DIE MAUERSEGLER/LOS VENCEJOS

Fernando Aramburu folgt einem potentiellen Selbstmörder ein Jahr lang durch Madrid

Ein Mensch hegt die Absicht, seinem Leben ein Ende zu setzten. Das ist entsetzlich und wir würden in den allermeisten Fällen wohl versuchen, ihn davon abzuhalten. Fernando Aramburu lässt in seinem Roman DIE MAUERSEGLER (LOS VENCEJOS; Original erschienen 2021, Dt. 2022) seinen Protagonisten, den Philosophielehrer Toni, ein Tagebuch führen, in dem er ein Jahr lang Rechenschaft ablegen will über sein Leben und seinen geplanten Tod am Ende dieses Jahres. Das Motiv seines Freitodes wird nie wirklich klar, es ist weder eine Depression noch eine tödliche Krankheit o.ä., am ehesten scheint es Überdruss zu sein, die schiere Langeweile, die ihn aus einem Dasein treibt, welches ihm wohl nichts mehr zu bieten hat.

So lesen wir uns also auf über 800 Seiten durch diesen Rechenschaftsbericht, der den Tagen eines Jahres entsprechend also 364 Einträge aufweist. Ohne jeden literarischen Anspruch, wie uns der Schreiber mehrfach mitteilt, räsoniert Toni über seine gescheiterte Ehe mit Amalia; über seinen Sohn, den er Nikita nennt und der in seinen Augen ein kompletter Versager ist, inklusive eines Hakenkreuz-Tattoos auf seinem Körper; berichtet uns von seinem sozialistischen Vater, der durchaus faschistischen Erziehungsmethoden huldigte und selten vor Schlägen zurückschreckte; von der langsam in der Demenz versinkenden Mutter, die nach des (frühen) Todes des Vaters noch einmal ein spätes Glück fand, welches Toni und sein  Bruder Raul bewusst zerstörten, um die Mutter für sich zu behalten. Toni kann diesen Bruder, Raul, jünger als er, nicht leiden, ja, er „hasst“ ihn gar, wie er überhaupt viele und vieles hasst. Vor allem seine Ex-Frau. Und deren Eltern, gestandene Faschisten mit einem Hang zur Franco-Verehrung. Freilich werden uns nicht nur Anekdoten aus Tonis vergangenen Leben, sondern auch aktuelle Ereignisse und seine Reaktion auf diese geschildert: Das Leben als Lehrer und die Auseinandersetzung mit der von ihm ebenfalls gehassten Direktorin der Schule, an der er arbeitet, die Krebserkrankung einer seiner Nichten, der Tod der Mutter und schließlich das Auftauchen von Águeda, einer Jugendfreundin, die sich recht robust in Tonis Leben drängt, wenn auch auf leisen Pfoten. Und immer wieder berichtet uns Toni von seinen Treffen und Gesprächen mit „Humpel“, seinem besten – und einzigen – Freund, dem er den zynischen Spitznamen verpasst hat, nachdem der einen Fuß bei einem der fürchterlichen Terroranschläge in Madrid im März 2004 verloren hat. „Humpels“ realen Namen erfahren wir nie.

Nun teilt Toni uns immer wieder mit, dass er keine literarischen Ansprüche stellt, doch ist dieser Roman selbstverständlich sehr genau – und sehr gut – durchkomponiert. Würde so ein Mensch schreiben, der des Lebens überdrüssig ist? Wahrscheinlich nicht. Würde es einen Spannungsbogen geben in einem solchen Werk? Eher nicht. Würde ein potentieller Lebensmüder es wirklich als wesentlich erachten, einem Sohn, den er verachtet, den er für einen Verlierer und Dummkopf hält, 800 Seiten zu hinterlassen, um sich zu erklären? Und dann eben doch nicht alles erklärt? Auch hier: Wahrscheinlich eher nicht. So könnte man also schon anhand des Werks selbst und seines Umfangs sagen: Wir haben es mit einem gnadenlosen Narzissten zu tun, der Nabelschau betreibt. Und so, wie er über sich, die Menschen seines Lebens und seine Vorlieben schreibt, wird sich ein solcher Mann im Leben nicht umbringen, um im Bilde zu bleiben.

Soviel Spoiler muss sein: Tut er auch nicht. So jemand kann sich gar nicht töten. Und sobald man das kapiert hat – und man kapiert es recht früh – fangen Toni und seine Ein- und Auslassungen an, den Leser zu enervieren. Unglaublich zu nerven. Er langweilt mit seinem Hass, seinem Überdruss, seiner Verachtung, die eigentlich immer auf ihn selbst zurückfällt. Gleich ob er seine Ex-Frau beschreibt oder seinen Sohn, die Schwiegereltern oder den Bruder, immer bringt Toni ein unglaubliches Überlegenheitsgefühl, ja Verachtung gegenüber seiner Umwelt und dem Leben der anderen zum Ausdruck. Das ist literarisch natürlich hervorragend gemacht – von Fernando Aramburu, der uns ein Ego-Monster par excellence vorführt. Und natürlich müssen Hauptfiguren oder Ich-Erzähler in Romanen nicht sympathisch sein; Nabokov hat das mit Humbert Humbert, der Hauptfigur seines Jahrhundertromans LOLITA (1955/57) ja eindrücklich vorgeführt (na gut, auch Shakespeare hat es mit einigen seiner Figuren bewiesen): Allerdings hat Nabokov die Messlatte auch enorm hoch gehängt. Dieser Philosophielehrer, den Aramburu hier erzählen lässt (und den er im weniger schmeichelhaften Sinn des Wortes tatsächlich indirekt vorführt) ist leider nicht interessant genug, seine Gedanken sind nicht wesentlich und packend genug, um den Umfang dieses Romans wirklich zu rechtfertigen.

