de SADE. DIE VERMESSUNG DES BÖSEN
Eine hervorragende Biographie des "göttlichen" Marquis
Der Professor für neuzeitliche Geschichte Volker Reinhardt legt mit DE SADE. DIE VERMESSUNG DES BÖSEN die erste seriöse deutschsprachige Biographie des „göttlichen Marquis“ (Apollinaire) vor. Obwohl das Leben eines Mannes, der weit mehr als ein Drittel seines Lebens in staatlichen Gefängnissen verbracht hat, kaum allzu viele Abenteuer und Aufregungen zu bieten haben dürfte, verspricht das des Marquis natürlich allerlei Skandale. De facto hat es derer aber maximal drei in de Sades Leben gegeben, sieht man von all jenen Eklats und Affären ab, die der damals noch als Jüngling zu Betrachtende während seines frühen Dienstes in der königlichen Kavallerie im Siebenjährigen Krieg und anschließend in Paris selbstredend anstrengte. Dies gehörte im Frankreich des ‚Ancien Régime‘ allerdings zum guten Ton.
Weniger wohl gelitten waren hingegen die Verabreichung giftiger Süßigkeiten, die Blasphemie während eines homoerotischen Aktes und auch das Peitschen von Schutzbefohlenen oder bezahlten Dirnen wurde nicht zwingend goutiert. All dies hat der junge Marquis getan und man kann daraus, wie Reinhardt es tut, durchaus schließen, daß es dem Herrn sowohl an Empathie als auch an Mitgefühl mangelte. Reinhardt bezieht sich nicht nur auf Briefe des Marquis selbst und der ihm Nahestehenden, sondern auch auf Protokolle und Aussagen, Befehle und Einträge jener, die mit ihm zu tun hatten oder unter ihm litten. So entsteht ein vergleichsweise klares Bild dieses jungen Libertins, der sich als „Menschenforscher“ sah und zugleich aufbegehrte gegen die Tugend und Leitsätze seiner Zeit und seines Stands. Daß das Leben eigentlich sein Material war, daß der Graf die Welt weniger mit seinem Schreiben – wie er es dann tat – denn mit seinem Tun beeindrucken wollte, geht aus diesen frühen Jahren deutlich hervor. Es waren die Zeitläufte und persönliche Unwägbarkeiten, die seinen Lebensweg dann so zeichneten, wie er schließlich gezeichnet wurde.
Über das skandalträchtige Leben des Marquis existierten immer die gräulichsten Geschichten, nicht zuletzt verbreitet durch den Deutschen Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), dem Erfinder des ‚Sadismus‘, den er u.a. auf die angeblich wirklichen Ausschweifungen des Marquis zurückführte. Wahr ist, daß es die oben beschriebenen Szenen gegeben hat, wahr ist, daß de Sade vor allem wegen der angeblichen Vergiftung angeklagt und schließlich zwar entlastet, dennoch – per ‚Lettre de cachet‘, also eines geheimen Befehls des Königs – nach einigem Hin und Her für mehr als elf Jahre in diversen Verliesen Frankreichs verschwand. Seine erste lange Haftzeit. Hauptsächlich hatte er dies seiner Schwiegermutter, der Madame de Montreuil, zu verdanken. Diese – ursprünglich Anstifterin der Eheschließung ihrer Tochter mit dem Marquis, denn die de Sades waren „alter Adel“, nicht „Neureiche“, als die die Montreuils galten und die Ehe war somit eine soziale Aufwertung der Familie – entwickelte sich im Laufe der Jahre nicht nur zur Erzfeindin de Sades, sondern auch zu seiner Nemesis, war sie doch immer wieder dafür verantwortlich, daß der Graf verfolgt, eingekerkert und verdammt wurde. So suchte sie die Ehre ihrer Familie und des Namens, nicht zuletzt ihre beiden Töchter zu schützen, denn de Sade hatte zwar Reneè-Pélagie de Montreuil geheiratet, war dann aber mit deren