BLEAK HOUSE

Dickens für fortgeschrittene Dickensleser

Angesiedelt um den bei Einsetzen der Handlung (die – über Jahre sich streckend – nahezu die gesamte Dekade der 1820er Jahre umspannt) schon jahrelang andauernden Rechtsstreit „Jarndyce contra Jarndyce“, einen Erbschaftsstreit, bei dem nicht nur die Rechtsparteien, sondern auch das Gericht den genauen Grund und die Abläufe längst vergessen zu haben scheinen, wird im Wesentlichen die Geschichte der jungen Esther Summerson erzählt, die von ihrem Vormund, John Jarndyce, in sein Haus geholt wird, um sich um dessen Anverwandte Ada Clare und deren Cousin Richard Carstone als Gesellschaftsdame zu kümmern. Alle sind auf die eine oder andere Weise an dem Rechtsstreit beteiligt. John Jarndyce weiß um die Gefahren des Rechtsstreites und will sowohl Ada als auch Richard davor bewahren, doch letzterer, lange auf der Suche nach einem ihm angemessenen Berufe, verfängt sich schließlich in den Fängen der Juristerei und wird, nach allerhand Verwicklungen, einer armen und unglücklichen Ehe und dem Verlust seiner geistigen Gesundheit zum Opfer der Irrungen und Wirrungen. Esther wiederum – zeitlebens im Glauben, ihre Mutter, früh gestorben, sei ihre Schande, während sie, Esther, die Schande  ihrer Mutter sei (also ein uneheliches Kind) – erregt die Aufmerksamkeit verschiedener Herren, darunter des Anwalts Mr. Tulkinghorn, der der Verwalter der juristischen Angelegenheiten Sir Leicesters ist. Diesem Anwalt fällt die Ähnlichkeit Esther Summersons mit der Gattin des Herzogs auf, Lady Dedlocks, die immerzu Gefahr läuft, an Langeweile zu sterben. Diese Ähnlichkeit wird Esthers Leben nachhaltig verändern.

BLEAK HOUSE, entstanden in den Jahren 1852 und 1853 als Fortsetzungsroman (wie so oft bei Dickens), gehört mit seinem Umfang von über 1000 Seiten, einer Figurenfülle von über 50 Sprechrollen und einem Handlungsgewirr, in dem letztlich drei unterschiedliche und weitestgehend voneinander unabhängige Handlungsstränge ineinander über- und aufgehen, zu den umfangreichsten und schwerer zugänglichen Werken des großen englischen Autors.

In die beiden Hauptstränge der Handlung sind diverse Nebenhandlungen eingebettet, die teils sehr stark in den Vordergrund treten: So werden ein seltsamer, im Buch jedoch als „natürlich“ dargestellter Fall von Selbstentzündung sowie ein Mord aufgeklärt, wozu Dickens einen der ersten Kriminalpolizisten der Literaturgeschichte, den Angehörigen der Geheimpolizei Mr. Bucket, einführt. Dieser ist neben solch schillernden Gestalten wie George, dem Kavalleristen und jetzigen Besitzer einer Schießbude, Mr. Smallweed, Georges Gläubiger, Mr. Guppy, einem jungen Advokaten, der Esther zunächst verfällt, dem natürlich bis zur Langeweile guten Mr. Woodcourt oder dem bis zum Zynismus sich ungebärdig und verantwortungslos gebenden Mr. Skimpole nur einer aus einer der bei Dickens üblichen, hier jedoch noch weitaus größer gefassten Schar der Haupt- und Nebenfiguren dieses Reigens. Wie immer beim englischen Geschichtenerzähler par excellence, wird die Handlung auch diesmal von Zufällen, psychologisch manchmal etwas ungenauen Taten der Protagonisten und viel gutem Willen einzelner Personen vorangetrieben. Obwohl es auch in diesem Werk einfach herrliche Schurken gibt, verweigert uns der Autor allerdings den vor Boshaftigkeit nur so triefenden Bösewicht a la Bill Sykes (OLIVER TWIST) oder Uriah Heep (DAVID COPPERFIELD). Die ganze Handlung wirkt hier realistischer und an der Beschreibung sozialer und anderer gesellschaftlicher Mißstände eher interessiert, als andere, bekanntere Werke (obwohl gerade das Anprangern sozialer Mißstände bei Dickens ja immer eine enorme Rolle spielt). So sticht niemand aus all diesen Figuren allzu sehr heraus, sondern es gelingt Dickens, durchaus ambivalente Charaktere zu zeichnen, die auch in ihrer ganz eigenen, in sich geschlossenen Wahnhaftigkeit gezeigt werden.

