DIE SCHATTENLINIE/THE SHADOW-LINE

Joseph Conrads Meistererzählung über Initiation und Verantwortung

Wenigen ist es gelungen, die Schifffahrt, Abenteuer zur See, das Verhalten in Extremsituationen an Bord eines Schiffes derart allegorisch zu nutzen, wie es Joseph Conrad getan hat. Sein Schreiben ist Beschreibung ebenso, wie es eine Reflektion über eine Welt ist, die durch Kolonialismus und Imperialismus geprägt ist, aber immer auch eine Befragung moralischer Aspekte, die oft moralischen Imperativen gleichen. Immer war sein Schreiben von autobiographischen Zügen geprägt, war Conrad doch lange selbst zur See gefahren und kannte nicht nur das Leben an Bord in all seinen Facetten, sondern auch die Gegenden der Welt, die er beschrieb – die Südsee, den Golf von Bengalen, das Chinesische Meer. Und auch die Situationen, in die sein Personal gerät, waren oftmals seinem eigenen Erleben, seinen Erfahrungen entnommen.

THE SHADOW-LINE, erschienen 1917, gehört sicherlich zu den stark autobiographisch geprägten Texten aus Conrads Feder. Im späteren Stadium seines Schaffens entstanden, berichtet Conrad von einem jungen Mann, der ohne wirklichen Grund das Schiff verlässt, auf dem er zuletzt als Offizier gesegelt ist und sich irgendwo  im Fernen Osten an Land herumtreibt, bis er ein eigenes Kommando erhält. Doch ist dies, sein erstes eigenes Kommando, nicht von Glück gesegnet. Zunächst ist es eine Flaute, die das Schiff, dessen Mannschaft der Erzähler nicht kennt, tage-, dann wochenlang stilllegt, dann kommt eine schwere Krankheit hinzu, die die gesamte Besatzung bis auf ihn selbst und den Koch, Mr. Ransome, außer Gefecht setzt. Während der erste Offizier halluziniert und das Schiff vom ehemaligen Kapitän, der auf der letzten Fahrt verstorben ist, verfolgt und verflucht sieht, versucht der Erzähler, kühlen Kopf zu bewahren. Die Situation verschlimmert sich, als er und Ransome feststellen müssen, daß die Medizin, die ihnen vor Abfahrt geliefert wurde, reines Placebo ist, ohne jede Wirkung. Dann schlägt das Wetter um und nun muß die kranke Besatzung alle Kräfte dafür aufbringen, daß das Schiff im Unwetter nicht seine Segel und Masten verliert. Doch es gelingt dem Kapitän und Erzähler dieser Geschichte schließlich, mit waghalsigen Manövern, Schiff und Besatzung zu retten.

So beschrieben liest sich der Inhalt von Conrads gerade einmal 188 Seiten langer Erzählung wie eine reine Abenteuergeschichte. Doch ist dies vielmehr eine Geschichte des Weges vom enthusiastischen jungen, zu einem verantwortungsvollen Mann, der seine erste – und wichtigste? – Prüfung besteht. Die titelgebende „Schattenlinie“, von der die Rede ist, ist nicht nur die Bezeichnung jenes Breitengrades, auf dem der ehemalige Kapitän bestattet wurde und die im von Krankheit geprägten Kopf von Mr. Burns, dem ersten Offizier, mystische Kraft erhält, weil die Macht des Toten sich als Fluch auf das Schiff lege und es hindere, die Linie zu überqueren. Sie ist vielmehr jene imaginäre Linie, die die Jugend vom Mannesalter trennt. Der Grad, an dem sich entscheidet, ob ein junger Mann zu Reife kommt und seinen Aufgaben gerecht werden kann, ihnen gewachsen ist. Conrad beginnt seine Erzählung mit einer längeren Abhandlung über die Vorzüge der Jugend, die sich klar on der Kindheit absetze, darüber, wie in dieser Zeit, die er als einen Garten, also einen Raum, bezeichnet, sich Wünsche, Hoffnungen und Ideale durchmischen und in dieser Wirkung Herausforderungen suchen lassen. Erst, wenn man sich diesen Herausforderungen stellen musste und sie erfolgreich bestanden hat, erst wenn man das ganze Gewicht der Verantwortung getragen und diese Last gemeistert hat, betritt man jenes Land hinter der Schattenlinie. Wird man zu einem moralisch und damit sittlich gefestigten Menschen.

Conrad gelingt es, formal und inhaltlich exakt aufeinander abgestimmt, diesen Raum vor der Schattenlinie zu beschreiben. Nach seiner philosophischen Betrachtung der Unterschiede von Kindheit, Jugend und Mannesalter, lässt er den Ich-Erzähler lange seine Unzufriedenheit beschreiben, sein Unverständnis über sich selbst, über die Entscheidung, sein Schiff zu verlassen, die auch unter Kollegen und Hafenmitarbeitern für Verwunderung sorgt. Er kann weder sich noch anderen gegenüber Rechenschaft für diese Entscheidung ablegen. Es ist eine innere Unruhe, die zugleich wie eine Lähmung wirkt, ein Stillstand, der den jungen Mann davon abhält, seiner nie näher beschriebenen und auch für ihn nur vage empfundenen Bestimmung nachzugehen. In einem Seemannsheim in der Hafenstadt, in der er an Land geht, trifft er im alten Kapitän Giles einen Kollegen, der ihm väterlich zur Seite steht und offenbar großes Verständnis für das jugendliche Drängen und Streben hat. Es wird schließlich dieser Kapitän Giles sein, der dafür sorgt, daß der Erzähler sein Kommando antritt.

