DIE GRENZEN DER TOLERANZ/MURDER IN AMSTERDAM: THE DEATH OF THEO VAN GOGH AND THE LIMITS OF TOLERANCE

Kann der Westen verstehen, wieso ihm solcher Hass entgegenschlägt?

In Zeiten, in denen der Konservatismus sich schwer tut, eine deutlich umrissene Position einzunehmen, da er sich vereinnahmt sieht von Kräften, die vor nicht allzu langer Zeit eher dem rechtsradikalen oder zumindest rechtsextremen Spektrum zugeordnet worden wären, sucht man – auch als eher links Stehender – fast verzweifelt nach konservativen Stimmen, die man nicht nur ernst nehmen, sondern mit denen man in einen Diskurs treten kann, über Denkgrenzen hinweg. Ian Buruma, niederländisch-britischer Publizist, tätig als Journalist und Historiker, ist vielleicht nicht der klassische Konservative, doch wie die meisten Historiker und historisch Interessierten, ist auch er von einem durchaus konservativen Skeptizismus beseelt, der ihn mit Vorsicht und Behutsamkeit jene Themen betrachten läßt, die ihn umtreiben. Und er ist – seine Herkunft erklärt das wohl genügend – überzeugter Europäer und Abendländer. So sind seine Schriften – zumindest jene, die eher dem Meinungs- und essayistischen Spektrum zuzurechnen sind – durchaus gemäßigt konservative Betrachtungen einer Realität, die auf ganz verschiedenen Ebenen enormen Umwälzungen und Veränderungen unterworfen ist. Buruma, dessen Spezialgebiete eigentlich die japanische Kultur und Geschichte sind, richtet den Blick in zwei seiner drei letzten Werke jedoch auf eine ganz andere Kultur – die des Islam nämlich. Dabei fokussiert er auf den uns ins Bewußtsein drängenden Teil dieser Kultur – den uns bedrohenden nämlich. 

In ihrem Werk OKZIDENTALISMUS: DER WESTEN IN DEN AUGEN SEINER FEINDE analysierten er und sein damaliger Mitautor Avishai Margalit 2004 scharf, in wie weit der Hass auf den Westen dortselbst generiert wird. Sie konstatierten einen Bumerangeffekt aufklärerischen Denkens, das als eine Art Katalysator antiwestlicher Impulse und Reflexe seine eigene Antithese liefert. Und mit der Antithese den Treibstoff antiwestlicher Polemik und Ideologie. Ob man dem nun folgen mag oder hier ebenfalls skeptisch bleibt – neben einer zwar steilen, doch durchaus nachvollziehbaren, weil klar argumentierten These bekommt man auch eine kleine aber durchaus feine, weil klar umrissene Kultur- und Ideengeschichte und einen Abriß des Wanderns und Wandels dieser Idee in den Zeitläuften.

Hier nun, im Folgeband DIE GRENZEN DER TOLERANZ. DER MORD AN THEO VAN GOGH formt und formuliert sich ein Echo der früheren Überlegungen und findet sich als Blaupause des gar nicht mehr kultur- oder ideengeschichtlich erklärbaren Ereignisses der Ermordung eines Menschen. Was eben abstrakte Überlegung war, wird hier nun bitterer, konkreter Ernst.

Als der Regisseur, Publizist und Journalist Theo van Gogh 2004 auf offener Straße von dem Fanatiker Mohammed Bouyeri ermordet wurde, versetzte dies die Niederlande in einen schweren Schockzustand. Eine Gesellschaft, die bis dato in der sicheren Annahme der eigenen Liberalität und der daraus resultierenden Toleranz gelebt hatte, musste nicht nur feststellen, daß diese Toleranz ganz offensichtlich dazu führen konnte, daß in ihrer Mitte Menschen unbemerkt auf vollkommen abwegige Pfade gerieten, sondern sie musste auch Gewahr werden, daß sie bei aller Toleranz zu heftiger, durchaus reaktionärer Abwehr fähig war.

