicht, weil es so ehrlich und so offen ist. Und zu guter Letzt beobachtet Lucy sich selbst und steht in ihrem Schreiben ebenso offen zu ihren eigenen Schwächen und Unsicherheiten. Und derer gibt es im Laufe der Handlung einige. Und so, wie Lucy Barton/Elizabeth Strout sie beschreiben, sind einige der Unsicherheitsmomente zudem wirklich komisch. Denn schließlich ist es Lucy, die mit Williams mittlerweile auch schon sehr alten Halbschwester in Kontakt tritt; und gerade dadurch, dass sie diese Begegnung ausgesprochen nüchtern erzählt, wird das Abstruse daran ebenso deutlich, wie das Tragische und auch Traurige eines solchen Moments. Und all das, während der zweifelnde William draußen im Wagen hockt, grübelnd.

Elizabeth Strout wird immer wieder als Meisterin in der Beschreibung menschlicher Beziehungen bezeichnet und diesem Verdikt kann man sich letztlich nur anschließen. Wie es ihr immer wieder – ob hier oder auch in anderen Romanen, allen voran jenen um Olive Kitteridge – gelingt, mit scheinbar einfachen Mitteln menschliche Abgründe ebenso auszuleuchten, wie auch Freude und sogar Glück zu beschreiben, Momente, die manchmal so einfach, so oberflächlich, manchmal banal, erscheinen und doch so tief reichen, das hat schon ein ganz eigenes literarisches Niveau. Deshalb bleibt auch nur eine einzige leise Kritik auszurichten: Warum hat es Elizabeth Strout in einigen Momenten nötig, auf Stilmittel anderer Schriftstellerinnen, Kolleginnen zu schielen? Denn in den sich wiederholenden Hinweisen, sie wolle über dieses und jenes nun nicht schreiben, denn darüber habe sie an anderer Stelle bereits berichtet, nur um dann doch auf genau diese Person oder Szene einzugehen, erinnert der Text gelegentlich an Annie Ernaux, die dieses Mittel häufig nutzt. Doch anders als Strout, hat Ernaux tatsächlich an anderen Stellen bereits über dieses und jenes geschrieben – denn ihr Schreiben ist ein wirklich und authentisches, autobiographisches, Schreiben. Keine Fiktion. Lucy Bartons Schreiben hingegen ist immer ein fiktionales Schreiben, zudem kennen wir lediglich ein anderes Buch, das uns von ihr berichtet (nimmt man den Kurzgeschichtenband ALLES IST MÖGLICH aus, original aus dem Jahr 2017, welcher den Leser in die Kleinstadt entführt, in der Lucy Barton aufgewachsen ist), können also nicht auf ein „Werk“ im engeren Sinne zugreifen.

Doch ist dies wirklich nur eine Randbemerkung. OH WILLIAM! ist ganz sicher eines der Bücher von Elizabeth Strout, welches ihre Stärken herausstellt und somit auch zu ihren stärkeren gehört. Sicherlich ist es stärker als der direkte Vorgänger um die Autorin Lucy Barton und kann diese Figur wie auch ihre Verwandten und Bekannten sehr viel besser konturieren. Und wie immer bei dieser außergewöhnlichen Autorin, macht es großen Spaß, den Dialogen, den Situationen und den Szenen zu folgen, die sie sich für ihre Leser einfallen lässt und aufbereitet.

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