jüngerer Schwester Anne-Prospère durchgebrannt. Trotz des Leids, den sie ihm angetan hatte, rettete de Sade seiner Schwiegermutter und auch deren Gatten in den Wirren der Revolution mindestens einmal das Leben, indem er beim Revolutionsrat Wort für sie einlegte. Diese kurzen Jahre während der Revolution und des Regimes der Montagnards, durchlebte der Marquis erstaunlicherweise als Revolutionär. Obwohl exakt der Kaste, jenem Stand angehörig, welche die Revolution hinfort gefegt hatte, mal auch durch die Jakobiner eingekerkert und zum Tode verurteilt (wie zuvor durch das ‚Ancien Régime‘), dann gerettet durch die „Revolution in der Revolution“ gegen Robespierre, gelang es de Sade sogar, schließlich in jene Kommission gewählt zu werden, die für die Neuorganisation der Hospitäler zuständig war. Und doch – schließlich geschieden, verarmt und erkrankt – landete der Marquis auch nun wieder im Gefängnis, wieder war es ein Skandal, doch zugleich auch der Verdacht, er sei der Verfasser des JUSTINE/JULIETTE-Doppelromans, der zwar anonym erschienen war, doch sofort de Sade zugeordnet wurde, die ihn vor den Richter brachten. Schließlich wurde de Sade für die letzten elf Jahre seines Lebens in die „Irrenanstalt“ Charenton verbracht. Dort allerdings erlangte er noch einmal Ruhm, kam er doch auf seine alte Leidenschaft – das Theater – zurück und brachte diverse Stücke, auch eigene, mit den „Irren“, also den anderen Insassen der Anstalt, zur Aufführung. Diese wiederum erlebten großen Zuspruch auch der Pariser Gesellschaft. Wer auf sich hielt, besuchte das vor der Stadt gelegene Asyl und schaute sich eine der de Sade´schen Aufführungen an. „Tout le monde“ traf sich hier, es hatte Chic.
Dieses Leben eines hohen Aristokraten und Libertins in sowohl geistig wie sozial und schließlich politisch unruhigen Zeiten, war vielleicht nicht so ungewöhnlich, hätte de Sade nicht – Kind seiner Zeit, wurde er doch 1740 geboren – ausgesprochen ungewöhnliche und schließlich durchaus radikale Ansichten ausgeprägt, verfasst und veröffentlicht. Daß blasphemische Rituale immer wieder im Mittelpunkt seiner Miniorgien standen, deutet seine tiefe Verachtung des Christentums schon an. De Sade leugnete Gott, nannte sich einen Atheisten, entwarf eine auf Rousseau zielende negative Naturphilosophie und stellte maximale Fragen an das Denken seiner Zeit – die Aufklärung. Eben am Theater und damit am neben dem Roman zentralen Medium seiner Zeit interessiert, machte de Sade frühe literarische Versuche mit eigenen Einaktern und kleinen Skizzen, die er selber im Stammschloß der Familie in Lacoste zur Aufführung brachte. Daß er sich jedoch mit all seiner Kraft, seiner Vitalität dem Schreiben hingab, hatte zweifellos mit seinen Haftbedingungen, der Langeweile und Unfreiheit im Kerker zu tun. Letztere muß für einen bekennenden Libertin unter vielen die schlimmste Demütigung gewesen sein. So wird dies de Sades Zorn auf einen absoluten Gott und einen absoluten Staat, was einander recht nahe kam, umso mehr angefacht haben. Sein Schreiben ist auch Zeitvertreib und Provokation gewesen. Mehr aber ist es der Versuch, mit der reinen Geisteskraft, der Phantasie, nicht nur die engen Mauern eines Gefängnisses zu überwinden, sondern die engen Grenzen einer tugendhaften Standesgesellschaft zu sprengen und diese mit Gedanken und Ideen zu infizieren (so de Sade selbst), die sie zersetzen und von Grund auf verändern sollten.
