KAIROS

Jenny Erpenbeck erzählt noch einmal von der großen Liebe, ihren Höhen und ihren Abgründen

Da ist sie also noch einmal, die große, die analoge Liebesgeschichte, die Liebesgeschichte, die nicht auf der Ökonomisierung der Gefühle und die Effektivität der Algorithmen setzt, auf Berechenbarkeit und Effizienz, sondern jene Liebesgeschichte, die davon erzählt, was das eigentlich bedeutet, das Sich-Einlassen, der Fall ins Freie, ohne Netz und doppelten Boden. Und der immer – immer? – auch schon die Möglichkeit des Scheiterns innewohnt. Und da dies eine Liebesgeschichte aus den letzten Jahren der DDR ist, und da sie in die neue Zeit nach der sogenannten Wende hineinreicht, ist es auch die Geschichte einer Korruption, der Korruption der eigenen Gefühle und des äußeren Antriebs durch eine Veränderung, die so niemand hatte voraussehen können in den Jahren 1986, 87 oder 88. Es ist die Liebe eines jungen Mädchens, einer jungen Frau, besser so, und eines viel älteren Mannes. Eines verheirateten Mannes, eines privilegierten Mannes, gerade in einem Staat, der seine Bewohner einsperrt, gängelt, manipuliert und im Zweifelsfall tötet.

Und wer nun hat sie geschrieben, diese Liebesgeschichte? Jenny Erpenbeck. Jenny Erpenbeck hat uns allen, allen deutschen und deutschsprachigen Lesern, noch einmal eine solch wunderbare und grausame Liebesgeschichte geschenkt. KAIROS (2021) heißt ihr Roman. Und es ist ein Roman, der aufs Ganze geht, der die Schönheit des geglückten Moments ebenso zu erfassen versteht, wie er die Abgründe, die Ecken und die Schatten ausleuchtet, in denen das Mißtrauen wächst, der Verrat und die Verachtung. Welch ein Wurf!

Es sind die 19jährige Katharina und der längst die 50 überschritten habende Hans, ein in der DDR gefeierter Schriftsteller, die sich im Bus begegnen, einander anblicken und ineinander etwas sehen, was beide, ein jeder für sich, so noch nie in einem Menschen gesehen haben. Und so beginnt es und es ist gut. Auch wenn Hans verheiratet ist, einen jugendlichen Sohn hat, etliche Affären hinter sich und vielleicht nicht mehr so viel Zeit vor sich – Gedanken, die einem mit Mitte 50 dann doch gelegentlich kommen und die eine noch nicht 20jährige vielleicht nicht verstehen kann. Und vielleicht ist es ja gerade dies, die Jugend, das Nicht-verstehen-Können, das Gefühl der Jüngeren, die Zeit, die Welt, das ganze Leben und alles darüber hinaus vor sich zu haben, das für Hans unter anderem so verführerisch ist. Und doch, daran bleibt kein Zweifel auf diesen 370 Seiten, ist diese Liebe echt. Ist echt in all ihren Fehlbarkeiten, der Unfairness, die immer mit einem solchen Altersgefälle einhergeht.

In einer manchmal fast spröden Sprache, zurückhaltend, vorsichtig, skrupulös sich den Gefühlen, Ansichten, Meinungen diesen beiden Menschen nähernden Sprache, erzählt Jenny Erpenbeck von der Zeit, die sie miteinander verbringen, davon, wie das Außen, ein Land, das nahezu im Stillstand, in der Reglosigkeit, angekommen scheint, starr, nahezu komplett in den Hintergrund tritt. Und lässt dabei doch auch ein spürbares, lebendiges Bild dieser letzten Jahre eines grauen Landes entstehen, ein Bild das wiedererkennt, der die DDR ein wenig kannte, vor allem die späte DDR. Sie erzählt aber auch davon, wie sich die Wirklichkeit, die politische, gesellschaftliche Realität eben doch immer wieder in den privatesten Bereich vorschiebt, nicht zu ignorieren ist.

Sie erzählt von Hans Träumen, die er mit vielen Intellektuellen seiner Generation geteilt hat – von den Hoffnungen, nach den Schrecken des 3. Reichs und nach der Erkenntnis der Schuld, der fürchterlichen, nicht abtragbaren Schuld, die dieses Volk auf sich geladen hat, etwas Besseres aufzubauen. Sie erzählt von Hans´ Helden – Eisler, Brecht, jenen, die unter Lebensgefahr gegen das Unrechtsregime gekämpft haben und schließlich ein anderes Unrechtsregime, wenn auch nicht vergleichbar dem ersten, errichteten. Hans führt Katharina in die Welt der klassischen Musik ein und findet sie dort, die von Haus aus längst um all das weiß. Bildung, auch davon wird hier berichtet, kann der berühmte Festungsgürtel gegen die Masse in sich selbst sein, wie Canetti es einmal genannt hat. Bildung ist in einer Beziehung wie der zwischen Katharina und Hans und unter den Bedingungen, die ein Staat wie die DDR bietet, zumutet, eine solch wesentliche Möglichkeit der Selbstvergewisserung, aber auch der Individualität. Ob die griechische Mythologie oder Mozarts Requiem – es ist auch ein Festhalten an Tugenden der Bürgerlichkeit und auch ein Privileg Privilegierter, die beide sind, generationenübergreifend.