Anders als sein Kollege, Freund und manchmal auch Widersacher Geert Mak, der in seinem Band DER MORD AN THEO VAN GOGH. GESCHICHTE EINER MORALISCHEN PANIK vor allem auf genau diese Entwicklung nach dem Attentat eingeht und noch einmal die Linien nachzeichnet, den Rissen nachspürt, die sich durch die Gesellschaft zogen – politisch, medial, intellektuell – , versucht Buruma, sich der Entwicklung anzunähern, die überhaupt erst zu einem solch schrecklichen Mord führen konnte. Er stellt uns das Umfeld vor, aus dem Theo van Gogh kam, er erklärt noch einmal die genauen historischen, sozialen und politischen Hintergründe, die dazu führten, daß gewisse Schichten der holländischen Gesellschaft sich liberalen Ideen öffneten, warum die niederländische Gesellschaft klassisch liberal in religiösen Fragen ist, wie die 60er Jahre und ihre spezifischen politischen Umwälzungen die moderne Gesellschaft des Landes geprägt haben. Dabei dröselt er auch die für Außenstehende manchmal schwer nachzuvollziehenden Zusammenhänge zwischen rechts- und linkslastigen, dennoch nicht unbedingt in obere und untere Schichten zu unterteilende Szenen aus Künstlern und Intellektuellen auf, die sich durchaus vermischen, die manchmal aber auch gar nicht so einfach zu identifizieren sind.

Beredtes Beispiel und dabei für den Sachverhalt um die Ermordung van Goghs auch nicht ganz unwesentlich, ist die Figur des – ja, was? Rechtspopulisten? Oder einfach nur Populisten und Demagogen? – Politikers Pim Fortuyn, der ebenfalls – 2002 – Opfer eines Attentats wurde. Fortuyn war eine umstrittene Figur, galt der traditionellen Linken als Rechtsausleger und war doch nicht so einfach einzuordnen. Bekennender Homosexueller, Islamkritiker, Kritiker der sogenannten Multikulti-Gesellschaft, trat er für eine radikal offene, demokratische, den Werten der Aufklärung verpflichtete Gesellschaft ein, nahm dabei auch eine deutlich antimonarchistische Haltung ein. Er selber wehrte sich vehement, mit den europäischen Rechtsdemagogen wie Jörg Haider oder Jean-Marie Le Pen in einen Topf geworfen zu werden. Es waren seine Rhetorik, seine Unbotmäßigkeit und die Kompromißlosigkeit, mit denen er vor allem seine Haltung wider den Islam (auch als Kultur) artikulierte, die seine Kritiker auf den Plan riefen. Vergleicht man seine Äußerungen mit jenen, die man heute, in Anbetracht der vielleicht schwersten Flüchtlingskrise in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs, vernehmen muß, muten sie oft eher gemäßigt und vor allem differenziert an. Dennoch bleibt festzuhalten, daß Fortuyn, was das Zusammenleben mit den muslimischen Mitbürgern anging, unversöhnlich blieb und wenig zimperlich war, wenn es um begriffliche oder inhaltliche Auseinandersetzung ging. Nicht nur, aber auch seine Homosexualität machte ihn zu einer Ausnahmefigur, die nicht ohne weiteres in die Phalanx europäischer Rechtsausleger und -demagogen der Jahrtausendwende eingeordnet werden kann.

Von Fortuyn, der hier als eine Art Blaupause für eine Gesellschaft dient, die sich ihrer eigenen Werte und Überzeugungen immer unsicherer wird und darob zusehends intoleranter wird, zieht Buruma eine Linie zu van Gogh und vor allem zu der Frauenrechtlerin, Islamkritikerin und Politikerin Ayaan Hirsi Ali, die für ihre radikalen Angriffe auf den Islam als Kultur und ihre kompromißlos aufklärerische Haltung bekannt geworden ist. Sie war es, die die Idee und das Drehbuch für jenen 12minütigen Film, SUBMISSION (2004), hatte, für den van Gogh schließlich sterben musste. Denn sein Mörder berief sich explizit auf dieses Werk. Man kann über den Film denken, was man will – es werden u.a. nackte, nur leicht verschleierte Frauen gezeigt, auf deren Körper Koranverse projiziert werden – sein Regisseur starb für oder wegen der Ausübung seiner Kunst. Ein ungeheuerlicher Vorgang für westlich geprägte Menschen, die die Auseinandersetzung mit Kunst, Religion oder Philosophie wie selbstverständlich praktizieren und die regelmäßig wiederkehrenden Skandale und Skandälchen, die der Kulturbetrieb zu produzieren versteht, natürlich kennen. Daß in unserer Mitte ein Mensch sich das Recht herausnimmt, einen anderen Menschen wegen dessen künstlerischen oder persönlichen Äußerung das Leben zu nehmen und diesen Vorgang anschließend auch noch als maximal richtige Vorgehensweise hinzustellen, ist für aufgeklärte, abendländische Gesellschaften unerträglich. Ob die von Ali gewünschte Wirkung des Films – die Unterdrückung der Frau durch den Koran und somit durch die Religion selbst (nicht nur die sie auslebende Kultur) darzustellen und zu entlarven – nun erzielt wird oder nicht, ob es sich hierbei um einen gültigen Beitrag zum Kultur- und Religionsdiskurs handelt oder nicht, ob die Beleidigung anderer Religionen das gängige und nutzvollste Mittel der Auseinandersetzung ist oder sein kann – nichts rechtfertigt natürlich das Vorgehen von van Goghs Mörder.