So sind die Schriften dieses Mannes weitaus interessanter, als die Ereignisse seines Lebens. Reinhardt macht sich, nachdem er dem Leser im ersten Drittel seines Buches von den frühen Erlebnissen des Marquis berichtet und somit eine analytische Basis geschaffen hat, an eine genaue und vor allem übersichtliche Untersuchung des de Sade´schen Gesamtwerks. Er geht genauer auf DIE 120 TAGE VON SODOM ein, ebenso auf DIE PHILOSOPHIE IM BOUDOIR und schließlich auf die diversen Fassungen und vor allem die sich von Fassung zu Fassung abbildende Entwicklung des Doppelromans JUSTINE/JULIETTE. Doch neben diesen Hauptwerken, widmet sich Reinhardt mit Kenntnis auch den frühen Werken und nimmt, in einer deutschen Bearbeitung so sicherlich zum ersten Mal, auch und vor allem den DIALOG EINES PRIESTERS UND EINES STERBENDEN und, noch wichtiger, den Schachtelroman ALINE ET VALCOUR zur Erläuterung des de Sade´schen Denkens hinzu. So entsteht das unaufgeregt dargebotenes Panorama eines Denkers, der manches Mal nicht nur modern, sondern in den Vexierspielen, die seine Texte, mehr noch seine Theaterstücke, mit dem eigenen Leben und dem Schreiben treiben, geradezu postmodern anmutet. Immer auf der Höhe seiner Zeit – man kann verhältnismäßig gut nachvollziehen, was de Sade in seinen diversen Gefängnissen las – nutzte er bspw. den beliebten Reiseroman, um seine ganz eigene Form einer Utopie und einer Dystopie in ALINE ET VALCOUR auszubreiten. Anders als seine Zeitgenossen, fand er in der Fremde zwar ebenfalls einen Tugendstaat, der sich das Glück und die Zufriedenheit seiner Einwohner auf die Fahnen geschrieben hat, doch zugleich erschafft er zu diesem Paradies ein Gegenmodell, damit seine Leser bloß nicht vergaßen, daß es immer zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, die den Menschen in seinen Widersprüchlichkeiten ausmachen. Dadurch, daß er zwar mit Vehemenz eine gewisse philosophische Haltung vertrat, zugleich aber nicht davor zurückschreckte, auch im eignen Denken Widersprüche und Ambivalenzen aufzudecken und diese dann als solche auch stehen zu lassen, ist de Sade seiner Zeit weit voraus. Als wolle er seine „Erzählung“, denn man sollte sein Werk doch in Beug zueinander auffassen, zum Ende – des eigenen Lebens – hin offenlassen, hält er es aus, daß seine theoretischen Ansätze nicht aufgehen. Genauso mutet er es seinen Lesern zu, dies aushalten zu müssen.
De Sade verachtete die Tugend, die er als christliches Instrument der Unterdrückung der natürlichen Triebe ansah. Gott, da war sich der Marquis sicher, Gott existierte nicht (ihn für tot zu erklären, hätte de Sade wahrscheinlich als genau das erkannt, was es war: Eine schwächliche Distanzierung von etwas, das einen beherrschte), es existierte lediglich die Natur. Das Wesen der Natur aber ist böse. Das Böse, so wie der Mensch es benennt, hat die Natur nicht nur zugelassen, sie hat es geradezu gefordert. Denn nur aus Zerstörung kann Neues erwachsen. Der Libertin, den de Sade in seinen Werken in allen ebenso schrillen wie düsteren Farben ausmalte und beschrieb, der seine böse Neigungen nicht nur erkennt, sondern vor allem an-erkennt, sich ihnen überlässt und sich damit über alle menschlichen, mehr noch: kirchlichen Gebote hinwegsetzt, ist nichts weiter als der Erfüllungsgehilfe dieser im Wesen bösen Natur. Je mehr Menschen der Libertin, auf welch grausige Art und Weise auch immer, vom Leben zum Tode befördert – und was seine Phantasien betraf, kannte de Sade wahrlich keine Grenzen, vor allem Sodomie, Blasphemie, jede Form von Mutter- und Kindsmord und jedwede