PEARL

Der mehr als würdige Nachfolger zu X

1918, der große Krieg in Europa ist beendet, die Spanische Grippe wütet weltweit.

Die junge Pearl (Mia Goth) lebt auf einer Farm, irgendwo in der amerikanischen Provinz. Ihr Vater (Matthew Sunderland) ist nach einer Infektion mit der Grippe gelähmt und an einen Rollstuhl gefesselt; die deutschstämmige Mutter Ruth (Tandi Wright), streng religiös und voller moralischer Ansprüche und Vorstellungen, bemüht sich, mit Pearls Hilfe den Hof weiter zu bewirtschaften.

Pearl ist verheiratet mit Howard (Alistair Sewell), der im Krieg ist und auf dessen Rückkehr sie in der Annahme wartet, dass mit ihm im Haus das Zusammenleben mit ihren Eltern einfacher werde. Zudem erhofft sie sich, dass Howard den Farmbetrieb wieder auf Vordermann bringen könnte.

Pearl wird von ihrer Mutter immer wieder dazu verpflichtet, sich um den schwer kranken Vater zu kümmern. Dem kommt die Tochter allerdings nur in ausgesprochen bizarrer Form nach. So lässt sie ihn im Badezimmer an den ausufernden Badesessions teilnehmen, die sie mehrmals die Woche zu halten pflegt. Dabei spricht sie mit ihm, streichelt ihn gelegentlich und fragt sich – und ihn – immer mal wieder, ob „da drin“, also in seinem aus ihrer Sicht ungebräuchlichen Körper, eigentlich noch jemand existiert?

Pearl träumt davon, einmal eine Tänzerin in der sogenannten Chorus Line zu werden – also als Revue-Girl aufzutreten, gern in einer Show, besser noch beim Film. Pearl nutzt jede Gelegenheit, um in der nahegelegenen Stadt ins Kino zu gehen. Ihre Mutter missbilligt diese Kinobesuche, regelmäßig lässt sie ihre Tochter ihre Verachtung für deren Vorlieben spüren. Pearl wiederum rächt sich gelegentlich stellvertretend an den Tieren der Farm. So spießt sie eine Gans auf, die sie ärgert, und verfüttert sie an einen Alligator, der hinter dem Farmhaus in einem Tümpel lebt.

Pearl wird immer wieder von Visionen heimgesucht. Mal sieht sie ihren Ehemann Howard durch das Hoftor kommen, freut sich einerseits, stellt sich andererseits aber auch vor, wie eine Mine ihn zerfetzt. Es sind widersprüchliche Gefühle, denn Howard könnte ihr nicht nur behilflich sein, sondern ihren Träumen auch im Wege stehen. Zugleich träumt sie sich in teils groteske Situationen hinein. Auf den Wegen von der Farm in die Stadt und zurück kommt sie immer wieder an Feldern vorbei, auf denen Vogelscheuchen stehen. Pearl führt hier einen Tanz auf, welchen sie vollendet, indem die den Strohmann von seinem Gestell löst und mit ihm durch den Mais fegt.

Im Kino erregt Pearl die Aufmerksamkeit des Filmvorführers (David Corenswet). Der macht ihr schöne Augen und lässt sie die Filme aus seiner Kammer sehen. Eines Abends, die beiden sind allein im Kino, zeigt er Pearl einen europäischen Avantgarde-Film, der offensichtlich pornographischen Inhalts ist. Wie Pearl von Hollywood träumt, so träumt der Filmvorführer von Europa, wo er gern hinreisen und als Künstler reüssieren würde. Gern, so raunt er Pearl zu, würde er Filme wie den gezeigten auch mit ihr drehen.

Pearl und ihre Familie werden gelegentlich von Pearls Schwägerin Mitsy (Emma Jenkins-Purro) und ihrer Schwiegermutter (Amelia Reid) besucht. Ruth lehnt diese Besuche, bei denen Howards Familie auch immer etwas zu essen mitbringt, ab. Regelmäßig lässt sie das Essen, welches für sie und die Familie gedacht ist, verderben. Ruth will kein Mitleid.

Durch Mitsy erfährt Pearl von einem Vortanzwettbewerb. Auch Mitsy würde gern groß rauskommen und der Provinz entfliehen. Ruth will Pearl die Teilnahme am liebsten verbieten.

Während eines Abendessens eskaliert der Streit zwischen Mutter und Tochter. Bei einer Handgreiflichkeit gerät Ruths Kleid in Flammen, um das Feuer zu löschen, übergießt Pearl sie mit Wasser, stößt die schwer verletzte Frau dann aber die Kellertreppe hinab.