Mit der Sterbeszene des Weisenjungen Jo, der einer (wahrscheinlich Pocken) Erkrankung erliegt, die auch Esther zeichnen wird fürs Leben, gelang Dickens eine der – nach Meinung des Rezensenten – eindringlichsten seiner und auch der Literatur eigenen Beschreibungen menschlichen Elends und seiner Folgen. Dickens hatte natürlich, wer wüsste das nicht?, ein Faible für Kinder. Die Mißstände, unter denen sie leben, besser: hausen mussten, im kinderfeindlichen London des 19. Jahrhunderts, war ihm immer eines seiner hauptsächlichen Anliegen. In BLEAK HOUSE wimmelt es nur so von verlassenen oder verwaisten Kindern, deren einige schreckliche Schicksale zu gewärtigen haben, andere durch die Großherzigkeit einiger Weniger gerettet werden können. Mit der Figur der Mrs. Jellyby, die zwar selber etliche Kinder hat, jedoch leider keine Zeit für diese, da sie sich ununterbrochen um eine afrikanische Siedlung kümmern muß, verdeutlicht Dickens seine Kritik daran, daß selbst jene, die scheinbar selbstlos handeln, entweder nur ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen, oder aber bei aller „Rettung der Welt“ das Unglück vor den eigenen Augen nicht mehr sehen (können). Mrs. Jellyby kommt dabei als eine etwas überhebliche, ständig im Bewußtsein der eigenen moralischen Überlegenheit vor sich Hinlächelnden, die die Bedürfnisse der eigenen Kinder, namentlich des kleinen Peppy, nicht mal mehr wahrnimmt, noch relativ gut weg – andere, v.a. der schon erwähnte Mr. Skimpole, stehen wie Monumente der Ichbezogenheit in diesem Roman und verdeutlichen den Tanz um das goldene Kalb der eigenen Großartigkeit.

Erzähltechnisch bedient sich Dickens einer ungewöhnlichen Form: Er führt nicht nur einen allwissenden auktorialen Erzähler ein, der uns die Zusammenhänge und Begebenheiten des Werks klar zu vermitteln weiß, sondern wir werden auch Leser von „Esthers Erzählung“, in der sie in der Ich-Form von den Ereignissen erzählt, derer sie direkt ansichtig wird. Dadurch entsteht zwar einerseits ein Bruch in der Erzählweise, doch wird so auch die Erzählung selbst, ihr Fluß und ihre Perspektive, aufgebrochen und kurzweiliger, da der Leser Teile dessen, was erzählt wird, doppelt und somit aus verschiedenen Perspektiven, manchmal ergänzend, manchmal sogar widersprüchlich, geschildert bekommt Das führt gekegentlich  dazu, daß man sich Stücke der Handlung selbst zusammensetzen und dadurch durchaus kritisch das Erzählte hinterfragen kann. Hinzu kommt eine Konstruktion, fast schon kann man von Konzeption oder Komposition sprechen, die es in sich hat: Über diesen ungeheuren Raum und die ungeheure Länge von 1166 Seiten sehr wirre und komplizierte Handlungsstränge zusammen zu führen und dabei nicht allzu stark auf Zufall und Gutgläubigkeit der Leser zu setzen, zeugt schon von Dickens Ausnahmetalent. Und die oft kritisierte Psychologie, die bei ihm zugegebener Maßen oft zu kurz kommt, bzw. zugunsten leserfreundlicher Handlungsabläufe oder eines Happy Endings auch mal „gerade gebogen“ wird, stimmt hier fast immer. Auch dazu sei noch einmal die Figur der Mrs. Jellyby angeführt, die in ihrer Unnahbarkeit und unangekränkelten Selbstgewißheit nahezu jeden lächerlich findet in seinen alltäglichen Bedürfnissen und Nöten (und weniger alltäglichen, wenn es z.B. um die Hochzeit der eigenen Tochter geht) und damit zum einen sehr modern wirkt, erinnert sie doch an so manchen „Gutmenschen“ (ohne den Begriff an sich diskreditieren zu wollen) unserer Tage, wird aber von Dickens auch perfekt skizziert, ohne allzu dick aufzutragen (wie er es dann bei einer Figur wie Mr. Smallweed eben doch wieder tut).

In seiner Handlung weniger spannend als OLVER TWIST oder GREAT EXPECTATIONS, mit weniger herausstechenden Figuren ausgestattet als die genannten Werke oder aber z.B. DAVID COPPERFIELD und mit einem äußerst wachen Blick für seine Zeit und ihre Unbilden, ist BLEAK HOUSE so etwas wie eine Dickens für Dickens(leser). Eher ungeeignet als Einstieg in die Welt des Engländers, ist es ein Fest für jene, die sich längst in eben dieser Welt verloren haben und nicht genug bekommen können davon. Fast wirkt es, als habe sich Dickens mit diesem Werk – etwa auf der Hälfte seines Schaffens erschienen – sich seiner selbst und seiner Methoden, seiner Befähigung, seiner Mittel vergewissern wollen, bevor er dann daran ging, mit u.a. LITTLE DORRIT, HARD TIMES, A TALE OF TWO CITIES und GREAT EXPECTATIONS noch einige seiner wichtigsten und besten Werke vorzulegen.

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