DER DUNKLE FLUSS/THE FISHERMEN

Das grandiose Debut eines jungen afrikanischen Autoren

Welch ein Werk! Was für eine Kraft! Welch mächtige Sprache!

Chigozie Obioma legt mit DER DUNKLE FLUSS (THE FISHERMEN/2015; Dt. 2015) ein Debut vor, wie es nur wenige gibt, gegeben hat oder geben wird. Ein tiefgreifendes Werk, das als konkrete Geschichte – voller Spannung, Dramatik und Tragik – ebenso funktioniert, als auch als Allegorie auf ein Land, einen Kontinent vielleicht, der seit 500 Jahren ausgenutzt und ausgebeutet wird und in dieser langen Zeitspanne möglicherweise sich selbst verloren gegangen ist.

Obioma erzählt die Geschichte einer Zerrüttung. Eine Familie wird zerrissen zwischen den elterlichen Ansprüchen, dem alten Glauben, vielleicht Aberglauben, zwischen pubertärer Auflehnung, falsch verstandener Männlichkeit und den Ansprüchen, die man glaubt erfüllen zu müssen auf dem Weg in das Land des Erwachsenseins. Die Brüder Ikenna, Boje, Obembe und der Ich-Erzähler Benjamin – zwei jüngere Geschwister spielen nur eine nachgeordnete Rolle – stromern durch die Siedlung am Rande der nigerianischen Stadt Akure. Es sind die mittleren 90er Jahre und ihr Vater wurde soeben in den nördlichen Teil des Landes versetzt, wo er als Angestellter der Zentralbank Nigerias einen wichtigen Posten bekleiden soll. Da der Norden gefährlich ist, soll die Familie im Süden bleiben. So folgen die drei jüngeren Brüder dem fünfzehnjährigen Ikenna. Sie gehen hinunter zum Fluß und sehen sich als Fischer. Doch ist dies strengstens verboten, nicht zuletzt, weil es sich nicht geziemt. Denn der Vater – ein strenger, durchaus auch zur Gewalt neigender Patriarch – hat längst beschlossen, welche Berufe seine Söhne erlernen sollen. Für einen jeden hat er eine Laufbahn als „Stütze der Gesellschaft“ vorgesehen – ob als Richter, Mediziner oder Professor an einer führenden Universität. Die Söhne – die Familie stammt vom Stamm der Yoruba ab, ist allerdings christlichen Glaubens und durch den Vater sehr westlich orientiert – haben den Dünkel des Vaters übernommen, sie halten sich selbst durchaus für etwas Besseres und lassen dies ihre Freunde, Mitmenschen und teils auch die eigene Familie spüren.

Vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht wird die Familie, als ein stadtbekannter Irrer, der auf der Straße lebt, sich von Abfällen ernährt, zu allerlei schändlichen Taten neigt (darunter Nekrophilie) den vier Brüdern eine fürchterliche Prophezeiung macht: Ikenna werde durch die Hand eines seiner Brüder sterben. In einem roten Fluß werde er treiben, während das Leben aus ihm hinausfließt. Diese Weissagung hat einen unmittelbaren Effekt auf Ikenna, der sie glaubt und beginnt, sich vom Rest der Familie zu separieren und vor allem den ihm nächststehenden Bruder, Boya, verdächtigt, ihn bald zu töten. Sein Verhalten verstört und verunsichert nicht nur Boya und Obembe zutiefst, sondern auch den Ich-Erzähler Benjamin, der die gesamte Geschichte aus der Rückschau von zwanzig Jahren, allerdings aus dem Blickwinkel eines damals Neunjährigen, berichtet. Und einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gemäß, geht der Familie ab nun nahezu alles schief, bis es zu wirklich dramatischen Entwicklungen kommt, die schließlich in einer Tragödie münden.