Danach flieht Pearl von der Farm und fährt mit dem Rad in die Stadt, wo sie die Nacht mit dem Filmvorführer verbringt. Anderntags fährt er Pearl zurück auf die Farm. Das Vortanzen steht an, sie muss sich vorbereiten.

Auf der Farm trifft der Filmvorführer auf Pearls Vater. Pearl selbst benimmt sich immer erratischer. Langsam dämmert dem Vorführer, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Er will zurück in die Stadt fahren, wird von Pearl aber mit einer Mistgabel getötet. Anschließend tötet Pearl auch Ruth, die immer noch lebend im Keller liegt, dann verabschiedet sie sich von ihrem Vater und erstickt ihn.

Beim Vortanzen in einer Scheune legt Pearl eine ebenso ausgefeilte wie makabre Performance hin, bei der sie beweist, dass sie durchaus zur Tänzerin taugt. Doch schon während ihres Auftritts wird sie erneut von Visionen überfallen, in denen die Jurymitglieder durch ihre Mordopfer ersetzt werden. Als ihr schließlich mitgeteilt wird, dass sie zwar gut tanze, man jedoch „etwas Blonderes“ suche, erleidet Pearl einen Nervenzusammenbruch.

Zurück auf der Farm besucht Mitsy ihre Schwägerin. Mitsy ist aufgefallen, dass das Essen, welches sie und ihre Mutter Tage zuvor gebracht haben, auf der Veranda vergammelt. Nun sitzen die beiden am Tisch und Mitsy fordert Pearl auf, ihr alles zu erzählen, was ihr auf der Seele brenne, denn dazu seien Freundinnen doch da.

Also kommt Pearl der Aufforderung nach. Sie berichtet davon, wie unglücklich sie sei, dass sie hier wegwolle, dass sie Howard vermisse, ihm aber übelnehme, dass er in den Krieg gegangen sei, dass er sie hier nicht wegbringen wolle, dass sie ihn betrogen habe. Schließlich beichtet sie auch die Morde. Mitsy wird langsam deutlich, dass Pearl offenbar wahnsinnig ist. Sie will sich zurückziehen und verlässt das Haus, wird aber von Pearl mit einer Axt angegriffen und getötet.

Pearl setzt ihre toten, bereits verwesenden Eltern an den Tisch, stellt das mittlerweile von Maden überwucherte Essen dazu und richtet so ein Mittagessen aus. In diesem Moment kehrt Howard heim und sieht das Arrangement. Pearl lächelt ihn an, doch dann verzerrt sich ihr Gesicht zuerst zu einem Grinsen, später zu einer Fratze des Wahnsinns, während ihr die Tränen über das Gesicht strömen.

Als Ti Wests Slasher-Variante X (2022) erschien, freute sich der einschlägige Aficionado, endlich mal wieder einen Horrorfilm geboten zu bekommen, der nicht auf immer mehr Gewalt setzte, um Drehbuchschwächen zu übertünchen, sondern – bei all den grellen Splatter-Effekten, die der Gemeinde natürlich auch dargereicht wurden – auf eine intelligente Grundidee und vor allem eine von vorn bis hinten durchdachte Story. Und zudem konnte man mit Mia Goth eine Hauptdarstellerin bewundern, die die Doppelrolle der jungen Amateurpornoaktrice Maxine und der alten Pearl, auf deren Farm gedreht wird, scheinbar mühelos meisterte.

Noch im selben Jahr schob Ti West mit PEARL (2022) den Nachfolger, oder, besser, das Prequel nach, wie man heutzutage ja zu sagen pflegt. Erneut ist es Mia Goth, die diesmal in der Rolle der jungen Pearl brilliert und ein schauspielerisches Feuerwerk zündet, wie man es im Genrekino nur selten zu sehen bekommt. Nicht von ungefähr war die Schauspielerin auch am Drehbuch beteiligt und trat zudem als eine der Produzentinnen des Films in Erscheinung.

