DAS KALTE BLUT

Chris Kraus bietet ein gewaltiges Panorama des 20. Jahrhunderts, verheddert sich aber ebenso gewaltig in der Haltung des Erzählers

Es ist ja, gerade wenn es eine Art Punkte- oder Sternesystem gibt, um ein Buch oder einen Film zu bewerten, immer grundlegend entscheidend, von welchem Standpunkt aus man urteilt. Will man beurteilen, ob es sich um ein unterhaltsames Buch handelt oder eher, was darin verhandelt wird und auf welche Weise? Es gibt Autoren, deren Stil man durchaus bewundern, deren Haltung man allerdings ablehnen kann. Und es gibt Bücher, die kommen leicht und flockig, sehr unterhaltsam – manchmal trotz Hunderter Seiten unterhaltsam – daher und sind dennoch – zumindest teilweise – ein Ärgernis während des Lesens.

Bei Chris Kraus´ DAS KALTE BLUT handelt es sich um solch ein Buch.  Der Autor versteht es, den Leser mit der Lebensgeschichte des Koja Solm über nahezu 1200 Seiten zu unterhalten, streckenweise gar zu fesseln. Anders als viele zeitgenössische Romane, die künstlich auf eine ansehnliche Seitenzahl oft an der 1000er-Marke gebläht wirken, fliegt Kraus´ manchmal nahezu obsessiv entsponnen und niedergeschrieben wirkende Geschichte geradezu am Leser vorbei. Ein „Pageturner“, ein Werk, das den Leser einsaugt und kaum mehr los lässt – das muß deutlich so gesagt werden, alles andere wäre unredlich. Allerdings liegt darin auch schon der tiefere Grund der Kritik, denn es stellt sich im Lauf der Lektüre durchaus die Frage: Wie kann ich worüber sprechen? Ist das Plaudern immer die angemessene Form? Und – die vielleicht wichtigste Frage im Zusammenhang des Buches: Wer spricht?

Kraus lässt den verhinderten Künstler, den SS-Massenmörder, Geheimagenten und verzweifelt Liebenden Koja Solm höchstselbst seine Geschichte erzählen. In einem Krankenhaus in München anfangs der 70er Jahre des so blutigen 20. Jahrhunderts, trifft der alternde Mann, dem eine Kugel im Kopf steckt, auf einen jungen, von ihm nur als „Hippie“ apostrophierten Kerl, dem er seine Lebensgeschichte berichtet. Schnell aber merkt der Leser, daß die eigentliche Adressatin dieses sich zu einer Lebensbeichte ausweitenden Berichts eine Frau namens Ev ist, die Koja offenbar sein Leben lang geliebt hat. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Hub wächst Koja als Nachkomme einer lettischen Pfarrersfamilie bei Riga auf. Der Vater ist aus der Art geschlagen, verdingt er sich doch als Kunstmaler. Die Familie erweitert sich um die kleine Ev, die das Hausmädchen eines Tages mitbringt und erklärt, sie sei eine Weise, die niemanden mehr habe. Zwischen den drei nun als „Geschwister“ aufwachsenden Kindern entspinnt sich eine Liebe, die Ev an Koja bindet, wie an seinen Bruder und sie Hub später heiraten lässt, den sie, wie es auch Koja tut, als wahren Helden verehrt. Die Zeitläufte bringen es mit sich, daß sowohl Hub als auch Koja sofort nachdem die Deutschen ins Baltikum einmarschiert sind in die Fänge des Reichshauptamts geraten und zu vergleichsweise treuen Männern der SS werden. So beginnt für den Erzähler Koja eine Odyssee durch das 20. Jahrhundert, die ihn nicht nur zu einem der willigen Helfer Adolf Hitlers werden lässt, sondern auch zu einem KGB-Doppelagenten, später auch zu einem zentralen Mitglied der „Organisation Gehlen“, aus der schließlich der BND hervorgehen sollte. Er überwirft sich mit Hub, wird als jüdischer Überlebender getarnt zu Gehlens Verbindungsmann in Israel und fädelt in dieser Funktion für Franz Josef Strauß die ersten Waffengeschäfte dort ein. Er wird wichtiger Helfershelfer bei der Entführung und Ausschaltung des ersten Präsidenten des Verfassungsschutzes Otto John und schaltet sowohl für den BND wie für den Mossad Gegner aus, wobei er sozusagen über Kreuz arbeitet. Obwohl er Ev Zeit seines Lebens liebt, verfällt er einer russischen Agentin, deren Schicksal in den Händen des KGB ein grausiges ist und entwickelt sich im Laufe der Jahre zu einem perfekten Lügner, der wie ein Akrobat mit scharfen Messern mit Identitäten, Religionszugehörigkeit, Namen, Berufen und Nationalitäten jongliert, aber eben auch mit Emotionen, Loyalitäten, Freundschaften und Feindschaften. Und der schließlich und endlich in einem sterbenden Hippie seine Nemesis findet: Einen Naiven, der einfach nicht akzeptieren will, daß das Leben einem Menschen solche Bürden auferlegen konnte und man dabei nicht ehrlich, moralisch sauber und ethisch eindeutig bleiben kann.

