OKZIDENTALISMUS. DER WESTEN IN DEN AUGEN SEINER FEINDE

Woher kommt der ganze Hass?

Der britische Journalist Ian Buruma und der israelische Philosoph Avishai Margalit widmen sich im vorliegenden Band der Frage, wie der Orient auf den Okzident blickt und weshalb dieser Blick häufig so voller Hass und Ablehnung ist. Wobei „Orient“ begrifflich zu eng gefasst ist, ist dieser heute doch lediglich der stärkste Vertreter des Okzidentalismus. Die Autoren gehen die Frage aber unter anderem historisch an und stellen fest, daß der Blick auf den Westen schon seit geraumer Zeit ein abschätziger, oft verachtender ist, egal ob die Perspektive die russische oder beispielweise die japanische umfasst. Denn der Westen stand – aus den verschiedensten Gründen und unter den verschiedensten religiösen und politischen Einflüssen – schon lange im Fokus außereuropäischer Mächte. Allerdings ist dies keine allzu neue oder bahnbrechende Erkenntnis. Was also Burumas und Margalits Band und vor allem ihre Schlußfolgerungen so interessant macht, ist die Conclusio, daß die meisten Angriffe gegen den Westen, der verächtliche Blick auf seine Errungenschaften vor allem kultureller/sozialer/politischer Natur und auch die Bewertung westlicher Zivilisation und Zivilgesellschaften als „schwach“ oder „schwächlich“, ebenfalls westlichem Denken und westlicher Selbstreflektion entspringen. Der ‚Okzidentalismus‘ als hassende Reaktion auf den Westen ist in weiten Teilen ebenso ein westliches Exportgut, wie es Imperialismus, Kolonialisierung, die Demokratie und die Menschenrechte, technische und technologische Neurungen und – heute wesentlich! – auch die Produkte der Unterhaltungsindustrie sind. Exportgut? Exportschlager.

‚Okzidentalismus‘ bedeutet in diesem Zusammenhang also Hass auf den Westen, allerdings nicht aus vornehmlich religiösen oder politischen, nicht einmal aus historischen Gründen, sondern vor allem aus kulturellen: Es ist die Ablehnung der Moderne als Folge der Aufklärung und der daraus resultierenden Säkularisierung, als Wurzel und Hort des Relativismus, als Zeitalter der Beschleunigung, als Ausdruck der sich immer weiter verästelnden Differenzierung in allen Bereichen des Lebens – unter anderem dem der Geschlechterbeziehungen. Der Angriff auf das World Trade Center am 9. September 2001 war so gesehen nicht nur ein Angriff auf Menschen, ein Angriff auf ein wesentliches Symbol der ökonomischer Potenz des Westens, sondern auch auf die große „Hure Babylon“, auf jenen urbanen Moloch, der die Moderne symbolisiert, wie kaum etwas anderes: die Stadt.

So beginnen die Autoren ihren fünf Kapitel und eine Einleitung umfassenden Essay mit genau diesem Moloch der Moderne und einem Blick auf die Entwicklung der Stadt als kulturelles Item und Icon. Anhand einer schnell abgerissenen Geschichte der Stadt und vor allem ihrer religiösen Bezüge (Babylon, Sodom), führen die Autoren den Leser vergleichsweise schnell zum Kern ihrer These: Es waren die großen reaktionären Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, die den urbanen Geist ablehnten, dagegen die heimatliche Scholle, die ländliche Idylle, den Heimatboden als Basis eines gesunden Volkes etc. priesen. Wobei es – im Falle der Nationalsozialisten – eine seltsame Melange aus dieser Blut & Boden-Ideologie tiefer Heimatverbundenheit einerseits und einer sozialen Fortschrittsgläubigkeit andererseits war, die möglicherweise unter anderem die spezielle Anziehungskraft dessen ausmachte, was Hitler und Konsorten gern „die Bewegung“ nannten. Und diese Anziehungskraft wirkte weit über das Deutsche Reich oder gar Europa hinaus. Hier geben die Autoren ein einleuchtendes Beispiel für den exportierten Okzidentalismus, wenn sie beschreiben, wie die völkischen und pangermanischen Ideen der Nationalsozialisten gerade bei Arabern und im fernen Osten in Japan auf fruchtbaren Boden fielen und dort oft intellektuell tradierte Formen und Ansichten verdrängten. Dabei schlagen Buruma und Margalit auch den Zirkel zum europäischen, aber auch – man staune – japanischen Antisemitismus, der sich auch (Betonung: AUCH) aus einem antimodernen Reflex ergibt: Viele Menschen, auch Intellektuelle, fühlten sich durch die Industrialisierung, die damit einhergehende Ausbreitung urbaner Strukturen und die zunehmende Moderne/Modernisierung zunehmend überfordert und, was vielleicht wesentlicher ist in Bezug auf den Okzidentalismus, vor allem entwurzelt. In Europa – aber dieses Klischee wurde ebenfalls erfolgreich exportiert – stehen Juden symbolhaft für die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Ängsten. Da sie ja seit jeher entwurzelt in der Diaspora leben, sind sie an dieses Leben angeblich viel besser gewöhnt, können sich innerhalb der neuen Strukturen und Systeme also besser zurechtfinden und selbstredend ist in solcher Betrachtung auch die Frage nicht weit, ob sie nicht sowieso ursächlich für all die Wandlungen und neuen Ansprüche sind, die sich den Zweifelnden aufdrängen und das Leben so unendlich kompliziert erscheinen lassen.

