DIE 120 TAGE VON SODOM/LES 120 JOURNÉES DE SODOME, OU L´ÉCOLE DU LIBERTINAGE

Des Marquis radikalste Befragung des menschlichen Wesens unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Aufklärung

Vier Herren, Libertins, der besseren Gesellschaft – ein Graf, ein Bankier, ein Bischof und ein Richter – ziehen sich für den Zeitraum von 5 Monaten auf das Schloß Silling in den Bergen zurück. Sie haben etliche jugendliche Opfer im Schlepptau; einige sogenannte „Hengste“ – gut ausgestattete Jünglinge, die unter Anweisung ihren Tätigkeiten nachgehen sollen; vier hässliche alte Frauen, die für Haushaltsarbeiten hinzugezogen werden, die aber ebenfalls Übergriffen ausgesetzt sind und die Herren an die Realität der Welt, ihre dauernde Hässlichkeit, erinnern sollen; vier Prostituierte sollen dafür sorgen, daß die Opfer wissen, worum es geht und was ihnen blüht.

So wird Monat für Monat schrecklicher, was die vier Damen in abendlichen Runden zu berichten haben. Sie geben tiefe EInblicke in die Verdorbenheit der Menschen/Männer, zugleich vermitteln sie aber auch, wie sich Opfer in ihre Rolle zu fügen haben, das Wissen, das eigene Leben verlassen zu haben und dem Willen eines anderen, mächtigeren, ausgeliefert zu sein – bis zum so oder so bitteren Ende. Es ist die Schule der Libertinage, der Lust, der Befreiung von gesellschaftlichen, moralischen Regeln und Normen – allerdings nur für jene, die die Macht in Händen halten. Die Opfer müssen wissen, von allem Anfang an, daß sie nur noch existieren, um lustvoll vernichtet zu werden.

Die Herren, angeregt durch die Erzählungen, berichten selber ausführlich von ihren Sodomien, den Vergewaltigungen, Vatermorden, Mutter- und Kindesschändungen und den Tötungen, denen sie sich im Leben hingegeben haben. Wenn ihre Lust genug entfacht ist, vergreifen sie sich an ihren Opfern, aber auch an den Damen und den Hausangestellten. Sie geben Anweisungen, wie die „Hengste“ die Opfer zu behandeln haben und ergötzen sich an diesen Stellungen und der Qual, die sie den Ausgelieferten bescheren.

Ausführlich zählt der Roman die Qualen, Folterungen, Widerwärtigkeiten und abschließenden Vernichtungen auf, wobei die letzten Monate Fragmente geblieben sind. Überleben werden diese Orgien nur die, die die Herren leben lasssen wollen, wobei der Nihilismus des Werkes sogar andeutet, daß das eigene Vergehen die regelgerechte Folge ihres Denkens wäre…

 

 

Eigentlich ist es ein Fehler, einzelne Werke de Sades zu bewerten, es ist das Gesamtwerk, das sein Schaffen wichtig macht. Will man DIE 120 TAGE VON SODOM als Buch/Roman beurteilen, käme man wahrscheinlich zu dem Schluß, daß es schlichtweg langweilig ist. Kaum Handlung, null Spannung, eine Aneinanderreihung von Perversitäten und Ekligkeiten ohne dramturgischen Aufbau usw.

Doch das wäre ein fataler Fehler, da de Sades Werk ein philosophisches ist. Was andere Philosophen in langen, manchmal anstrengenden und manchmal auch langweiligen Abhandlungen und Traktaten darlegen, verpackt DeSade in Handlung und Dialog. So wird man der Sache wahrscheinlich eher gerecht.

Der Marquis war ein Kind seiner Zeit, ein verkommener Libertin, ein Abkömmling des Adels, der sich den Ideen seiner Zeit gegenüber zumindest aufgeschlossen zeigte, wenn nicht gar zugeneigt. Ein Spätgeborener der Aufklärung, ein Zeitgenosse der französischen Revolution und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen, nähert er sich gerade den aufklärerischen Ideen von einer Schattenseite aus (wohl gemerkt: Auf Englisch heißt es „enlightenment“ – und wo Licht ist, ist Schatten, und dort agiert der Marquis).