Schon in einer solchen, die Fülle der Geschichten und Geschichtchen, Anekdoten und Begebenheiten nicht annähernd wiedergebenden Aufzählung wird deutlich, mit welch erzählerischem Furor Kraus sein Material angeht. Immerhin Sowohl der Icherzähler als auch Ev und in gewissem Sinne auch Hub erscheinen lebendig und durchaus vielschichtig gestaltet, man folgt ihren Motiven durchaus wohlwollend. Allerdings wirkt Ev oft wie eine extra eingezogene moralische Instanz, die dem Leser Orientierung bieten soll. In dieser Funktion beginnt bei ihr das, was den übrigen Figuren, derer es eine Menge gibt, hingegen meist widerfährt: Sie bleiben eher holzschnittartig grob, oft  klischeehaft oder verkommen gar zur Karikatur (vor allem Gehlen und einigen der auftretenden SS-Schergen werden so gezeichnet, wobei der Autor auch vor lautmalerischen Dialektsprengseln nicht zurückschreckt). Die im Text erwähnten historischen Ereignisse hingegen sind gut recherchiert und die fiktiven Personen werden geschickt darin verwoben. Kraus versteht es, seinen wesentlichen Figuren genug Geheimnis zu lassen, damit sie nicht nur interessant bleiben, sondern auch lebensecht vieldimensional wirken, können wir doch auch im realen Leben über die uns Nächsten und unsere Lieben nie mit letzter Sicherheit sagen, was sie denken, was sie beschäftigt oder was sie umtreibt. Das gibt dem Roman Binnenspannung, man will der Entwicklung zwischen Koja und Ev folgen. Man will einerseits wissen, wie es für  sie weitergeht, aber man will ebenso wissen, ob es Koja gelingt, seine Lebenslügen, die im Verlauf der Erzählung immer waghalsiger, immer verrückter und bizarrer werden, vor seiner Umwelt, seinen Vorgesetzten, seiner Geliebten und Ehefrau Ev und schließlich sich selbst aufrecht zu erhalten.

Denn so sehr dieser Erzähler dem Hippie, seiner Ev und uns, seinen Lesern, versichert, alles im Leben immer nur aus Mitgefühl und  im Sinne des Wohlergehens anderer getan zu haben, so sehr hat er andern – inklusive dem Hippie – immer nur geschadet. Seinem Bruder sowieso, den er skrupellos mehrfach verrät und seinem Schicksal überlässt, nachdem Hub ihn ebenfalls einem vermeintlich sicheren Tode überlassen hatte; aber auch Ev, von deren jüdischer Herkunft er durch Zufall erfährt und die er zwar retten will, die er aber gerade durch die Maßnahmen, die er ergreift, zutiefst verletzt; seine russische Geliebte versucht er durch die Arbeit für den KGB vor dem sicheren Exekutionskommando in der Lubjanka zu bewahren, was ihr Ende aber lediglich hinauszögert – zur Selbstkasteiung und als Zeichen ihrer Abwesenheit trägt er fortwährend ihre Zähne bei sich, die sein Führungsoffizier des russischen Geheimdienstes ihm im Eifer hatte zukommen lassen. All diesen – und etlichen mehr – schadet Koja Solm massiv. Doch ebenso schadet er der Historie – und damit uns, seinen Lesern. Denn zwischen gutrecherchierten historischen Fakten begegnet uns ein Hallodri, dem das 20. Jahrhundert zum Hintergrund seiner persönlichen Liebs- und Leidensgeschichte wird. So sehr dieser Gestrandete des 20. Jahrhunderts seine Verstrickung in all die Gräuel auch offen zugibt, Reue oder tiefere Einsicht zeigt er nicht. Ihm ist zwischen Auschwitz und Stalingrad, zwischen SS und Mossad alles nur Material, denn, so kann man dieses Werk letztendlich durchaus lesen, am Ende wird sich doch eh alles gleich. Geschichte als Zufallsapparat.