Art fürchterlichster Foltern hatten es ihm angetan – , desto eher verhilft er der Natur zu ihrem Recht, die aus den zerstörten Körpern – reiner Materie – Neues, Frisches erwachsen ließe. Auch hier – eben bezeichnend für das de Sade´sche Denken – rührt er an jene Punkte, wo es sich selbst in die Quere kommt. Zum lediglich fragmentarisch erhaltenen Schluß der 120 TAGE VON SODOM ergreifen die Libertins in ihrer Maßlosigkeit Maßnahmen wider die Natur selbst. Denn de Sade blieben die Widersprüche seiner Darlegungen ja eben nicht verschlossen: Wenn der Libertin (der „Freigelassene“, also der Freigeist) sich einerseits die absolute Freiheit nimmt, über Wohl und Wehe, Leben und Tod anderer zu verfügen und damit wider Gott und all dessen, was in dessen Namen als „gut“ gelten soll, aufzubegehren, dann mag er in der Illusion leben, wirklich frei zu sein. De facto erfüllt er aber „nur“ die Aufgabe der Natur, der er zuarbeitet. Der Libertin, sich selbst als ein Werkzeug der Natur begreifend, muß also schließlich diese selbst ablehnen und befeinden, nimmt sie ihm doch eben die Freiheit, in der er sich imaginiert. Immer ist sie stärker, als der Libertin selbst, denn sie hat ihn sterblich gemacht. Mag er seinen Frieden darin finden, daß auch er einst zu Staub zerfallen den Würmern Speis´ ist, die absolute Freiheit, die göttliche Freiheit, sich über Raum und Zeit hinwegzusetzen, kann der Libertin nicht erlangen und somit bleibt die Idee Gottes ihm auch deshalb so verhasst, weil sie sich – wie die Natur – als stark, möglicherweise zu stark erweist. Vielleicht sind de Sades Mutterschänder und- mörder auch deshalb so häufig vertreten in seinem Werk, weil sie dieses Aufbegehren gegen „Mutter Natur“, gegen eine immer dem Eigenen übergeordnete Kraft, perfekt symbolisieren.
Nun kann man ein gesamtes Denkgebäude nicht auf einigen Seiten wiedergeben. Was also vor allem von Interesse ist, ist die Diskrepanz zwischen seinen Phantasiegestalten, die er nie, nicht ein einziges Mal, sympathisch zeichnet, sondern als die verkommensten Wesen schildert, die man sich nur denken kann – allein ihr Erscheinungsbild spottet schon jeder christlichen Tugend – und seinem eigenen Leben. Er selber vertrat viele Ansichten seiner Fabelwesen – er glaubte an die Aristokratie, weniger an den Absolutismus, wie wohl die meisten seiner Standesgenossen; er war überzeugter Materialist, was natürlich nicht zuletzt seiner Abneigung gegen die christliche Kirche geschuldet war; er glaubte an eine „natürliche Ordnung“ – doch kannte er auch allzu genau die Grenze, die nicht zu überschreiten war. Weder gelüstete es ihn danach, andere zu Tode zu bringen – im Gegenteil brüstete er sich damit, einst ein Kind unter einem rollenden Wagen hervorgezerrt zu haben; desweiteren war er ein entschiedener Gegner der Todesstrafe, was sich sowohl aus seinen Überzeugungen ergab, als, in seiner Stellung, auch rein pragmatischer Überlegungen verdankte – noch hatte er die wirklich abartigeren Neigungen seiner Fiktionen. Wenn er sich, wie in jenem ersten „Skandal“, der ihm die ersten Anklagen einbrachte, von seinem Diener anal penetrieren ließ, dann hatte das wahrscheinlich weniger mit einer „abwegigen“ Anwandlung zu tun, als damit, daß damit ein maximaler Verstoß gegen die „natürliche“ Ordnung der Stände begangen wurde. Es war ein Akt ebenso aufklärerischen wie revolutionären Tuns: Herr und Diener einander gleich in einer Parodie des ursprünglichsten Akts, den man sich vorstellen kann. Eine semantische, grammatikalische Neuordnung sowohl der kulturellen wie der natürlichen Regeln.