De Sade nimmt die Ideen der Aufklärung sehr ernst und untersucht sie auf ihre Sollbruchstellen. Der Mensch ist frei, wo er das Böse wählen kann. De Sade meint, er MÜSSE das Böse wählen, um sich der Natur (die selbst schon das Böse symbolisiert) entgegenstellen zu können. De Sade hasste die Natur als Gottes Garten, als die Schöpfung, die dem Menschen das Korsett der Wirklichkeit anlegt und in seiner geistigen und physischen Freiheit beschränkt. Sein Schreiben ist also nicht nur eine Lästerung wider Gott und seine Schöpfung, sondern auch wider die Natur als deren Ausdruck, die uns zwingt, sich ihr und ihren Unbilden zu unterwerfen. Lust und Obszönität erklärt er zu den menschlichen Eigenschaften, die ihn – den Menschen – auszeichnen, weil sie seinen Willen, sein eigentliches Streben symbolisieren, wobei ein jeder nur auf die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse erpicht sein sollte. Der Mensch als Egoist, als totaler Egozentriker, als absolut gesetzter Mittelpunkt allen Seins. Denn was außer dem eigenen Willen, der eigenen Lust und der Macht, die das Ausleben dieser Lust verschafft, sollte dem Menschen als eigenständigem Wesen eine Selbstvergewisserung sein?

Die Wiederlichkeiten, die er beschreibt, sollten als das gelesen werden, was sie bei genauerem Hinsehen sind: comichafte Übertreibungen, reine figürliche Anordnungen, eine Geometrie der Lust in ihrem Endstadium. Was die Opfer bei de Sade auszuhalten haben, ist nicht auszuhalten und wird von allem Anfang an ins Reich der reinen Phantasie verbannt. Und schaut man sich die Begebenheiten in den anderen Werken an (v.a. DIE PHILOSOPHIE IM BOUDOIR), dann erkennt man, daß es Versuchsanordnungen sind, der Entwurf einer Grammatik des selbstbestimmten Menschen. Die Opfer in diesem Reigen genießen den Schmerz, sie wollen den Schmerz. Da ist de Sade ganz demokratisch: Wohl wollen alle Täter sein, doch Opfer sein gehört zum Spiel. So darf ein jeder einmal in diese, einmal in jene Rolle schlüpfen. Das allerdings ist in den 120 TAGEN VON SODOM anders. Hier steht die Verfügbarkeit des Menschen im Mittelpunkt und die Macht, die der Stand, das Amt, die gesellschaftliche Position verleihen.

De Sade wählt für seine Versuchsanordnungen die denkbar schrecklichste Option aus. Ist der Mensch ersteinmal aus seiner selbstgewählten Unmündigkeit ausgebrochen und befreit, muß er sich (so de Sades Überlegung) zwangsläufig von Gott befreien und somit auch von allem, was dem Göttlichen zugeschrieben wird – eben auch Mitgefühl, Liebe, Vergebung usw. Und er muß Entscheidungen treffen. Die Freiheit, die de Sade anstrebt, ist absolut. Doch kann der Mensch diese Art Freiheit überhaupt aushalten?

Es ist nicht von ungefähr, daß sich nicht nur die Existenzialisten (Simone de Beauvoir) und Strukturalisten (Roland Barthes) mit ihm auseinandergesetzt haben, sondern eben auch Adorno als Vertreter der ‚Frankfurter Schule‘. Also eben jener Koautor der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG, der zu jener extrem kulturpessimistischen Einsicht gelangte, daß die Aufklärung ‚Auschwitz‘ schon in sich trug. Daß der unterdrückte Trieb eine triebhafte Explosion erfährt und diese dennoch gerade in der der Aufklärung so eigenen Genauigkeit und Ordnung vollzogen wird.

Eben die Unterdrückung der Triebe ist es ja, was de Sade (auch) umtreibt. Das enge Korsett moralischer Werte, die nun plötzlich aus uns selbst geboren werden müssen, aus der Vernunft, und die nicht mehr mit göttlicher Gesetztheit gelehrt werden können, stellen uns vor fast unlösbare Dilemmata. De Sade stellt diese DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG schon in der Spätphase ihrer selbst aus. Natürlich VOR Auschwitz, was seine Bilder und Metaphern, all das Blut, die Exkremente und das Urin zwar nicht erträglicher, allerdings ein klein wenig „unschuldiger“ macht. Im Übrigen gestand er freigiebig ein, daß er mit seinem Schreiben eine Art „Ansteckung“ des Lesers beabsichtigte. Er wollte, daß sein Schreiben unmittelbar das bewirkt, was er beschrieb. Er wollte Lust entfachen, keine Massentötungen.

Interessanter Weise ist es dann eben genau dieses Werk gewesen, daß Pier Paolo Pasolini als Vorlage für seinen berüchtigten Film SALÒ – O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1974) nutzte. Und es ist interessanter Weise exakt die Verbindung zum Faschismus, die er vertieft und ausstellt.