Die Literaturgeschichte wimmelt von verkommenen Bösewichtern, die ihre verkommene Weltsicht mit Lust vor uns ausbreiten, sie geradezu präsentieren. Man denke an die fürchterlichen Adligen des Marquis de Sade, deren „Beichten“ geradezu Teil der Inszenierung ihrer verderbten Lust sind, unser Ekel, der Schock, den wir empfinden, ist ihr Elixier; man denke an die moralisch haltlosen Gestalten, die uns in Choderlos de Laclos LES LIAISONS DANGEREUSES begegnen und deren intimsten Gemeinheiten wir anhand ihrer Briefe direkt aus ihrer Feder erfahren; man nehme den Icherzähler bei Céline, der seine moralische Verderbtheit in einen größeren, weltgeschichtlichen Zusammenhang stellt in VOYAGE AU BOUT DE LA NUIT, an die Mörder und Verbrecher, die Genets Werk zieren; man denke an Nabokovs geniales Geschöpf Humbert Humbert, ein pädophiles Monster mit enzyklopädischer Bildung, der uns mit seiner Sprache betört und zugleich zu Geiseln seiner fürchterlichen Phantasie macht; schließlich beachte man Patrick Bateman, jenen fast schon verzweifelt nach Aufmerksamkeit heischenden Serienmörder in Bret Easton Ellis AMERICAN PSYCHO – alles große Monster der Literatur, die die Kunst ihrer Autoren gerade deshalb unter Beweis stellen, weil sie einerseits subjektive Erzähler sind, die ihnen zu-geschriebene Sprache jedoch zugleich ein Mittel der Distanzierung ist. Es sind, inklusive Ellis, Große der Weltliteratur, die das fertig bringen. Vor einigen Jahren gelang es dem in Frankreich aufgewachsenen Amerikaner Jonathan Littell in seinem Mammutwerk LES BIENVEILLANTES (dt. DIE WOHLGESINNTEN), eine im NS-Kontext angesiedelte Figur, also einen Täter, den SS-Offizier Max Aue, subjektiv sprechen zu lassen und dabei dennoch eine Sprache zu finden, der es trotz einer gewissen, bei Publikum und der Kritik unangenehm aufstoßender, Explizität gelang, dem Sujet angemessen eine Haltung einzunehmen.

Und nun also Koja Solm. Die Nähe zu Littells Werk muß man nicht herstellen, die drängt sich auf. Und warum, fragt man sich bald, warum haut es hier nicht hin? Es wäre Aufgabe einer tiefgreifenden Studie, die genutzte, bei Littell auch in der Übersetzung genutzte Sprache genauestens zu untersuchen, um einer Antwort gerecht zu werden, doch vorgreifend kann man sagen: Aue ist ein Kunstprodukt, das – Littell hat verschiedentlich darauf verwiesen mit französischer Literaturtheorie vertraut zu sein – sich seiner Künstlichkeit unumwunden bewusst ist. Aue erzählt nicht einfach „seine“ Geschichte. Aue ist der erste gelungene Versuch einer jüngeren Generation, sich dem Grauen zu nähern und einen Standpunkt zu finden; in Aue ist die gesamte Rezeptionsgeschichte dessen, was gern unter „Auschwitz“ subsumiert wird, eingeschrieben und genau das macht Littells Buch zu einem Großroman, einem der ersten wirklich wesentlichen Werke des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Meta-Roman, der die Wirkung dessen, was ‚Shoah‘ bedeutet nicht nur mitdenkt, sondern zur eigentlichen Referenz macht. Koja Solm – und durch ihn natürlich sein Schreiber, Chris Kraus – hingegen plaudert und verfällt dabei gelegentlich in Plapperei. Er plappert einem sterbenden Hippie die Ohren voll und er plappert letztlich seiner Ev die Ohren voll und eben uns, den Lesern. Er soll und will uns schockieren, das ist klar, dessen müssen wir uns vollkommen bewusst sein. Also ist auch der plappernde, plaudernde Ton Teil dieses Schocks. Da erzählt ein Täter ununterbrochen davon, wie er leider gar nicht anders konnte, musste er doch sein und das Leben seiner geliebten Schwester, seiner geliebten Geliebten und schließlich wieder seiner geliebten Schwester, nun auch seine Ehefrau, retten. Dabei verfällt er oft in einen an Zynismus grenzenden Duktus, der uns suggeriert, daß all dies – das Grauen, das Unheil, die Not, das Elend und der Tod, vor allem der gewaltsame – auf den Trümmern der Geschichte nichts weiter ist als Asche und Staub. Schall und Rauch, verklingende Echos, nichts weiter.