Damit sind die beiden Hauptmerkmale de Sade´schen Denkens und Wirkens erreicht: Sein Verhältnis zur Aufklärung in der Spezifik der Französischen Revolution und damit einhergehend sein Schreiben als ein Akt des Bösen an sich, in dem ununterbrochen herrschende Rangfolgen und Ordnungen angegriffen, aufgelöst, neu organisiert und damit als falsch, weil keiner natürlichen Ordnung entsprechend, entlarvt werden. Der Marquis, darauf weist Reinhardt mehrfach hin, verfügte über einen ironischen, manchmal sarkastischen, durchaus auch sardonischen Humor. Vieles, bspw. jenes Traktat in der Mitte der PHILOSOPHIE IM BOUDOIR, in der er den Franzosen erklärt, es sei nur noch eine kleine Anstrengung von Nöten, dann sei das Werk, zum Republikaner zu werden, vollbracht, muß wohl wirklich als Ausdruck tiefster Ironie gelesen werden. De Sade stellt die Aufklärung vor einige Probleme, weil er sie mit einigen inneren Widersprüchen konfrontiert, mit Paradoxien, denen sie im Grunde bis heute nicht entkommt. Wenn im hellen Lichte der Vernunft aber immer noch einem System gehuldigt wird, das Ungleichheit hervorbringt, wenn immer noch einem Gottesbegriff gehuldigt wird, den er, der Marquis de Sade, doch längst als überholt bewiesen hatte – wie konnte es dann sein, daß sich hier angeblich die neue Zeit aufmachte? Wie ist die Freiheit zu definieren, die die Aufklärung verspricht? Er, der schließlich unter drei verschiedenen Regimes, darunter einem vermeintlich aufklärerischen, im Kerker gesessen hatte, wusste doch besser als jeder andere, was Gefangenschaft war, egal wie der Kerkermeister sich gerade nannte oder in wessen Auftrag er die schweren Türen verschloß.
De Sade warf immer das eigene Leben in die Waagschale des Diskurses. Er war sich bewusst, daß er dabei Widersprüche in Kauf nehmen musste, auch, daß seine Philosophie möglicherweise – anders als die der sogenannten „Meisterdenker“ seiner Zeit, wie Voltaire, Kant oder gar der von ihm verachtete und gehasste Rousseau – kein abgerundetes, in sich geschlossenes System bildeten. Dafür hatte er wohl wie kein anderer erkannt, daß es neben der Vernunft eben im Menschen auch eine andere, dunklere Seite gab, eine Seite, die manchmal dem reinen Irrationalismus folgt und die wir wohl unterdrücken oder verdrängen können, beerdigen unter Haufenweise Tugendbüchern und Ideen der Vernunft, nicht aber werden wir das, was sie ausdrückt, je ganz dem Menschen austreiben können. De Sade führt die Aufklärung mit seinem Begriff absoluter Freiheit, die eben auch die bedeutet, die Freiheit anderer maximal zu beschneiden, indem man sie tötet, an den Rand ihrer Möglichkeiten. Im de Sade´schen Denken muß sie sich ihrer selbst stellen und vor sich selbst für ihre Ideen, im Spiegel seines Lebens für die Umsetzung dieser Ideen Rechenschaft ablegen.
Im abschließenden Kapitel seines Buches, dem sehr empfehlenswerten sechsten Kapitel, geht Reinhardt auf die Rezeptionsgeschichte zu de Sade ein. Daß der Marquis zunächst nahezu 150 Jahre lang – auch von der eigenen Familie – unter Verschluß gehalten und totgeschwiegen wurde, wird wohl den Zeitläuften geschuldet sein. Obwohl die schwarze Romantik ihn schon entdeckte, Byron und Shelley, war es der Deutsche Krafft-Ebing, der aus dem Denker de Sade den pathologischen Fall machte und den Begriff des „Sadismus“ einführte. Das bestimmte die Rezeption gerade in Deutschland für lange Zeit. Erst das 20. Jahrhundert entdeckte de Sade neu und fing an zu begreifen, wie weit vorausschauend der Graf gedacht hatte. Reinhardt geht auf die wesentlichen Texte zu de Sade ein, jene von Blanchot, Klossowski und Bataille, aber ebenso auf die der Existenzialisten wie Simone de Beauvoir und Albert Camus, beide enorm wirkmächtig. Beide vereinnahmten ihn für die existenzialistische Philosophie, denn hatte er als gnadenloser Materialist nicht lange vor Sartre und den andern entdeckt, daß wir in ein Dasein gestoßen