Doch auch von diesen eher spezifischen Betrachtungen abgesehen, steht „die Stadt“ für Vieles, was Reaktionäre in Europa wie von modernen Entwicklungen Überrollte weltweit eher ablehnen: Sexuelle Indifferenz, liberale Lebensentwürfe und relativistische Weltanschauungen. Die Stadt ist das Labor der Moderne, somit aber eben auch das Symbol dessen, was an der Moderne verächtlich sei.

Exemplarisch kommt hier gut zum Ausdruck, welcher kulturellen Spur die Autoren da folgen. Vieles überzeugt und wirft hoch interessante Reflexionen auf uns in unserer Zeit zurück. Sind nicht auch wir Entwurzelte in einer Welt, die sich verändert, radikal, global, in einer nie gekannten Geschwindigkeit auf eine Zukunft zu, die vollkommen unüberschaubar, gar unberechenbar erscheint? Ist „unsere“, also die Industrialisierung in unserer Zeit, nicht irgendwie die Digitalisierung? Sind deren Auswirkungen nicht offensichtlich mindestens so elementar, wie es die der Industrialisierung und Technisierung seit Mitte des 18. Jahrhunderts waren? Und stimmt es nicht, daß gerade die deutsche Geschichte auch begleitet ist von einem steten Antireflex? Es war die deutsche Romantik, die explizit Stellung gegen die Ideen der Aufklärung und des Idealismus bezogen hat, die sich politisch sogar reaktionär geben konnte. Die überhaupt eine politische Agenda entwickelte. Es ist, neben anderen, auch dieser Quell deutscher Geistesgeschichte, der durch das 19. Jahrhundert hindurch zu einem Strom teils antiaufklärerischen, teils reaktionär-nationalistischen Denkens wurde und schließlich in Untergangsphantasien wie denen eines Oswald Spengler mündete[1]. Man kann der Ausgangsthese des Textes gerade in diesen Ausführungen sehr gut folgen.

Ebenso greift sie in einem langen und aufschlußreichen Kapitel über die Auseinandersetzung jener Gesellschaften mit der Moderne, repräsentiert im Okzident, die selber nah dran sind und seiner unmittelbaren Einflußsphäre unterliegen. Rußland ist ein solches Beispiel. Anhand dieses Falls läßt sich gut nachvollziehen, wie der Okzidentalismus auch einem ‚double bind‘ entsprechen kann. Eine Gesellschaft wie die russische unter Zar Peter dem Großen – rückständig und in Gefahr von den weit enteilten Gesellschaften Westeuropas abgehängt zu werden – richtete sich zwangsläufig danach aus, wo sie die Entwicklungen abschöpfen und sich so selber anpassen konnte. Allerdings wurde sie auch ausgerichtet. Gerade Peter wollte westliche Neuerungen technischer Art schnell einführen, nahm zugleich aber wenige der fortschrittlichen Ideen mit, welche Ende des 17. Jahrhunderts in humanistischen Hochburgen entstanden. Eine Gegenbewegung, die sich müht, das Eigene, das kulturell Selbstständige nicht nur zu bewahren, sondern regelrecht zu betonen („die russische Seele“), ja, im klassischen Sinne eine Reaktion, als deren Zeugen und Vertreter die Autoren unter anderem Dostojewski aufrufen, wirkt da fast zwangsläufig. Buruma und Margalit verorten die Unterschiede und Abgrenzungsprozesse gerade hier auch in den Differenzen des römisch-katholisch geprägten Christentums zum orthodoxen Christentum. Sei das eine eine Form des Glaubens (römisch-katholisch), gehe das andere komplett im Ritus auf (orthodox).

Man muß dem nicht zustimmen, doch ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Thesen einleuchtend erscheinen. Und manchmal auch richtiggehend treffen. Die Erkenntnis, daß wir mit all unseren (ach so atemberaubenden) technischen Errungenschaften auch eine Menge Probleme in die Welt exportiert haben, ist so neu nicht. Interessant ist allerdings die Idee, daß diese Probleme eben nicht nur materieller Natur sind und also Ökologisches, Soziales oder Ökonomisches betreffen. Wir haben bereits in unserer ersten Globalisierungswelle, die ca. 1492 einsetzte (um eine Idee des werten Peter Sloterdijk aufzugreifen), eben nicht nur die Milch der frommen Denkungsart in bestem Wissen und Gewissen mitgebracht, sondern auch schon das Rezept, sie in gärend´ Drachengift zu wandeln. Denn das subjektgewordene Individuum trägt in sich nicht nur das Rückgrat des aufrechten Gangs, sondern eben auch den schwarzen Rücken des lustvollen Untergangs. Wir fallen auf uns selbst zurück. In einer weiten – letztlich metaphysischen – Zirkelbewegung kommt die von uns ausgehende Geschichte wieder bei uns an. Gewandelt. Sie drückt sich in einem Hass auf unsere Lebensart aus, auf den Individualismus, die Freiheit, welche sich oft nur in Freizügigkeit auszudrücken versteht, auf eine Welt, die vollkommen materialistisch geworden das Diesseits über das Jenseits stellt, welcher selbst unserem Kulturkreis entstammt. Der Zweifel, die offene Kritik, das Infrage-Stellen alles Seienden ist eben auch eine zentrale Folge der Aufklärung. Daß wir so in Frage gestellt werden, wie wir dies momentan erleben, ist dem Schluß des Buches nach eben gerade eine Folge unseres eigenen exportierten Kulturpessimismus´.