Und da Kraus seinem Antihelden ein Schicksal zurechtschneidert, das etliche Vorbildern in der Literatur vermerkt, nicht zuletzt der Literatur zur Schoah, mutet die Geschichte nach Koja Solm auch an wie ein Narrenhaus, in dem es allein der Zufall will, ob man nun Täter, Opfer oder beides sei. Und der Erzähler stolpert hindurch wie das Negativ eines lettischen Forrest Gump, ein Schelm der Vernichtung, immer nur Gutes bewirken wollend und dabei immer Böses schaffend. Der sich aber – davon zeugt sein Bericht an den und sein Umgang mit dem Hippie ja durchaus – seine gute Laune nicht hat verderben lassen. Das geht dann allerdings doch zu Lasten der Erzählung, zu Lasten der inneren, der Binnenglaubwürdigkeit. Nehmen wir diesem von kaltem Blut Durchfluteten seinen Schmerz über den Verlust seiner Tochter ab? Oder den über den Tod seiner russischen Geliebten? Kraus muß geahnt haben, daß der Leser möglicherweise mit dem Ton dieser Erzählung ein Problem haben könnte, weshalb er zur Verdeutlichung bspw. des Schmerzes zu immer weiteren Übertreibungen und Verdrehungen greift. Seien es die immer mit sich  geführten Zähne der Toten, sei es ein Jahre anhaltendes Zwiegespräch  mit der toten Tochter – alles hier wird zu einer weiteren Episode, zu einem neuen Abenteuer, einer Marotte, auf jeden Fall zu etwas Äußerlichem. Nichts können diese Figuren in ihrem Innern erleben, alles muß raus, alles muß dinglich werden, fass- und greifbar, materiell. Da türmen sich dann Verschachtelungen, als befinde man sich in einem der ausgreifenden Romane eines John Irving und es quillt einem eine ähnliche erzählerische Lust, die sich aber scheinbar selbst genügt, entgegen. Nur wird hier früher oder später auf diese Art auch alles gleich. Ob Erschießung Wehrloser in einem Wald bei Riga, Katz-und-Maus-Spielchen mit Reinhard Gehlen und dessen israelischen Gegenüber oder der Mord an einem jüdischen Nebenbuhler – das eine wie das andere wird plaudernd abgehandelt und bleibt oft pure Behauptung. Sollten diese Vorkommnisse Spuren in diesem Mann hinterlassen haben, werden diese nicht doch nicht lesbar, nicht spürbar. Es bleiben Zeichen auf Papier. Es erschließt sich dem Leser – auch das ein Unterschied zu Littells Werk – nicht, was uns dieser Koja Solm eigentlich zu erzählen hat? Seine Lebensgeschichte? Die nun mal zufällig in diese Zeiten fiel? Dann hätte sich der Autor auch den 30jährigen Krieg, den Ersten Weltkrieg oder die 68er-Unruhen aussuchen können. Wenn man über die Shoah schreibt, sollte man doch auch etwas zu diesem Komplex beitragen wollen? Aber die Shoah einfach als pittoresker Hintergrund für ein abenteuerliches Leben? Vielleicht gelingt dem Autor ja (unbeabsichtigt?) das wunderbare Portrait eines Menschen am Ende seines Lebens, dem nicht einleuchten will, weshalb er dieses Leben – wohl sein einziges – trotz all der Fehler, die er gemacht hat, nicht gutheißen soll? Warum verdammen, was man doch er- und ge-  und vor allem überlebt hat? Im Gegensatz zu manch anderem. Das mag sein, doch es ist nicht relevant. Jedes andere Thema hätte es dazu ebenfalls getan. Aber der Autor wählt die Shoah und lässt einen Täter von seinen Taten daherreden, gelegentlich fallen Sentenzen wie die, dieser oder jener sei „dem Holocaust von der Schippe gesprungen“, das Grauen, das dieser bisher größte Genozid der Geschichte, über dessen Einzigartig- und Einmaligkeit, seine Singularität, jetzt, wo die Opfer und Täter, also die Zeitzeugen, langsam aussterben und – ob man will oder nicht – mit der Historizität auch die Fiktionalisierung beginnt, erneut gestritten wird, ausgelöst hat, wird schlicht nicht spürbar. Verpackt in eine leidlich spannende Spionagegeschichte, schnurrt das Zentralereignis des 20. Jahrhunderts auf eine Art Abenteuerspielplatz für echte Kerle und verdrückte Kerlchen zusammen, man gewinnt den Eindruck, weder Koja Solm noch seinem Autoren seien das, was da geschehen ist, wirklich zu Bewußtsein gekommen.