werden, dessen Sinn wir ganz allein generieren müssen? Hatte er nicht genau erkannt, was Sartre mit seinem Satz, die Hölle, das seien die andern, beschrieb? Reinhardt verdeutlicht anhand dieser Texte aber auch, wie de Sade gerade im 20. Jahrhundert vereinnahmt wurde und ein jeder in ihn hineinlas, was er oder sie gerade brauchte. So würdigt Reinhardt schließlich auch Roland Barthes epochemachenden Text zu SADE – FOURIER – LOYOLA, der den Grafen wieder an sich selbst zurückgab, indem er genau untersuchte, was de Sade eigentlich trieb. Barthes war es, der in den de Sade´schen Menschenknäueln, den Anordnungen und Austäuschen von Säften sowie Opfer- und Täterstatus nicht nur ein zutiefst semiologisches System entdeckte, der begriff, wie man „Theater“ nach de Sade auffassen musste: nämlich als etwas, das immer von der Bühne übergriff auf den Zuschauer, ihn infizierte und somit in das Geschehen mit einbezog, den Betrachter infizierte, was de Sade auch mit seinen Romanen zu tun hoffte, sondern daß hier auch eine grunddemokratische Überzeugung zum Ausdruck kommt. In den de Sade´schen Anordnungen und Foltersequenzen herrscht eine Gleichheit, die wesentlicher ist, als die beschriebenen Inhalte. All die Gewalt, die Quälereien, die Vergewaltigungen, die Todesqualen, Verstümmelungen und Folterungen stoßen natürlich ab. Doch sollte man sehr genau darauf achten, es dabei so gut wie nie mit Abdrücken einer irgendwie gearteten Realität zu tun zu haben. Die Verrenkungen, die diese Wesen vollziehen, um sich gleichzeitig zu penetrieren, oral und anal zu befriedigen und zugleich noch Peitschen oder Brennhölzer zu schwingen oder anzusetzen, sind schlicht unmöglich. Hinzu kommt das de Sade´sche Unvermögen, sich in andere und deren Schmerz hineinzudenken: Diese Figuren können noch die schauerlichsten Marterungen ertragen, am folgenden Morgen stehen sie da – frisch, fröhlich, frei – um weiter zu machen. So wird der serielle Charakter dieser Taten – einmal mehr auch ihre Maßlosigkeit – verdeutlicht, es kommen aber auch die Einöde und Langeweile des Immergleichen der Festungshaft zum Ausdruck und eine als hochmodern aufzufassende Idee von Gleichheit. Denn im seriellen kommt auch das Demokratische zu seinem Recht. Der ewige Austausch zwischen Aktiven und Passiven, die Wechsel nicht nur dieser Anordnungen, sondern auch die darin sich ausdrückende Gleichsetzung von Herrn und Dienern und – was de Sade besonders modern macht – von Mann und Frau, wird durch die Wiederholung und ewige Neuauflage dem Leser nicht nur eingehämmert, sondern auch formal und formalistisch beglaubigt. Barthes ist es gewesen, der als erster wirklich auf die Texte geschaut und nicht das eigene Anliegen mit de Sade´schen Texten unterfüttert hat. So konnte er eine neue Lesart de Sades ermöglichen, die bis zu Pasolinis Adaption der 120 TAGE VON SODOM für seine Faschismusanalyse in SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975) reicht.
Natürlich ist de Sade lesen eine mühsame Angelegenheit, die Wiederholungen sind ermüdend und was man geboten bekommt, ist natürlich alles andere als erfreulich. Dennoch sollte man ab und an eines der großen Werke zur Hand nehmen – oder auch einen der kleineren Texte – und sich des de Sade´schen Denkens vergewissern, denn immer noch weiß er uns viel mitzuteilen, dieser radikale Denker seiner Zeit. Volker Reinhardts Biographie – in einem durch Ironie durchaus distanzierten Ton geschrieben, was dem Sujet von heute aus gesehen wahrscheinlich auch am besten bekommt – bietet nicht nur einen guten Überblick über das Leben des Donatien-Alphonse-Francois de Sade, er vermittelt uns auch einen profunden Einblick in das Schreiben, Denken und Wirken des Mannes. Wer sich für die Aufklärung interessiert, sollte auch vor diesem Rand ihres Wirkens nicht zurückschrecken, wer sich für den göttlichen Marquis interessiert, wird wahrscheinlich sowieso nicht drum herum kommen.