Buruma vermischt die Entwicklungen seiner drei Hauptprotagonisten auf geschickte Weise, der Leser kann folgen und nachvollziehen, aus welchem linkssozialistischen Biotop bei gleichzeitiger upper-class-Erziehung van Gogh stammte, er kann nachvollziehen, wieso Ayaan Hirsi Ali so unversöhnlich ist und sein muß, wie sie es ist und es gelingt Buruma sogar – mit Abstrichen – das Milieu nachzuzeichnen, in dem Mohammed Bouyeri aufwuchs. So entsteht ein packendes Gesellschaftsportrait, die Sollbruchstellen einer säkularen, aufgeklärten Demokratie werden wie von Zauberhand sichtbar und man versteht bei der Lektüre das unglaubliche Dilemma, in dem sich jene befinden, die keinesfalls denen nachgeben wollen, die wirklich der Meinung sind, uns ihr Weltbild und ihre Religion aufzuoktroyieren zu können, aber auch nicht denen das Wort reden möchten, die meinen, mit grobschlächtigen Ideen, vereinfachenden Erklärungen und ansonsten herkömmlichen, teils rassistischen Ressentiments dagegenhalten zu müssen. Denn letztere begreifen nicht, wie sie ersteren in die Falle tappen und exakt den Reflex zeigen, den die Islamisten hervorlocken wollen. Zwar ist dies eine andere Diskussion, doch bedenkt man, daß van Gogh schon früh angefangen hatte, nicht nur Juden übel zu beschimpfen, weil er ihnen unterstellte, eine Art Holocaust-Symptom auszubilden (was Wunder), sondern Moslems oft mit herabwürdigen Schimpfkanonaden belegte („Ziegenficker“), wenn man ebenso bedenkt, daß Ali in einer der zahlreichen Auseinandersetzungen um ihre radikale Haltung hinsichtlich des Islam äußerte, Beleidigung sei ein Grundrecht des Westens („I´m here to offend you“) – und damit zweifelsfrei recht hat – , dann streift Burumas Buch doch zweifellos auch diese Thematik. Zumal er keinen Hehl daraus macht, daß er sowohl van Goghs kunstvolle Schimpftiraden, als auch Alis oft als arrogant und herablassend empfundene Art, ihre Meinung zu verbreiten, durchaus problematisch findet. Ob gewollt oder nicht, dem Leser geht durchaus der Gedanke durch den Kopf, ob nicht hier schon die „Grenzen der Toleranz“ erreicht sind?

Es wurde bereits erwähnt, daß Burumas Annäherung an den lebensweltlichen Hintergrund von Bouyeri etwas schwächer ausfällt. Sicherlich hat das damit zu tun, daß der Autor die anderen Beteiligten – Fortuyn, Ali und auch van Gogh, aber auch etliche andere Geistesgrößen und Intellektuelle, Künstler und Kulturschaffende – persönlich schon lange vor den Ereignissen von 2004 kannte, während ihm – das kann man nach der Lektüre des Buches so wohl sagen – Bouyeris Welt völlig fremd bleibt. Und wie sollte es auch anders sein? So referiert der Autor die bekannten und weniger bekannten Zahlen und Fakten über Einwanderer, deren Lebensumstände und der Entwicklung der Niederlande zu einem Einwandererland, doch spürt man deutlich, daß Buruma fremdelt, wenn er zu erklären versucht, wieso ein zwar introvertierter, doch an sich den westlichen Werten und auch den in westlichen Gesellschaften verfügbaren Luxusgütern nicht abgeneigter junger Mann sich in einen radikalislamischen, zum Mord bereiten Fanatiker entwickelt. Damit steht er natürlich in einer endlosen Reihe von westlichen Intellektuellen, die sich bemüht haben, dem Phänomen nachzuspüren – John Updike ebenso wie Hans Magnus Enzensberger seien stellvertretend genannt – und gescheitert sind; scheitern MUSSTEN, möchte man sagen, denn genau in dieser absoluten Differenz, dieser Kluft, die wir gedanklich wohl nicht zu überwinden in der Lage sind, liegt doch die Antwort auf unsere Fragen. Diese absolute Differenz, die uns vom Anderen, vom Fremden trennt, ist das, was wir aushalten und bedenken müssen, ohne jemals damit rechnen zu können, im westlich-aufgeklärten Sinne zu begreifen. Eine Aufgabe, so gewaltig, weil nicht vorstellbar, daß die meisten direkt aufgeben und lieber ihren Abwehrreflexen nachgeben. Nicht, daß man die nicht haben dürfte – noch so eine Differenzierung, die manchen schwerfällt – , die Frage ist aber, wie man damit umgeht. Wie sehr man sich dem eigenen Fremden in sich überläßt und bereit ist, seinen Impulsen zu folgen. Oder ob man bereit ist, sie zu bändigen und zu hinterfragen.