Also baut Aramburu eine Reihe von Merkwürdigkeiten, Doppelböden und Umwege in seinen Text ein, um uns bei der Stange zu halten. Immer bleibt das Gefühl, dass da noch etwas ist, ein Mehr, welches wir ahnen, von dem der Text raunt, das aber nie greifbar wird. So bittet „Humpel“ bspw. Toni gelegentlich, dass dieser ihm Pepa, seinen Hund, für eine Nacht überlässt. Einmal kommt das Tier vollkommen verstört zu Toni zurück, doch nie erfährt dieser – oder erfahren wir – was dahintersteckt. Und Toni scheint es auch nicht wirklich zu interessieren. Vielleicht stellt er seinen Freund zur Rede, vielleicht vergisst er nur, uns – also dem potentiellen Leser seines dezidiert „nicht literarischen“ Textes – davon zu berichten; so oder so entsteht aber eine Leerstelle.

Der Roman ist voller solcher Leerstellen, Merkwürdigkeiten, die uns irgendwie interessieren sollen, die Spannung erzeugen in einem Text, der ja eigentlich keine Spannung bräuchte, die aber auch fürchterlich unbefriedigend sind, eben weil sie leer bleiben. Toni erzählt uns – wie ein roter Faden zieht sich dies durch den gesamten Text – von anonymen Botschaften, die er seit Jahren erhält und deren Inhalt darauf deuten, dass jemand nahezu alles über ihn und sein Leben weiß. Ein Handlungsstrang, der natürlich ebenfalls Spannung erzeugt, der jedoch nirgend wohin führt. Eine Leerstelle. Nun darf Literatur dies natürlich: Leerstellen erzeugen, mit Doppeldeutigkeiten spielen, Ambivalenz herstellen, den Leser verführen, hinter dem „Sichtbaren“ immer eine andere – oder mehrere andere – Ebene(n) zu vermuten. Aber manchmal entsteht auch in der besten Literatur doch der Eindruck, dass dem Autor vielleicht auch einfach nichts eingefallen ist, das gewisse Fäden lose Enden behalten, weil man nichts mit ihnen anzufangen weiß.

So entsteht irgendwann der Eindruck, man habe es mit einem gewaltigen Schwindel zu tun. Ein Gefühl, das schwindeln macht und durchaus eine ganz eigene Spannung erzeugen könnte. „Humpel bspw., den wir nie direkt erleben, sondern immer nur durch den Filter des Schreibers – wie alle Figuren hier, doch sind uns fast alle, sogar Tonis Ex-Frau, näher, gegenständlicher, als dieser Freund, der als Zyniker geschildert wird, der das Leben aber eigentlich liebt, an einer seltsamen Krankheit leidet, die ihm immer wieder fürchterliche Abzesse auf und in den Körper fräst und der sich entschieden hat, es Toni gleichzutun und sich am Ende dieses beschriebenen Jahres das Leben zu nehmen – dieser Mann scheint eine Schimäre zu sein. Gibt es diesen Mann überhaupt? Oder ist er eine imaginäre Figur, mit welcher der Ich-Erzähler Toni Zwiesprache hält? Angeblich aber ist auch Águeda mit ihm befreundet. Könnte also auch sie vielleicht eine Einbildung des Verfassers sein? Könnten wir es hier en Gros mit den Hirngespinsten eines unfassbar Einsamen zu tun haben?

Zugleich stellt sich aber die Frage: Interessiert uns das wirklich? Wie müsste dieser Mann agieren, was müsste er beschreiben, besser vielleicht: Wie müsste er schreiben, damit wir, die Leser, all dem, was er berichtet, wirkliches Interesse entgegenbringen? Denn dies bleibt einfach unbefriedigend. Manchmal durchaus witzig, wobei einem das Lachen im Halse stecken zu bleiben droht, manchmal melancholisch, mit einem guten Gespür für Madrid als Lebensraum und Lebenszustand, verheddert Aramburu sich doch viel zu häufig zwischen den Zeitebenen, so dass der Leser manchmal wirklich raten muss, wo er sich gerade befindet – in einer Erinnerung aus ferner Zeit oder dem Bericht dessen, was am vorigen Tage geschehen ist? Und immer wieder wirkt dies alles redundant, unwesentlich, profan.

Ein wenig gewinnt der Leser, der Aramburus Vorgänger, das großartige PATRIA (2016) kennt, den Eindruck, dass der Autor sich maximal vom eigenen Werk absetzen wollte. Was dort das Politische und Öffentliche im Privaten beschrieb, wird hier zur reinen Innenschau und bewussten Abkehr von aller Beteiligung am Öffentlichen. Dazu zählen auch Tonis Beschreibungen, wie er bei den anstehenden Wahlen irgendetwas ankreuzt und sich so oder so längst jenseits alles politisch Relevanten wähnt. Jedoch – und das viel zu früh – ahnt der Leser, dass all die Bemühungen, das Weltliche hinter sich zu lassen (u.a. verteilt der Herr Philosoph seine Bibliothek über halb Madrid, um sie so unters Volk zu bringen) eben genau das sind: Ein Wahn. Denn dieser Toni ist dem Hiesigen viel zu sehr zugewandt, um seine Drohung wirklich wahr zu machen. Und irgendwann, ebenfalls nicht allzu spät im Roman, drängt sich der Verdacht auf, dass wir schlicht der Midlife-Crisis eines Vierundfünfzigjährigen beiwohnen, der sich vor sich selbst zu rechtfertigen sucht. Und solche hat man dann – gerade als Vierundfünfzigjähriger – dann doch zu viele in der unmittelbaren Umgebung, als dass man dies auch noch als Literatur bräuchte.

 

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