Wir werden ins Jahr 1918 versetzt, der Krieg in Europa ist soeben zu Ende gegangen, die Spanische Grippe fordert ihren Tribut und Pearl lebt recht abgeschieden mit ihren deutschstämmigen und deshalb in der Gemeinde nicht sonderlich beliebten Eltern auf einer Farm im Nirgendwo der amerikanischen Provinz. Sie wartet auf die Rückkehr ihres Mannes, der als Soldat gedient hat. Der Verweis auf die Spanische Grippe erlaubt es West, die 2022 soeben überstandene Corona(Covid-19)-Pandemie zu reflektieren, wobei er nicht davor zurückschreckt, sich über die Maßnahmen zur Eindämmung lustig zu machen. Allerdings lässt er es so wirken, dass der Eindruck entsteht, dass man die Hölle nicht mit Masken aufhalten kann. Ebenso lässt er den Krieg Revue passieren, wenn auch nur in Pearls Vorstellung davon, wenn sie imaginiert, dass Howard bei der Heimkehr auf eine Mine tritt und zerrissen wird. Ein früher Verweis darauf, wie ambivalent, ja ambigue diese junge Frau innerlich ist.

West und seine Crew geben sich enorme Mühe, einerseits ein glaubhaftes Bild dieses provinziellen Amerikas und einer bigotten, oft religiös verbrämten Bevölkerung zu zeichnen, zugleich aber – der Film wirkt wie ein Technicolor-Traum aus den 50er Jahren – schon anhand des Looks in Pearls Fantasiewelt vorzudringen und diese wirkmächtig erscheinen zu lassen. Denn die junge Frau träumt davon, als Tänzerin im Film – oder mindestens am Broadway – zu reüssieren und ein Star zu werden. Ihre Welt ist schon in diesen frühen Jahren des 20. Jahrhunderts die eines Teenagers, wie wir ihn uns eher in den 40er, 50er und 60er Jahren vorstellen.

Oder aber in den 80er Jahren, erinnert das Vortanzen, von dem Pearl sich ihren Durchbruch erhofft doch an jenes in FLASHDANCE (1983), jenem Musikfilm, der eine ganze Generation geprägt hat. Anders als für die junge, von Jennifer Beals gespielte Alex Owens, geht das Vortanzen für Pearl allerdings nicht positiv aus. Im Gegenteil, recht lapidar wird ihr mitgeteilt, man suche „etwas Blonderes“. Doch beweist diese Sequenz, dass sich in den über Hundert Jahren, die zwischen der Zeit, in der PEARL spielt und der zeitgenössischen Gegenwart, in der er entstanden ist, nicht viel geändert hat hinsichtlich der medialen Verführbarkeit der amerikanischen (und letztlich globalen) Jugend.

Pearl ist aber zugleich auch auf andere Art und Weise ihrer Zeit voraus. Denn sie ist in dem Sinne emanzipiert, dass sie sich weder von ihrer Mutter Vorschriften machen, noch durch den gelähmten Vater und dessen Bedürfnisse Einschränkungen gelten lässt und bereit ist, Hindernisse notfalls mit Gewalt aus dem Weg zu räumen. West streut die Hinweise, dass diese junge Frau offenbar psychopathische Züge trägt, recht früh in den Film ein, wodurch sie umso unheimlicher wirkt, da diese Züge als etwas gleichsam Normales, nahezu Folgerichtiges in ihrer Umgebung wahrnehmbar sind. Doch gibt es Momente, die in ihrer lethargischen Darstellung extremer Verhaltensweisen fast ans Avantgardistische grenzen. Sei es, dass Pearl ihren wehrlosen Vater beim Baden gleichsam verführt aber ob seiner Hilflosigkeit auch verhöhnt, sei es jene Sequenz, in der sie auf dem Heimweg aus der Stadt in einem Kornfeld einen bizarren Tanz aufführt und dabei eine Vogelscheuche als Partner nutzt – in diesem Momenten entfernt sich der Film weit vom herkömmlichen Horrorfilm und tritt in den Bereich des Surrealen, des Arthouse-Kinos ein.

PEARL reflektiert hier ein Amerika, welches einerseits vollkommen rückständig wirkt, bedenkt man all die moralischen Implikationen, die vor allem durch Pearls Mutter in den Film eingebracht werden, andererseits jedoch schon historisch früh medial verseucht wirkt. Nicht zuletzt durch die Verführungen Hollywoods, die auch damals schon bis in die letzte Provinz vordrangen und von Dekadenz und moralischem Verfall kündeten, beides gar als erstrebenswert verkauften. Natürlich wird hier, ironisch gebrochen, auch der alte Vorwurf aufgegriffen, dass der Konsum von Filmen „die Jugend“ verderbe und das Schlechteste in den Zuschauern hervorrufe. Das ist natürlich ein Vorwurf, der sich zumeist gegen Gewaltfilme – also vor allem Horrorfilme – und gegen pornografische Filme richtet. Dass es hier die frühen Tanzfilme sind, die als „bedrohlich“ eingeführt werden, und das Ganze in einem Film, der nominell als Horrorfilm gelabelt ist, nimmt den Vorwurf aufs Korn und dreht ihn ins Absurde. Hinzu kommt, dass Pearl von ihrem Freund, dem Filmvorführer des lokalen Kinos, in welchem sie sich regelmäßig aus dem tristen provinziellen Alltag hinfort träumt, einen pornographischen Film gezeigt bekommt, der ihr einerseits die Möglichkeiten des Mediums vor Augen führt, zugleich aber auch andeutet, wohin die filmische Reise in den kommenden Jahrzehntengehen sollte.