Geert Mak – der eine gemäßigte Sozialdemokratie und somit (und als Historiker) selbst eine gewisse konservative Haltung vertritt – ist in letzterem Punkt etwas klarer und vielleicht auch ehrlicher, als es Buruma ist. Dessen Text franst zum Ende hin aus, er scheint zu keiner Conclusio, keinem Schluß zu kommen und sich auch zu keiner klaren Haltung durchringen zu können. Nun ist Buruma natürlich selbst wesentlicher Teil einer westlichen Elite, die ganz im aufgeklärten Sinne der Moderne extrem weit entfernt ist von diesem spezifischen Fremden, das wir momentan als Bedrohung empfinden. Und dieses Bedrohliche, das sich-bedroht-fühlen durch etwas Fremdes und Anderes, das spürt man hier als unterschwellige Ängste, Befürchtungen, Stimmungen. Und Buruma wirkt ebenso ratlos, wie wir es alle sind. Wo Mak das Fremde zwar benennt, sich ob seines Unverständnisses jedoch auf das besinnt, worüber er eine Aussage machen kann: den eigenen kulturellen Background, drückt Burumas Text dessen Befremden und eben das Unverständnis aus, ohne dabei jedoch einen Mehrwert zu schaffen. Der Ort, an dem er sich befindet, ist dem Leser nur allzu bekannt. Mak weiß uns zumindest auf uns selbst zurückzuwerfen und erinnert uns daran, daß wir uns nicht selbst verlieren dürfen bei einem Kampf, der uns aufgezwungen wird und der unsere ganze abendländisch-rationale Kenntnis und Einsicht erfordern wird. Man mag Maks Erschrecken über den Verlust liberalen Denkens für naiv halten, zumindest gelingt es ihm, den Leser auf sich selbst zurück zu führen.

An diesem Punkt krankt Burumas ansonsten sehr erhellender Text. Bücher wie dieses sind in gewisser Weise Gebrauchsprosa, da sie in kurzen Intervallen auf Geschehnisse und Ereignisse und Entwicklungen reagieren, die wirklich zu erfassen manchmal Jahre, gar Jahrzehnte braucht. Und so drücken sie oft weniger eine wirklich durchdachte intellektuelle Position aus, als vielmehr eine Verortung des Diskurses an seiner jeweiligen Stelle. Ob man Geert Maks Band zur Hand nimmt oder dieses Werk von Ian Buruma – man hat jeweils einen wesentlichen Diskursbeitrag, dessen Gedanken man sich nicht verschließen, denen man jedoch – wie keinem Beteiligten dieser Debatten – kritiklos folgen sollte. Die Debatte jedoch, die Debatte ist aktueller denn je und wird die Gesellschaften Westeuropas noch lange beschäftigen. Und es wird bitter nötig sein, daß sich gerade gemäßigte konservative Stimmen in diese Debatten einmischen und das Feld nicht jenen überlassen, die für sich in Anspruch nehmen, konservativ zu sein, ohne je begriffen zu haben, was das eigentlich bedeutet. Die Schreihälse und Vereinfacher, die Demagogen und angeblichen Freunde der Meinungsfreiheit, die aber die Meinung anderer nur schwer ertragen können, die übernehmen zusehends die Deutungshoheit über den Begriff „konservativ“. Das nämlich muß man auch begreifen: Wir haben es hier nicht nur mit einem interkulturellen Austausch oder gar einem Streit zu tun, sondern durchaus auch mit einem intrakulturellen. Der Islam ist lediglich der Anlaß, der dazu dient, in den westlichen Gesellschaften einen grundsätzlichen Dissens aufzugreifen, zu thematisieren und auszutragen. Die Kluft, die eigentliche Kluft, verläuft nicht zwischen dem Islam und dem Christentum (oder generell den „Ungläubigen“), die eigentliche Kluft verläuft mitten durch eine Gesellschaft, die ganz offensichtlich dabei ist, ihre Basis, den Grund, auf dem sie steht, zu verlieren. Das ist die EIGENTLICHE Gefahr.

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