DER GEHEIME TEILHABER/THE SECRET SHARER
Eine Kurzgeschichte von Joseph Conrad über Identifikation, Projektion und Verantwortung
Das Motiv des Doppelgängers bietet für Literatur, Theater und den Film ein weites Feld an Möglichkeiten. Es kann zu lustigen, tragischen und dramatischen Verwechslungen führen, es ermöglicht Fragen nach Identität und der Brüchigkeit derselben, es kann aber auch parodistisch genutzt werden und bspw. die Mächtigen entlarven, wenn plötzlich ein schräger Onkel aus Amerika Regent des Vereinigten Königreichs wird. Eine interessante Variante bietet auch Joseph Conrad in seiner Kurzgeschichte THE SECRET SHARER (DER GEHEIME TEILHABER; erschienen 1910).
Der Ich-Erzähler, der die knapp 80 Seiten hindurch namenlos bleibt, ist Kapitän an Bord eines ihm bislang unbekannten Schiffes, dessen Kommando er aus nicht näher genannten Umständen gerade übernommen hat. Es liegt im Golf von Siam und wartet auf das Ende einer Flaute, um segeln zu können. In der ersten Nacht seines Kommandos übernimmt er – ungewöhnlich für einen Kapitän – die erste Wache an Deck. In dieser Nacht wird er darauf aufmerksam, wie sich ein Schwimmer dem Schiff nähert. Es ist ein nackter Mann, der angibt von einem anderen Schiff, der Sephora, geflohen zu sein, weil er dort wegen Totschlags unter Arrest stand. Sein Name sei Leggatt. Der Erzähler und Leggatt tüfteln einen Plan aus, wie der Flüchtling an Bord des Schiffes zu verstecken sei und dann, sobald es in See steche und Fahrt aufnehme, fliehen könne. Der Erzähler kleidet den Fremden ein und versteckt ihn in seiner Kajüte. Er muß allerhand Tricks anwenden, um den Versteckten vor den Offizieren und den Bediensteten an Bord geheim zu halten. In einem waghalsigen Manöver gelingt es ihm schließlich, nah an eine unbewohnte Insel heran zu segeln, so daß Leggatt sich aus den Fenstern der Kapitänskajüte herablassen und schwimmend an Land gelangen kann.
Soweit die äußere Handlung. Wirklich interessant an Conrads Erzählung ist aber die Beobachtung des Ich-Erzählers, der nicht nur tief bewundernde Blicke auf den stattlichen nackten Mann wirft, sondern, nachdem er ihn mit seinen eigenen Kleidern eingedeckt hat, eine verblüffende äußere Ähnlichkeit zwischen sich und dem Fremden wahrzunehmen meint. Doch wie steht es um die innere Ähnlichkeit? Leggatt vertritt seinen Fall offensiv. Er habe den dunkelhäutigen Mann eher aus Notwehr getötet, da dessen Verhalten an Bord nicht tragbar gewesen sei. Er nimmt die Hilfe an, doch stellt er, während er nackt und klatschnass an Deck des Schiffes vor dem Erzähler steht, klar, daß er sofort weiterschwimmen werde, wenn dieser gedenke, ihn seinen Häschern auszuliefern. Es ist schon der Stolz des Mannes, der den Ich-Erzähler beeindruckt. Im Folgenden scheint dieser von unglaublicher Ruhe und Selbstgewißheit, es kann ihn nichts verunsichern und er gibt dem Kapitän sogar Tipps, wie die Flucht am besten gelingen könne, auch wenn dazu eben jene Manöver nötig seien, die diesen wiederum seiner Mannschaft und seinen Offizieren entfremdeten. Diese wiederum stehen dem neuen Kapitän zwar nicht feindselig gegenüber, durchaus aber skeptisch. Allein die Entscheidung, die Deckwache zu übernehmen, ruft schon Unverständnis hervor.
In den Überlegungen des Erzählers spielt gerade seine Fremdheit an Bord, die Unkenntnis der Mannschaft und die Tatsache, daß ein Kapitän zwingend auf deren Wohlwollen angewiesen ist, will er sein Kommando vernünftig führen, eine wesentliche Rolle. Conrad lässt die Unsicherheit des Kapitäns immer wieder aufscheinen, verdeutlicht dessen Gefühl der Entfremdung und wohl auch einer unterschwelligen Angst, den Ansprüchen, die an ihn gestellt werden, die er auch an sich selbst stellt, nicht gerecht werden zu können. Leggatt hingegen ist stolz, selbstsicher und scheinbar unbezwingbar. Die Identifikation des Ich-Erzählers, der schon allein dadurch schwach erscheint, daß er keinen Namen trägt, mit dem Schwimmer ist also auch eine Verbrüderung mit dem Außenseiter, den ein entflohener Sträfling (oder Angeklagter, wie in diesem Fall) immer darstellt. Conrad stellt eine Projektion aus, eine Überidentifizierung dessen, der eigene Unsicherheit spürt mit dem, der in seiner Not dennoch stark und überlegen wirkt. Leggatt ist in diesem Konstrukt schon allein dadurch der Stärkere, indem Conrad ihm einen Namen und damit eine Identität zugesteht.
Interessanter jedoch ist der Aspekt der Wahrnehmung des anderen durch den ich-Erzähler. Außer an einer einzigen Stelle, an der angedeutet wird, daß der Diener des Kapitäns möglicherweise Leggatt gesehen und mit dem Kapitän verwechselt hat, gibt Conrad seinem Leser nur die subjektive Wahrnehmung des erzählenden Schiffsführers wieder. Wir als Leser müssen uns also auf diesen verlassen, wenn er in Leggatt ein Abbild seiner selbst zu erblicken meint. Durch eine objektive Beobachtung, gar eine auktoriale Erzählstimme, wird diese Beobachtung nie wirklich bestätigt. So bleibt es der psychologischen Interpretation der Figuren durch den Leser während der Lektüre überlassen, ob wir es hier mit einem wahren Doppelgänger zu tun haben – oder eher mit einer Überidentifizierung in einem Moment innerer Not. Ein Paradebeispiel für Conrads meisterhafte Beherrschung nicht nur der ihm im Grunde fremden englischen Sprache, sondern auch seiner ebenso meisterhaften Beobachtung des menschlichen Daseins und seiner seelischen Bedingungen. Wie genau der Autor komplexe Verhalte menschlichen Daseins, moralischer Nöte und psychologischer Bestände zu erfassen und darzustellen befähigt war, kommt in THE SECRET SHARER brillant zum Ausdruck.
Conrad stützte sich bei seiner Erzählung auf eine wahre Begebenheit an Bord des berühmten Klippers Cutty Sark, die allgemeines Aufsehen erregt hatte. Auch hier wurde einem Totschläger vom Kapitän zur Flucht verholfen. Conrad, der an sich ein sehr waches Gespür für rassistische und imperialistische Auswüchse im britischen Kolonialreich hatte, ließ diesen Aspekt, der im wahren Fall wohl eine wesentliche Rolle spielte, bewußt wegfallen, um sich ganz auf die Frage von Identifizierung, Angleichung und Projektion zu konzentrieren.
THE SECRET SHARER ist nichtsdestotrotz eine seiner Meistererzählungen, die durchaus auch Einblick in das Innenleben des Autors bietet, der selber Offizier auf Handelsschiffen gewesen war. Neben den übergeordneten Aspekten der Geschichte kommt hier sehr gut zum Ausdruck, unter welchem Druck man steht, wenn man Verantwortung übertragen bekommt und unsicher ist, dieser gerecht werden zu können. Eine vielschichtige Erzählung, ein kleines Stück große Literatur.