Geht der Text jedoch auf den Okzidentalismus islami(stisch)er Prägung ein und stößt damit vermeintlich ins Herz des Religiösen vor, beschleicht den Rezipienten ein mulmiges Gefühl. Denn hier scheint man wirklich eine grundlegend differente Vorstellung vom Zugriff auf die Welt zu haben. Den vielbeschworenen ‚clash of the cultures‘ zwischen säkularisierten, vermeintlich modernen und auch im Alltag religiös geprägten Gesellschaften und ihren jeweils entsprechenden Gesetzen scheint es ja wahrlich zu geben, ob man das wahr haben will oder nicht, ob es einem gefällt oder nicht. Eine Religion, die das Gebot, sich kein Bildnis zu machen, nach wie vor in Ehren hält, in der ihr Gott dadurch aber auch ebenso entfernt wie allgegenwärtig ist, nie gebannt oder entrückt, wird den Individualisierungsprozeß, den eine Gesellschaft durchläuft, deren Gott bereits personalisiert ist, niemals tolerieren können. Das Christentum bleibt in seinem Symbolismus materiell. Der Islam ist seinem Wesen nach eine immaterielle Religion. An dieser Stelle klafft wirklich mal ein ernsthafter Kulturunterschied, der, brächte er nicht solch tödliche Folgen (des Fanatismus) mit sich, einer der bedenkenswertesten und interessantesten Brüche im Verhältnis der christlich und der islamisch geprägten Kultur wäre. Man wagt es kaum auszusprechen.

An diesem Punkt aber verfängt die These vom Okzidentalismus als des Westens reflektierte Ablehnung seiner selbst eben nicht mehr. Zumindest nicht mehr überzeugend. Es schließt sich hier auch ein zweiter Kritikpunkt an, der in gewisser Weise den Metatext, den dieser Band darstellt, noch einmal hinterfragt: Ist der Ausgangspunkt der zugrundeliegenden Überlegung nicht an sich schon wieder eurozentristisch? Ist es nicht eine neue, perfide Art des Kulturimperialismus, wenn wir nun anfangen, die an uns geübte Kritik – um den Begriff ‚Okzidentalismus‘ an diesem Punkt so weit zu fassen, wie irgend möglich und nicht nur an jene zu koppeln, die unsere Lebensweise, unsere liberalen, offenen Gesellschaften direkt angreifen und vernichten wollen – ebenfalls für uns zu vereinnahmen, sie als ein Produkt unseres Denkens, unserer Reflektion zu begreifen?

Ian Buruma und Avishai Margalit ist mit diesem schmalen Essayband ein höchst bedenkenswerter Beitrag zur Diskussion um die Frage gelungen, warum wir auf solch heftigen Widerstand, auf als so echt empfundenen Hass weltweit stoßen. Es gibt eine Menge Leute, die sich sicher sind, die Antworten schon lange gefunden zu haben und die meinen, die richtigen Handlungsschritte zu kennen. Einmal abgesehen von den grundsätzlichen Fragen danach, wie wir unsere Werte und die Errungenschaften unserer Zivilisation schützen und weiter entwickeln wollen, sollten wir uns vor aber allem erinnern, daß es immer eine Tugend gewesen ist, Denkprozesse niemals als abgeschlossen zu betrachten. So sollte also auch die manchmal als mühselig empfundene Suche nach Antworten auch im Detail nicht diskriminiert oder abschätzig behandelt werden. Es sind Gedanken wie die hier formulierten, die jene Umwege gehen durch holpriges Gelände, die uns auf wirklich neue, wesentliche Pfade der Erkenntnis führen.
[1]Es führt an dieser Stelle zu weit, doch liegen gerade den spezifischen deutschen Theoriegebirgen oft strukturell antimaterialistische Ideen zugrunde. Sei es das Heroisch-Tragische, sei es das Gefühlvolle, die Seele Erhebende, das ja auch und gerade in der deutschen Romantik und von ihren Nachfolgern und Epigonen wieder und wieder besungen wird. Vielleicht ist darin die Basis zu sehen, daß diese Ideen attraktiv auf Gesellschaften, Kulturen und Religionen wirkten, die selber – wie der Islam beispielsweise – immateriell, sogar anti-materiell ausgelegt sind. Vielleicht spiegelt sich hier mehr ineinander, als mancher gern wahrhaben möchte.

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