DIE POLARFAHRT. VON EINER UNWIDERSTEHLICHEN SEHNSUCHT, EINEM GRANDIOSEN PLAN UND SEINEM DRAMATISCHEN ENDE IM EIS/IN THE KINGDOM OF ICE: THE GRAND AN TERRIBLE POLAR VOYAGE OF THE USS JEANNETTE

Hampton Sides gibt dem Leser tiefe Einblicke in ein Abenteuer des 19. Jahrhunderts

Hampton Sides entführt den Leser in DIE POLARFAHRT. VON EINER UNWIDERSTEHLICHEN SEHNSUCHT, EINEM GRANDIOSEN PLAN UND SEINEM DRAMATISCHEN ENDE IM EIS (IN THE KINGDOM OF ICE: THE GRAND AND TERRIBLE POLAR VOYAGE OF THE U.S.S. JEANNETTE; original erschienen 2014, Dt. 2017) an einen jener weißen Flecken, mit denen die Karten der Welt des 19. Jahrhunderts noch zuhauf übersät waren und die Terra incognita, unbekanntes Land, markierten. In diesem Fall, der Titel verrät es bereits, ist das mit dem weißen Flecken wörtlich zu nehmen, denn hier geht es um eine jener Expeditionen ins Polarmeer, derer es einige gegeben hat. Ins nicht ganz so ewige Eis also. Das Polarmeer stellte für Forscher, Wissenschaftler und Abenteurer eines der großen geographischen Rätsel ihrer Zeit dar.

Männer wie Dr. August Petermann, einer der weltweit führenden Geographen und, wichtiger, Kartographen seiner Zeit, gingen davon aus, dass der Nordpol eisfrei sei, hinter der Packeisbarriere möglicherweise gar ein unbekannter Kontinent liegen könnte, den eher warmes, wenn nicht gar heißes Klima auszeichne. Interessanterweise waren es aber nicht Männer wie Petermann, die das Wagnis eingingen, den Wahrheitsgehalt ihrer Thesen zu überprüfen. Das blieb Männern wie George DeLong vorbehalten; Abenteurern, die Schiffe beluden, Expeditionen ausstatteten, sich den Unbilden der Elemente aussetzten und oft genug mit ihrem Leben für ihren Kenntnisdrang und Wagemut bezahlten. Von den zahllosen Matrosen und Soldaten, die für diese teils wahnwitzigen Unternehmungen ihren Kopf hinhalten und ebenfalls oft genug mit dem Leben bezahlen mussten ganz zu schweigen. Petermann hingegen war einige Male durch Europa gereist, hatte aber nie die entfernteren Regionen gesehen, die er in seinem Institut kartographieren ließ. Und er hatte auch kein sonderliches Bedürfnis, diese Gegenden kennenzulernen.

Zumeist waren es wissenschaftliche Expeditionen, die von staatlichen – im 19. Jahrhundert also oft königlichen – Stellen oder gleich der Marine ausgestattet und finanziert wurden. Doch nachdem einige dieser Unternehmungen gescheitert waren – die bekannteste darunter sicher die Franklin-Expedition, die im Jahr 1845 aufgebrochen war, die Nordwestpassage zu finden und zu durchsegeln und die auf mysteriöse Weise verschwand; ihr Verbleib beschäftigte Forscher bis weit ins 21. Jahrhundert hinein, als man schließlich die beiden Wracks im Eis fand – blieb es meist privaten Financiers vorbehalten, den Abenteuergeist kühner Männer wie eben DeLong zu unterstützen. Im vorliegenden Falle war es James Gordon Bennett jun., genannt Gordon Bennett, Verleger einer der damals führenden amerikanischen Tageszeitungen, des New York Herald (dessen Geschichte jene, die gern „Lügenpresse!“ brüllen sehr genau studieren sollten), Exzentriker, Sportenthusiast und Wiederholungstäter was das Ausstatten diverser Expeditionen betrifft. So hatte er – immer den Vorteil eines Exklusivberichts im Auge, Bennett hielt sehr viel davon, die Nachrichten, über die sein Blatt berichtete, gleich selbst zu produzieren (noch einmal: Lügenpresse etc.) – den Reporter und Abenteurer Henry Morton Stanley gen Afrika entsandt, wo dieser den Missionar und Arzt David Livingstone auftreiben sollte, der seit Jahren als verschollen galt. Stanley lieferte.