So reflektiert PEARL auf geschickte Weise und gerade auch in Bezug auf Donald Trump, dessen erste Amtszeit im Jahr 2022 eben erst geendet hatte, und dessen Vergangenheit als TV-Entertainer, als Showman, zugleich als jemand, der völlig skrupellos ist und dennoch Stimmen auch und vor allem in der religiösen Rechten einzuheimsen verstand, eine amerikanische Wirklichkeit, die zutiefst bigott und letztlich – nach den Maßstäben von Ruth, Pearls zutiefst konservativer und religiös nahezu verbrämter Mutter – durch und durch verkommen ist. West beweist auf hintergründige Art und Weise, dass gerade jene Filme, denen gern die größte Abscheu entgegenschlägt, oftmals dazu geeignet sind, einer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, die Wahrheiten ins Gesicht zu schreien, die sie als letzte hören will.

PEARL ist ein auf vielen Ebenen gut durchdachter und intelligenter Film. Dass er bspw. in seinem Technicolor-Look selbst an die märchenhaften Musicals Hollywoods der 30er, 40er und der 50er Jahre erinnert, kommt nicht von ungefähr. Die Kritik hat recht, wenn sie in Pearl eine Art Zwilling von Dorothy aus dem WIZARD OF OZ (1939) sieht, deren Darstellung Judy Garland einst zu Weltruhm verhalf. Wie Dorothy sich immer wieder wünscht, magisch nachhause zurückkehren zu können, nachdem ein Wirbelsturm sie ins Land Oz entführt hat, so ist es bei Pearl genau entgegengesetzt: Sie will nichts lieber, als dass etwas sie aus der Einöde der Provinz entführt und ihr bestenfalls Leinwandruhm verschafft. Dass in ihr eine Killerin schlummert, scheint den Film dabei nicht einmal wirklich zu interessieren. Ihre psychopathischen Züge werden eher hingenommen, bestenfalls durch das Leben, zu dem sie verdammt scheint, erklärt.

Sicher, sie schlachtet die Gans ab, als die ihr auf die Nerven geht, und verfüttert sie an den Alligator, der im Teich hinter der Farm lebt und den Zuschauer*innen bereits aus dem Vorgänger X bekannt ist; und ja, sie geht nicht nett mit ihrem darbenden Vater um, tötet später den Filmvorführer, der sich um sie bemüht, dann ihre Mutter und schließlich auch ihre beste – oder, besser, ihre einzige – Freundin. Doch all diese Morde werden als – zumindest aus Pearls Sicht – Notsituationen dargestellt. Pearl wird dadurch nicht entschuldigt, doch dringen Buch und auch Wests Regie sehr, sehr tief in ihre Psyche vor, bieten tatsächlich ein Psychogramm, welches diese Figur fast unangenehm nachvollziehbar macht. Wenn auch nicht sympathisch, worin eine der großen Leistungen dieses eben erstaunlich genauen und damit umso treffenderen Films besteht. Zu diesem Psychogramm gehören dann eben auch die weiter oben beschriebenen Szenen im Badezimmer mit dem Vater, jene im Kornfeld, die natürlich ebenfalls einen Hauch von WIZARD OF OZ verbreitet, aber auch Pearls wiederkehrende und vermehrt auftretende Visionen und Halluzinationen.

Mia Goth ihrerseits bietet in mindestens zwei Szenen unglaubliche schauspielerische Meisterleistungen, die diese Figur begreifbar, aber auch wahrhaftig machen. Zunächst ist da jener Moment, in dem Pearl sich ihrer Schwägerin und Freundin Mitsy stellt und diese sie auffordert, ihr „alles“ zu erzählen, was sie bedrückt, dafür seien Freundinnen ja schließlich da. In einem durchgehenden Take hält die Kamera Pearls Gesicht fest, während sie Mitsy – anstelle ihres Gatten Howard, den sie aber imaginiert und also auch adressiert mit dem was sie sagt – erklärt, warum sie sich verloren fühlt, welche Träume sie hat und wie unglücklich sie ist, gefangen auf dieser Farm, unter der Knute ihrer Mutter und in der Verantwortung für den Vater. Dieser Moment der Wahrhaftigkeit kulminiert in dem Geständnis der bisherigen Morde.

