DER WILLE ZUM WESEN
Ludwig Klages, die Graphologie und der Antisemitismus
Kaum etwas im kulturwissenschaftlichen Bereich dürfte komplizierter sein, als der Entstehung und Entwicklung einer Denk-Bewegung, eines Denkstils oder einer Denkschule nachzuspüren. Michel Foucault nannte seine Forschungen in diese Richtung eine „Archäologie des Wissens“. Per Leo steht mit seinem WILLEN ZUM WESEN durchaus in dieser Tradition. Sein Thema, das Sujet, dem er sich widmet, ist dabei allerdings noch einige Grade komplizierter in Herangehensweise und Methodik, versucht er doch intellektuellen Strömungen nachzuspüren, die die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht nur vorbereitet, sondern sogar aktiv unterstützt haben.
Anders als bspw. Wolfgang Martynkewicz in SALON DEUTSCHLAND. GEIST UND MACHT 1900 – 1945 (Berlin, 2009), versucht Leo sich nicht an einem Überblick, sondern an einer Tiefenanalyse. Er untersucht das Denken und die wissenschaftliche Entwicklung und Leistung von Ludwig Klages und dessen „Graphologie“, die sich aus dem „charakterologischen Denken“, dieses wiederum aus der „Morphologie“ entwickelt hat und speiste. Klages´ ganz eigene Wissenschaft glaubte, aus der Handschrift einer betreffenden Person deren Charakterbild, ihre charakterliche Beschaffenheit, die Besonderheiten aber auch die Schwächen ableiten zu können. Dabei griff er massiv darauf zurück, daß die Charakterologie eine ganze Fülle (eine prinzipiell unendliche Fülle) an Charakteristika und Spezifika zur Verfügung gestellt hatte, die über das „innere Wesen“ eines Menschen Auskunft gaben. Dabei wurden weniger tatsächliche Lebensläufe, Berufe oder religiöse Eigenschaften (um nur einige wesentliche Spezifika zu nennen) untersucht, sondern eher der Typus, der sich – charakterologisch betrachtet – zugrunde legen ließ.
Leo unternimmt einen weiten, wirklich erschöpfenden Rundblick über die Entwicklung der Morphologie, beginnend bei Goethe, über Schopenhauer, Nietzsche und hin zu den engeren Denkern der Morphologie und vor allem der Charakterologie, wie Bahnsen und Weininger. Er zeigt die Wege vom morphologisch geprägten Denken in das charakterologische Denken, das sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann, akribisch auf und geht den unterschiedlichen Entwicklungen und Abzweigungen detektivisch genau nach. Leo weist nach, wie ein weltanschauliches Denken funktionieren muß, um sowohl in der akademischen Welt, die sich ab dem späten 19. Jahrhundert immer stärker naturwissenschaftlichem Erkenntnisgewinn als Leitbild verschrieb und sich somit scheinbar weniger anfällig für kulturtheoretische und auch weltanschauliche Ansichten zeigte, als auch in den politisch-ideologischen Kreisen abseits der Universitäten und Akademien anschlußfähig und diskurswürdig zu bleiben.
Erschöpfend spürt Per Leo diesen Denkbewegungen nach, erschöpfend erläutert er dem Leser, wie charakterologisches Denken an herrschende Wissenschaftsdiskurse andockte und sich diese auch zunutze machte, um selber satisfaktionsfähig zu werden und zu bleiben. Menschen nicht nach ihrer individuellen Art zu beurteilen – was der Morphologe als Wissenschaftler der absoluten Unterschiedlichkeit eigentlich noch zu tun pflegte – sondern sie in einem vorgegebenen Raster menschlicher Eigenarten zu verorten und so ihrem „inneren Wesen“, ihrem „eigentlichen Wesen“ auf die Spur zu kommen, konnte gerade in Kreisen, deren Ideologie klare Unterscheidungen in Freund und Feind, gut und böse, fremd und eigen erforderte, für Aufsehen sorgen.
Es braucht einen weiten Panoramablick über die Geisteslandschaft der Zwischenkriegszeit – von Jaspers und Benn bis Arendt und anderen – um einzukreisen, was Leo herausarbeiten will: Daß genau dieses Denken, welches meint, die Dinge ihrem „Wesen“ nach einordnen zu können, schließlich in einem Klima, das bspw. antisemitischem Denken Vorschub leistet, hervorragend gedeihen kann. Es sind diese Endungen, die schließlich das letzte Drittel des Werks ausmachen und auch an Ludwig Klages – wie auch anderen – kaum ein gutes Haar lassen. Klages gelang es, sich über die Zeit des 3. Reichs hinwegzuretten, in der Nachkriegszeit jedoch spielte er intellektuell keine Rolle mehr, zu diskreditiert sein Leben, zu diskreditiert sein Denken, zu verstrickt in den Schrecken der Nazizeit der ganze Mann.
Per Leo hat hier eine erweiterte Fassung seiner Dissertation vorgelegt, die zu lesen nicht immer ganz einfach ist, manchmal sogar wirklich Willen zum WISSEN erfordert, gelingen zwar im Großen und Ganzen seine Ausführungen auch sprachlich, doch ist das Thema nicht immer einfach zugänglich und gerade Leos Wille, eine erschöpfende Analyse zu liefern, fordert eben auch ein Vordringen in Bereiche, die eher spröde, manchmal geradezu trocken sind.
In seinem ‚Roman einer Familie‘ FLUT UND BODEN (Stuttgart; 2014) nähert er sich dem Thema „3. Reich“ und „Antisemitismus“ auf ganz andere, viel persönlichere Weise, handelt er doch von seiner eigenen Familie und seinem Großvater, einem SS-Sturmbannführer. Vielleicht wird erst in der Doppellektüre beider Werke das ganze Wirken dieses jungen Historikers deutlich, denn hier zeigt einer auf, wie zukünftig von jener Zeit erzählt werden kann, deren Augenzeugen langsam verschwinden und die immer weiter am Horizont der Historizität zu entschwinden droht. Diese Mischung aus eisern durchgehaltener Wissenschaftlichkeit einerseits und tiefer persönlicher Betroffenheit, gnadenlos ehrlich erzählt, andererseits, eröffnet die erzählerischen Räume, die es in Zukunft brauchen wird. Das ist grandiose Geschichtsschreibung.