Bennett war, wie viele Menschen seiner Zeit, fasziniert von der Arktis und hatte bereits eine Expedition ins Eis finanziert, die den angeblichen Fund von Papieren der bereits erwähnten Franklin-Exkursion bestätigen sollte. Auf dieser Fahrt hatte sich eben jener George DeLong ausgezeichnet, der danach ebenfalls von der Arktis fasziniert war und unbedingt Petermanns Thesen über das eisfreie Nordpolarmeer bestätigen wollte. Er hatte über Jahre alle möglichen Informationen zum Thema zusammengetragen und konnte Bennett so überzeugen, ihm ein Schiff, eine Mannschaft und das notwendige Zubehör zu bezahlen. Natürlich entsendete Bennett mit Jerome Collins auch einen eigenen Mann, der – exklusiv, was sonst? – für den Herald berichten sollte. Nach einer erneut mehrjährigen Vorbereitungszeit brach die U.S.S. Jeannette Anfang September 1879 von San Francisco auf, um sich gen Nordpol durchzuschlagen. Man hatte bewusst den vielversprechenderen Weg durch die Beringstraße gewählt, von wo man sich einen einfacheren Zugang zu jenen Regionen hinter dem Packeis versprach als von den bisher gängigen Routen die amerikanische Ostküste hinauf oder den europäischen Routen über Island.

Nach anfänglichen Erfolgen mussten DeLong und seine Männer feststellen, dass die meisten Gewissheiten hinsichtlich des Packeises und des Polarmeeres keineswegs mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Das Schiff wurde im September 1879 vom Packeis eingeschlossen, driftete nahezu zwei Jahre mit dem Eis, bis es seinen Kampf schließlich aufgab, langsam zerbarst und unterging. Für die immer noch vollständige Besatzung begann ein Martyrium: Die Männer schleppten sich nahezu 3.000 Kilometer (nimmt man alle Umwege und Zickzack-Kurse zwischen berstenden Eisplatten und sich auftürmenden Eisschildern hinzu) durch das Eis, bis es ihnen gelang, offene See zu erreichen. DeLong teilte die Männer in drei Bootsbesatzungen auf, ein jedes versuchte schließlich auf eigene Faust, das sibirische Festland zu erreichen. Zusammen zu bleiben, wie es ursprünglich geplant war, erwies sich als unmöglich. DeLong und seine Crew landeten im sich ewig verändernden Mündungsdelta der Lena, wo sie sich heillos verliefen und schließlich verhungerten. Lediglich eins der drei Boote gelangte in sichere Gefilde, von den Männern, die DeLong begleiteten, überlebten lediglich zwei, welche der Kapitän vorausgeschickt hatte, um Hilfe zu holen. Das dritte Boot blieb verschollen.

Hampton Sides erzählt diese tragische Geschichte mit der nötigen – auch ironischen – Distanz, die eine solche Heldensaga in Zeiten des Postheroismus braucht, um überhaupt ernsthaft erzählt werden zu können. Er weiß aber auch zum rechten Zeitpunkt umzuschalten und eben die Dramatik und Tragik herauszustellen, die das Unterfangen annahm. Er nimmt sich sehr viel Zeit mit der Einführung, zeigt die gesellschaftlichen Hintergründe auf, erklärt, weshalb in einem ausgehenden Jahrhundert, in welchem Männer sich weitestgehend noch über Heldentaten im Felde beweisen zu müssen glaubten, das Abenteurertum so ausgeprägt gewesen ist. Gerade für die Genration, in die auch DeLong hineingeboren wurde, gilt dies: Zu jung, um bspw. noch im Amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft zu haben, glaubten sie sich gegen die Älteren, die den Krieg unter oftmals fürchterlichen Folgen für ihre geistige und körperliche Gesundheit durchgestanden hatten, durch Heldentaten wie die im Buch geschilderten hervortun zu müssen. Sides lässt den Männern der Jeannette Gerechtigkeit widerfahren, indem er sie so differenziert charakterisiert, wie dies nach all den Jahren anhand der noch vorhandenen Zeugnisse möglich ist. Dabei scheut er sich auch nicht, die Schwächen einzelner herauszustellen, verurteilt jedoch auch niemanden.