Es hat eine unglaubliche Wirkung, wie es Goth hier lediglich mit ihrem Gesicht gelingt auszudrücken, dass dieses Mädchen zutiefst getroffen und verletzt ist, aber ebenso, unter welch enormen emotionalen Stress sie steht, dass sie aus ihrem Unglück möglicherweise sehr falsche Schlüsse zieht und dass sie wahrscheinlich sehr, sehr gefährlich ist. Minuten dauert diese äußerst ungewöhnliche Szene, ungewöhnlich in Zeiten, in denen der schnelle Schnitt lange schon die Kamerabewegung ersetzt hat und in der nur selten, erst recht nicht im Genrekino, eine Einstellung lange ein Gesicht festhält oder beobachtet, was in einem Gesicht geschieht. Sie wird dann in einer langen Kamerafahrt aufgelöst, die ohne Schnitt an Pearls Monolog anschließt. Wir sehen, wie Mitsy sich langsam vom Tisch, an dem die beiden saßen, entfernt und beteuert, sie müsse nun gehen und was sie erfahren habe, bliebe natürlich zwischen ihnen beiden. Sie verlässt das Haus, die Kamera fährt vor ihr her, im Hintergrund, in der Tiefe des Bildes, sehen wir Pearl durch die Tür treten und im Vorbeigehen nach einer Axt greifen. Wir ahnen, dass Mitsy die Farm nicht mehr lebend verlassen wird. So ist es dann auch – doch ist es viel mehr jene Szene, die dem Morden vorangeht, die den wirklichen Horror, den echten Schrecken verbreitet, weniger der blutige Einsatz des Beils.

Doch vielleicht ist die noch stärkere schauspielerische Leistung jene, die Mia Goth am Ende des Films in der letzten Einstellung bietet: Da sitzt Pearl – THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (1974) lässt hier herzlich grüßen, wie West seinen Film (wie auch schon den Vorgänger) überhaupt mit etlichen Verweisen auf Vorbilder und verwandte Werke schmückt – am Tisch, mit ihr die toten, bereits verwesenden Eltern, das bereits von Maden durchzogene Essen zwischen ihnen – und endlich kehrt Howard aus dem Krieg zurück. Er sieht das Chaos und erschrickt entsprechend. Seine Frau steht auf und lächelt ihm entgegen. Die Kamera hält nun Pearls – also Goth´ – Gesicht fest, während der Abspann läuft. Die gesamte Zeit, die das dauert, blicken wir in dieses Gesicht, über das die Tränen rinnen, während es sich vom anfänglichen Lächeln über ein immer groteskeres Grinsen in eine Fratze des Wahnsinns wandelt. Das ist brillant in der Darstellung, da Goth nicht chargiert, nicht übertreibt, sondern sehr fein und fast unmerklich die Übergänge zwischen diesen verschiedenen Zuständen, diesen Facetten eines aufgelösten Antlitz´ modelliert. Über Minuten hinweg.

So ist PEARL in erster Linie und vor allem ein hervorragender, intelligenter, manchmal komischer und manchmal hinterlistiger Film. Er wurde dafür kritisiert, nicht der Horrorfilm zu sein, den vor allem die Gemeinde erwartete, der X so gefallen hatte. Und vielleicht stimmt es sogar – vielleicht sollte man PEARL eher dem Metier des Psychothrillers zuordnen, wenn es denn überhaupt eine Schublade braucht. Vielleicht sollte man den Film auch einfach als ein Coming-of-Age-Drama betrachten. Ein Erwachsenwerden unter erschwerten Umständen sozusagen. Mit seinem historisch ungewöhnlichen Setting, der sehr genauen Figurenzeichnung, seinen hervorragenden filmischen Einfällen und deren geschickter Umsetzung und vor allem den außergewöhnlichen schauspielerischen Darbietungen ist es auf jeden Fall ein Film, der die herkömmlichen Genreerwartungen, in gewissem Sinne sogar die Genregrenzen zu sprengen vermag. Und damit auch über die Leistungen seines Vorgängers hinausweist. Rein filmisch betrachtet überragt PEARL X bei Weitem – und erst recht überragt er den Nachfolger MAXXXINE (2024), der den Abschluss der Trilogie um Pearl bilden sollte. Im Oeuvre des Ti West ist dies sicher die bisher beste Visitenkarte.

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