Und Erpenbeck erzählt von den manchmal so kühnen Träumen die Liebende miteinander verbinden und die sie teilen: Ein eigenes Heim, ein Kind, ein Leben, eine Zukunft. All das auch dann, wenn es den Widrigkeiten der Wirklichkeit diametral entgegensteht. Der manchmal verzweifelte Versuch, den Kairos, den glücklichen Moment, der doch immer nur Augenblick sein kann, ins Unendliche zu strecken. Sie erzählt davon, wie das Gefälle vom Älteren zur Jüngeren in diesen Träumen immer auch eine Hürde, ein Hindernis, darstellt, das zu überwinden Kraft kostet, zu viel davon, möglicherweise.

Und während Hans sich ausbedingt, daß Katharina auf die Bedingungen seines Lebens Rücksicht nimmt, kann er ihr einen einzigen Fehltritt – sie geht für ein Jahr nach Rostock, um ein Praktikum am dortigen Theater zu absolvieren und verbringt eine Nacht mit einem Kollegen – nicht verzeihen. Und wie er daraufhin beginnt, die Beziehung, aber auch den Charakter seiner jungen Geliebten zu dekonstruieren. Und mehr und mehr entpuppt sich da nicht nur ein eitler, ein selbstgerechter und auch zunehmend hässlicher Geist, der seine intellektuelle Überlegenheit nutzt, um die emotionalen Defizite zu übertünchen, die auch er in sich spüren wird. Und seine junge Geliebte, die mit aller Macht an dem festhalten will, was sie definitiv für die Liebe ihres Lebens hält, droht unter seinen Anwürfen, darunter, daß alles, woran sie geglaubt hat in den Jahren dieser Affäre, in Frage gestellt wird, zu zerbrechen. Und dann beginnt Katharina Stück für Stück, sich zu befreien, sich aus der Umklammerung zu befreien, der emotionalen, der seelischen Umklammerung, sie beginnt, das in Frage zu stellen, was Hans ihr auftischt – aufgesprochen auf Kassetten, 60 Minuten, Seite A und Seite B. Reiner Vorwurf, reine Verletzung, kaum Selbsthinterfragung des Älteren, der sich zerstört sieht durch ihren Verrat. Und Verrat, ja, Verrat ist es gewesen. Und er wird sich wiederholen.

Der Herbst 89 wird zum endgültigen Sprengmeister der Beziehung. Denn obwohl sie der Wiedervereinigung höchst skeptisch gegenübersteht, beginnt auch Katharina die Freiheit zu erspüren, während Hans, im Grunde ein Relikt des alten Ostdeutschlands, zurückbleibt und sich genau jenen Unbilden ausgesetzt sieht, die für viele Bürgerrechtler und Intellektuelle so tiefgreifend verletzend waren: Ihre Visionen eines wirklichen sozialistischen Neuanfangs wurden zwischen „Wir sind EIN Volk!“ und der Währungsunion, zwischen 100-DM-Begrüßungsgeld und Malle zerrieben und in den Orkus der Geschichte geschickt.

Man muß das aushalten. Man muß diese Lektüre aushalten, muß aushalten, wie sich die Kräfte verschieben, das Gefälle, das Ungleichgewicht, muß den Drang der einen und die Verletzung des andern aushalten, muß aushalten, wie aus Leuchtendem und Wundervollem etwas Düsteres und Bedrückendes wird. Erpenbeck lässt den Leser nicht leicht davonkommen. Denn gleich ob im Stillstand oder in historisch bewegten Zeiten: Die Liebe und ihre Vergehen, der Schmerz, der mit der Wonne immer schon einhergeht, diese Zwillingspaare tiefster menschlicher Gefühle, sie sind sich gleich. Sind sich immer gleich. Und sind immer neu und immer einzigartig. Immer wieder. Und werden hier mit äußerster Präzision – gedanklich wie sprachlich – seziert.

Es hat schon seine Art und zeugt von der großen Könnerschaft dieser Autorin, wie es ihr gelingt, nahezu bruchlos das individuelle Schicksal dieser beiden Liebenden einzubetten in die große Geschichte und diese, die große Geschichte, dabei weder zu diskreditieren, noch zu einem Popanz aufzublähen. Sie, die Geschichte, ist da, sie geschieht und nimmt ihren Lauf und ihren Einfluß und wird hier einmal durch ein vollkommen anderes Prisma reflektiert – nämlich durch das zweier Menschen, die im Moment eigentlich andere Sorgen und Ängste haben, als die Mauer und deren Öffnung. Das ist erfrischend und es ist wirklich anders, als die bisherigen Reflexionen auf den Herbst 89 und die folgenden Monate. Und vielleicht liegt genau darin, in dieser Engführung, das Geheimnis der wirklich großen Literatur.

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