Er versteht es, die Strapazen einer solchen Expedition herauszustellen, auch bevor die Katastrophe eingetreten ist. Er kann vermitteln, was es bedeutet, nicht Wochen und Monate, sondern Jahre in der relativen Enge eines Schiffes zu verbringen, in der immer gleichen Gesellschaft der immer gleichen Männer (und eben nur und ausschließlich Männern). Und er versteht es, dem Leser glaubhaft zu schildern, was es bedeutet, schließlich im Eis eingeschlossen zu sein. Er berichtet von der Erfahrung des und auch dem Staunen über das Eis, welches das Schiff packt, einschließt und mit sich nimmt. Er erzählt von den kleinen und großen Gefahren, auch der Angst, die damit einhergeht und der Ungewissheit, die Heimat, die Familie, die Lieben je wieder zu sehen. Und er berichtet von den Erkrankungen – Eisblindheit z.B. – die den Männern im grellen Weiß der unendlichen Eisflächen drohten.

Ein wenig anders sieht das in den Beschreibungen von Bennett und auch von einem Mann wie Petermann aus. Beide schildert Sides zwar als nahezu typische Figuren ihrer Zeit – exzentrisch und egozentrisch der eine; von der eigenen Wichtigkeit und Bedeutung überzeugt der andere – doch hat er auch kein Problem, sie dort bloßzustellen, wo sie eben entweder fürchterlich geirrt haben (Petermann) oder an der eigenen Hybris zu ersticken drohten (Bennett). Gerade letzterer wird von Sides immer wieder in seiner ganzen Selbstgefälligkeit portraitiert, in seiner Willkür und der Wurschtigkeit, mit der er zwar für Ideen zu begeistern war, aber ebenso schnell auch wieder von anderem abgelenkt wurde Zumal seine eigentliche Liebe dem Sport galt. Sportarten wie dem Tennis zumal, die er erst populär machte in den Vereinigten Staaten.

Dass ein Unternehmen wie die Polarfahrt der U.S.S. Jeannette eben auch wirkliche Tragik mit sich brachte, dass es eine ganze Reihe von Menschen gab, die betroffen waren, die die Geschichte aber gern vergisst – aber auch, was eine solche Fahrt für die Beteiligten wirklich bedeutete – weiß Sides dann anhand ausgewählter Briefe zu verdeutlichen, die DeLongs Frau Emma und seine Tochter Sylvie während seiner Abwesenheit an ihn schrieben. Sie verdeutlichen zum einen, dass man es mit Jahren der Trennung zu tun hatte, zum andern aber eben auch, dass der Abwesende seine Angehörigen in absoluter Ungewissheit zurückließ, was sein Schicksal betraf. DeLong und die bei ihm Verbliebenen wurden schließlich zwar gefunden, doch zu spät. Denkt man an jene Männer, die im dritten Boot saßen, dessen Schicksal nie geklärt wurde, kann man sich ausmalen, welche Qualen ihre Verwandten und Angehörigen durchlebt haben müssen.

Hampton Sides erzählt keine Heldensaga, aber er berichtet doch von einer Zeit, ohne deren Mut und Willen zum Wissen wir heute möglicherweise über sehr viel geringere Kenntnisse der Welt verfügten. Er lässt den Figuren, den Handelnden Gerechtigkeit widerfahren, weiß aber auch, dass sie sich aus heutiger Sicht in nahezu lächerlich gefährliche Abenteuer gestürzt haben, deren Ausgang – mit heutigem Wissen – zum Scheitern verurteilt sein musste. Ein spannendes Buch, gut geschrieben (und übersetzt), das sich manchmal vielleicht ein wenig zu viel Zeit lässt, bis es zum Punkt kommt, dadurch aber auch die Zeit und die Umstände verdeutlicht, die ein Unterfangen wie das beschriebene brauchten, um umgesetzt und verwirklicht zu werden.

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