Doch  zuvor lässt Conrad uns an den abendlichen Unterhaltungen der beiden Männer teilhaben. Und diese Unterhaltungen sind von des Erzählers Unbill und seiner Arroganz gegenüber seiner Umwelt geprägt. Den anderen hält er mal für einen Schwätzer, mal für verschlagen, seine Ratschläge für das Gewäsch des Alters. Spät erst wird er verstehen, was Giles ihm eigentlich hat sagen wollen, weshalb der Alte ihn in das Abenteuer, dem er sich wird stellen müssen, hineingetrieben hat. Doch kommt die Erzählung lange nicht vom Fleck. Conrad lässt uns durch Wiederholung und den scheinbaren Stillstand in der Handlung spüren, wie diese Zeit des Nichttuns für den Erzähler gleichsam zur Qual wird. Warten, Ausharren, das Gerede der Alten ertragen – die Jugend ist geprägt von diesen Zeiten, in denen man noch nicht tun kann oder tun darf, wozu man sich längst befähigt fühlt.

Diese Haltung spiegelt sich dann inhaltlich in jenen Tagen und Wochen auf See, in denen Schiff und Besatzung durch Flaute und Krankheit gezwungen sind, auszuharren. Es ist ein literarisches Meisterstück Conrads, beides ineinander zu spiegeln und dennoch die Aufmerksamkeit des Lesers zu binden. War der junge Mann eben noch in einer Haltung, der Gewalt anderer ausgeliefert zu sein, jener mächtigeren und erfahreneren Männer, die über Wohl und Wehe entscheiden, indem sie Schiffe zuteilen und Kapitäne einsetzen, so ist er nun, als Verantwortlicher, plötzlich höheren Gewalten ausgeliefert und muß Aushalten, was er nicht ändern kann. Zudem muß er Zuversicht verbreiten und darf sich nie, nicht einen Moment, jener Stimmung überlassen, die bspw. Mr. Burns in seinem Halluzinieren verbreitet. Alles scheint sich gegen den jungen Ich-Erzähler zu verbünden und außer Ransome, der ein hervorragender Seemann ist, aufgrund eines Herzleidens aber keine schweren Tätigkeiten an Bord ausüben darf, steht ihm niemand mehr zur Seite, der die Situation einschätzen kann und ihn unterstützt.

Hinzu kommt die Fremdheit. Die Mannschaft ist eingespielt, sie kennen Mr. Burns und vertrauen ihm, doch der neue Kapitän ist ein Fremder, niemand weiß, was er kann, wie er sich in Notsituationen verhalten wird. Conrad beschreibt den Aberglauben auf See, ohne, wie er in einem Nachwort angibt, je die Grenze zum Unnatürlichen oder gar Übernatürlichen zu überschreiten. Er beschreibt den Zusammenhalt und die Härte, die diese Arbeit erfordert. Wenn das Schiff schließlich am Wind liegt und aus der Flaute ein Sturm zu werden droht, muß ein jeder, egal ob krank oder nicht, seinen Posten halten, muß selbst Ransome schließlich in die Wanten, um das Schiff zu retten. Mr. Burns, bei weitem nicht genesen, hält das Ruder und auch der Ich-Erzähler übernimmt Aufgaben der einfachen Mannschaft. Conrad lässt keine Tragik zu, sondern beschreibt einen Initiationsritus, dem der Ich-Erzähler unterworfen ist. Er bringt das Schiff sicher in den Ausgangshafen zurück und sucht sich umgehend eine neue Mannschaft, um seine eigentliche Aufgabe zu erledigen, also wieder in See zu stechen. Nur ist er jetzt ein anderer. Er hat eine Aufgabe bewältigt, eine Prüfung bestanden und ist aus dieser zum Manne gereift hervorgegangen.

Indem Conrad – der seinem Kurzroman den Untertitel „Eine Beichte“ gab – diese Geschichte einen alten Mann erzählen lässt, also reflektierend aus einer Perspektive des bereits gelebten und vergangenen Lebens, nimmt er eine Rahmung vor, die typisch für sein Erzählen ist. In seinen Hauptwerken ist es oft die Figur des Marlow, der Geschichten erzählt oder aber Dritten von Erlebnissen berichtet, die ihm selbst erzählt wurden. Conrad gibt seinen Erzählungen also fast immer eine gebrochene Perspektive, die nicht nur die Reflektion ermöglicht, die Metaebene, die über die reine Handlung hinaus schon eine Beurteilung des Erzählten zulässt, die Metapher und Allegorie umfasst, die tiefere Moral beschreibt, die der äußeren Handlung inne liegt, sondern zugleich auch die Brüchigkeit des Erzählens und des Erzählten als gefilterte Geschichte ausstellt und thematisiert. Es ist stilistisch ein äußerst modernes Mittel und markiert deutlich Conrads Ausnahmestellung in der angelsächsischen Literatur des späten 19. Und frühen 20. Jahrhunderts. Wenige Autoren wirken so deutlich spürbar am Übergang klassischen Erzählens zur Moderne.

THE SHADOW-LINE nimmt möglicherweise eine Sonderstellung in Conrads Werk ein, weil hier die Rahmung von einem Namenlosen vorgenommen wird, was indirekt auf den Autor selbst verweist, der hier so deutlich wie selten hinter der Erzählung spürbar wird, ja, hervortritt, und damit identifizierbar ist. Joseph Conrad selbst hatte nur ein einziges eigenes Kommando als Kapitän inne, obwohl er einige Jahre zur See verbrachte. Wenn also der damals sechzigjährige Conrad einen älteren Mann aus der eigenen Jugend erzählen und diese reflektieren lässt, mag dies wahrlich tief autobiographische Züge tragen. Doch ist  dies eben keine Conrad´sche Lebensbeichte, sondern schlußendlich eine Stück Weltliteratur, das tief aus menschliche, Dasein und Empfinden schöpft.

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