Film und Buch gegenüber zu stellen, ist grundlegend unfair. Wort und Bild sind medial kaum vergleichbar; vor oder nach Auschwitz und den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts diese „Geschichte“ zu erzählen, sind zwei grundverschiedene Dinge. Pasolinis Film – vielleicht einer der besten und wichtigsten Filme überhaupt – analysiert den Faschismus kühl, sachlich und genau. Ohne auf der ideologisch-politischen Ebene zu verharren. Pasolini sieht im Faschismus eben auch eine ästhetische Komponente.

Diese vier Herren der besseren Gesellschaft (die funktional, repräsentativ zu sehen sind), die sowohl im Buch wie im Film auftauchen und sich da auch charakterlich ähneln, stellen eben auch die strukturelle Verflechtung der gesellschaftlichen Macht dar, den Anspruch, sich – ungeachtet aller Ideologie – nehmen zu dürfen, was einem gefällt. So wird der Faschismus hier zu einer Art Potpourri, der sich nahezu alles einverleibt, was er gebrauchen kann oder was ihm gefällt (Kunst, Menschen, Scheiße, Gefühle, Riten) und per Mord (oder Folter) ausscheidet, was ihm mißfällt oder nicht mehr gebrauchen kann. Die wahren Anarchisten, so heißt es in einer Schlüsselszene des Films, die ahren Anarchisten könnten nur sie, die Fachisten, die Herren über Leben und Tod sein, denn erst in dieser Macht, in dieser absoluten Verfügung, kann wahre Anarchie sich entfalten und ausdrücken. De Sade, noch ohne Kenntnis der Fachterminologie, gibt genau dieser Haltung in seinem Text Ausdruck.

Pasolini ebenfalls gibt ein zutiefst kulturpessimistisches Statement ab, auch im Hinblick auf seine Zeit (1974/75), die zwar offiziell nicht faschistisch ist, die er jedoch als Wa(h)ren-Faschismus identifizierte. Er kommt dem de Sade’schen Denken damit nicht nur im wortwörtlichen Sinne, sondern auch metaphorisch sehr nahe. Das Italien der Mitsiebziger sah er als eine Art selbstgewählten Faschismus, der sich nicht mehr mit Gewalt durchsetzt, sondern mit den goldenen Ketten des Konsums. Innerhalb dieser Warenwelt aber, ist der Mensch – nun säkularisiert – erneut einer selbstgewählten Unmündigkeit anheim gefallen; möglicherweise ist der Ausweg aus dieser noch schwieriger zu beschreiten, als jener aus der Unmündigkeit, von der der deutsche Aufklärer und Idealist Kant sprach.

Pasolinis Film ist denn auch noch unerträglicher als das Buch, da er gnadenlos aufzeigt, wie de Sades Phantasien von der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts weit in den Schatten gestellt wurden. Vor allem das Ende läßt den Zuschauer erzittern. Pasolini nämlich geht den Schritt, den de Sade erhoffte (Ansteckung), schreibend aber schlichtweg nicht erreichen konnte: Der Zuschauer wird im Film GEZWUNGEN, sich dem Gesehenen zu stellen, indem Pasolini ihn am Ende im Blick auf die Folterungen, der kameratechnisch ein subjektiver ist, den Tätern gleichstellt. Während im Hintergrund klassische Musik läuft, zeigen die Bilder Grausamkeiten, wie sie selten im Kino zu sehen waren, 1975 ausschließlich in sogenannten Schmuddelfilmen. Und die einzige Perspektive, die uns geboten wird, ist diejenigen des Herren, der gerade zusieht, also Einverständnis erklärt. Es ist der reine Täterblick.

Pasolini nimmt de Sades Text aber nicht nur sehr ernst, sondern auch er nimmt ihn auch sehr genau und führt ihn zurück in einen Diskurs, der über die Textebene hinausweist, er verwebt ihn in den europäischen Aufklärungsdiskurs nach 1945, der 1974 noch hoch emotional war. Pasolini stellt den Text direkt in Bezug zur jüngeren europäischen Geschichte und eröffnet damit Denk-Räume, die es ermöglichen, sich einer zwingenden historischen Wahrheit zu stellen.

De Sade jedenfalls trieb schon das aufklärerische Denken in seine Extreme. Er nimmt dieses seinerseits sehr ernst und weist es sozusagen auf seine eigenen Schwachstellen hin, bzw. gibt ihm schwierige Denkaufgaben: Wie will der Mensch mit der Freiheit und der Tugendhaftigkeit umgehen, die sich eigentlich ausschließen und doch beide so wesentlich für ihn sind?

Heutzutage de Sade zu lesen, ist wohl so oder so eher ein akademisches Unterfangen. Doch es ist interessant, wenn man es in die Kontexte stellt, die hier aufzuzeigen versucht wurde. De Sade zur Unterhaltung zu lesen – was wohl nur in seiner Vorstellung überhaupt möglich wäre – ist, mit Verlaub, Blödsinn.

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