Wer spricht? Das ist, das wird die entscheidende Frage sein ab nun. Es wird vom Holocaust erzählt werden und naturgemäß werden die kommenden Geschichten zusehends fiktionaler werden, zusehends der Phantasie ihrer Autoren entspringen. Dabei werden sicherlich immer wieder hervorragende Werke entstehen, es werden aber auch zusehends mediokere bis schlechte Bücher entstehen, deren Existenz man schlichtweg hinnehmen muß. Das Diktum, das ein Mann wie Claude Lanzmann noch in den 80er und 90er Jahren aufstellen und verteidigen konnte – daß ein Ereignis wie die Shoah zu fiktionalisieren eine Ungeheuerlichkeit gegenüber der Weite des Ereignisses darstelle, eine Aussage, die sich damals u.a. explizit auf Steven Spielbergs Film SCHINDLER`S LIST (1994) bezog – wird sich nicht mehr halten lassen. Doch kann man anhand der Werke, die sich ernsthaft  mit der Geschichte und Geschichtlichkeit der Shoah auseinandersetzen, durchaus ablesen, wie ein Schreiben über „Auschwitz“ funktionieren kann, auch fiktional, ohne daß der Autor sich oder sein Werk korrumpiert. Man lese die Werke von Littell, von Daša Drndic, Thomas Harlan, von Ursula Ackrill oder jüngst Claudio Magris, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, mit welcher Ernsthaftigkeit und mit welcher Wahrhaftigkeit über die Shoah, den 2. Weltkrieg und die Verarbeitung der damaligen Erlebnisse berichtet werden kann. Man achte aber vor allem darauf, wen diese Autoren zum Sprechen bringen und von welchem Standort aus. Wer  spricht? Spricht da ein Täter oder ein Opfer? Und wer lässt sprechen? Dabei ist es durchaus nicht unwesentlich, ob ein Deutscher oder ein Amerikaner oder ein Argentinier Schöpfer der Figuren sind. Der Standort des Sprechers und des Sprechenden werden gerade für  diese Literatur ein wesentliches Merkmal sein.

Chris Kraus ist ein unterhaltsamer, flott geschriebener Roman gelungen, der uns Einblicke gibt in die Geschehnisse jener dunklen Tage und ein Schlaglicht wirft auf die Entwicklungen, die sich in den folgenden Jahrzehnten des Friedens daraus ergaben. In einem Nachwort gibt er Auskunft über die Literatur, die er zur Recherche herangezogen hat und man sollte davon ausgehen, daß alles, was Kraus präsentiert, erst einmal den Tatsachen entspricht. Es ist die Konstruktion, der Tonfall, die mangelnde Distanz nicht nur der erzählenden Figur, sondern die mangelnde Distanz des gesamten Textkörpers zu sich selbst, die aufmerksame Leser aufschrecken lässt. Es ist ein Buch wie ein Hybrid. Denn es wäre gelogen, wenn man nach der abgeschlossenen Lektüre von 1200 Seiten behaupten wollte, das habe nicht gefesselt. Man hält kaum eine solche Strecke durch, wenn man nicht auch gebannt wäre. Doch macht diese Tatsache die Angelegenheit eben auch zu einem schwierigen Lektüreerlebnis, das dann ganz anders nachhallt, als vom Autor wahrscheinlich erwünscht. Denn anstatt dem Echo der Figuren und ihrer Erlebnissen zu lauschen, beginnt man, sich mit Form und Stil und den oben angerissenen Fragen zu beschäftigen. Was andererseits  natürlich auch nicht das allerschlechteste Ergebnis einer Lektüre ist.

 

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