Das funktioniert in seiner fast alttestamentarischen Wucht als Familiengeschichte, es ist spannend, es ist fesselnd und es gibt tiefe Einblicke in ein modernes Nigeria (Afrika), das zwischen westlichen Versprechungen (man bedenke den Einfluß, den westliche Konzerne wie BP oder Shell in den vergangenen Dekaden auf die nigerianische Politik genommen haben, dabei auch nicht davor zurückschreckend, Bürgerkrieg und staatliche Unsicherheit zu befeuern) und einer immer noch virulenten eigenen Geschichte und Tradition nahezu zerrieben wird. Es funktioniert aber auch als ein Meta-Text über die afrikanische Geschichte als Ganzes. Denn immer wieder verdeutlicht Obioma anhand kleiner Momente im Text das Spannungsfeld zwischen diesen Polen. Die Familie besucht regelmäßig die Kirche – eine Regel, die Ikenna, möglicherweise in pubertärem Aufruhr, nicht weiter befolgen will – doch weiß sich die Mutter, überfordert mit insgesamt sechs Kindern in so unterschiedlichen Altersstufen, nicht anders zu helfen als immer wieder zu traditionellen Segenssprüchen und Zauberformeln zu greifen, um die bösen Geister zu bannen, die sich ihrer Familie zu bemächtigen drohen. Oder aber sie brüllt in ihrer Verzweiflung und Überforderung die Brüder und auch die kleineren Geschwister in Grund und Boden. Der Vater beharrt auf westlicher Bildung und lehnt jedwede Form von Aberglauben ab, will die Kinder dennoch im Sinne des christlichen Glaubens erzogen wissen. Der Westen – Großbritannien, die USA oder Kanada, wohin ein Freund des Vaters die älteren Jungs mitnehmen will – ist und bleibt hier Sehnsuchtsziel und Sehnsuchtsort. Und Ikenna lehnt zwar die offizielle christliche Kirche ab, da er sich als „Atheist“ und Wissenschaftler bezeichnet – Ersteres wohl eher dem bereits erwähnten pubertärem Abgrenzungswillen geschuldet – , zugleich jedoch versetzt ihn die Prophezeiung des Irren in Angst und Schrecken, wodurch aus einer Weissagung zusehends ein Fluch wird.

Zwischen – importierten – westlichen Werten und Wertmaßstäben und teils archaischen Traditionen – oder dem, was ein Jugendlicher dafür halten mag – wird diese Familie zerrieben, wird aber auch ein ganzer Kontinent zerrieben. Obioma verdeutlicht die Gewalt, die in diese Gesellschaft einsickert, die aber auch aus ihr hervorgeht. Sei es die Gewalt, die in der Familie herrscht, ausgehend vom Vater und seinen strengen Strafen, die durch einen Rohrstock vollzogen werden, sei es die Gewalt, derer die Menschen hier immer wieder ansichtig werden – in einem Stadtteil, den die vier Brüder durchstreifen, liegt tagelang eine Leiche auf der Straße, da der Sanitätsdienst sich nicht traut oder nicht bequemt, in das betreffende Viertel zu fahren; bei einem seiner Besuche aus dem Norden, wird der Vater beiläufig von seiner Gattin unterrichtet, daß ein Lynchmob einen Mann an einen Baum gefesselt und verbrannt habe; immer wieder wird an kleinen und größeren Details und Anekdoten Gewalt thematisiert, mal physische, mal psychische – , das Nigeria, wie Obioma es beschreibt, ist eine Gesellschaft, die aus sich selbst heraus schon instabil ist und immer wieder in übertragene Stammeskämpfe ausbricht, ist aber auch ein Staat, der ununterbrochen unter Spannung steht, auch durch äußere Einflüsse.

Es lässt den Leser wahrlich erschauern, wie hier ein vergleichsweise junger Autor – Obioma wurde 1986 geboren – einen solch gewaltigen Stoff handhabt, bewältigt, anordnet und vor seinem Publikum ausbreitet. Das ist geschult an den ganz Großen, es erinnert momentweise an William Faulkner, dem es ebenfalls gelang, aus den Spezifika seines imaginären Yoknapatawpha County Grundsätzliches über den Menschen und die Conditio Humana zu destillieren und auszusagen. Obioma gelingt es, dem Leser einen spannenden Stoff, eine packende und tragische Familiengeschichte zu präsentieren, und zugleich eine sehr klare und allgemeingültige Aussage über sein Heimatland – Nigeria – und darüber hinaus, exemplarisch, etwas über die Geschichte, die Verflechtungen und auch die Abhängigkeiten – ob politischer, ökonomischer, kultureller oder auch psychischer Natur – eines gesamten, geschundenen Kontinents zu treffen. So muß, so sollte große Literatur, Weltliteratur, sein, so sollte sie ihre Leser einfangen, abholen, berühren und überzeugen. Das hier ist äußerst überzeugend. Ein zukünftiger Klassiker, wie es Maxim Biller laut Klappentext bereits erkannt haben will. Ganz große Literatur, keine Seite zu wenig, keine Seite zu viel. Brillant.

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