DIE STADT DER LEBENDEN/LA CITTÁ DEI VIVI
Nicola Lagioia erweist der Stadt Rom eine zumindest seltsame Referenz
Toxische Freundschaften, sich anziehende Gegensätze, die eine tödliche Mischung ergeben, diametral entgegengesetzte Charaktere, die sich auf eine dem Wahnsinn ähnelnde, manche sagen: böse Art und Weise miteinander verbinden – die Geschichte des Verbrechens ist voll von solchen Pärchen. Einst stieg der Schriftsteller, Journalist und Publizist Truman Capote zu (inter)nationalem Ruhm auf, als er in seinem Tatsachenroman IN COLD BLOOD (1965) über ein solch ungleiches Pärchen berichtete, das scheinbar grundlos eine ganze Farmersfamilie in Kansas hinschlachtete. Was wie ein aus dem Ruder gelaufener Raubmord wirkte, wurde durch Capotes genaue Betrachtung der Hintergründe der Täter zu einer Blaupause künftiger Täterbeurteilung, da er die sozialen, die psychischen und die speziell zwischen den beiden Freunden herrschende Beziehung durchleuchtete und damit ein differenziertes Bild dieser Menschen wiedergab. Nicht zuletzt durch dieses bahnbrechende Buch wurden Täterprofile in Strafrechtsprozessen zugelassen und einbezogen.
Im Jahr 2016 lernten sich in Rom Marco Prato und Manuel Foffo kennen, die ebenfalls ein solch toxisches Pärchen werden sollten. Ersterer, Sohn eines bekannten Wirtschaftswissenschaftlers, ein Schöngeist, vermeintlicher Dandy und Playboy, der sich in der Glitzerwelt Roms herumtrieb, sich bei den Reichen und Schönen anheischig machte und dabei seine Homosexualität offen auslebte, obwohl er Beziehungen zu Frauen pflegte, seine geheimen Wünsche – er träumte seit Kindheitstagen davon, morgens als Mädchen aufzuwachen – jedoch wie ein Geheimnis hütete. Foffo hingegen war ein zurückhaltender, eher schüchterner junger Mann, der schwulenfeindlich eingestellt war, ein Problem mit Koks hatte und einer recht wohlhabenden Familie entstammte, die einige Restaurants in Rom betrieb. Er hegte einen tiefsitzenden Hass auf seinen Vater. Prato hingegen fühlte sich zeitlebens von der Mutter ungeliebt, während er seinen Vater verehrte.
In den ersten Märztagen 2016 trafen sie sich, nachdem sie sich um die Jahreswende 2015/16 erstmals begegnet waren, und begannen eine mehrtägige Party, man könnte auch von einer Orgie sprechen. Prato verkleidete sich als Frau, trug eine Perücke und distanzierte sich dadurch bewusst von sich selbst. Er sorgte durch seine Gabe zur Manipulation dafür, dass er in den Besitz der Kreditkarte eines Bekannten kam, diesem auch die Pin-Nummer entlockte und somit für steten Nachschub an Kokain sorgte. Foffo steigerte sich in diesen Tagen mehr und mehr in einen Hass auf seinen Vater hinein und gab sich zudem Vergewaltigungsphantasien hin, die er wohl schon länger hegte. Immer wieder riefen die beiden Bekannte von Foffos Handy aus an und luden diese ein, ihnen Gesellschaft zu leisten. Schließlich war es Luca Varani, ein Junge aus einfachen Verhältnissen der römischen Vorstädte, der sich ein paar Euro mit Prostitution dazuverdienen wollte, der zu Foffo in die Wohnung fuhr, sich an den zunehmend perversen Spielen der beiden beteiligte, bis diese anfingen, ihn zu foltern, sich in einen Blutrausch hineinsteigerten und ihr Opfer schließlich mit über Einhundert Messerstichen und Hammerschlägen umbrachten.
Soweit der Fall. Da Manuel Foffo sich bereits einen Tag später erst seinem Vater offenbarte, dann der Polizei stellte, Prato ebenfalls schnell gefasst und im letzten Moment vor einem Suizid bewahrt werden konnte, beide in gewisser Weise geständig waren, auch wenn sie sich die Hauptschuld gegenseitig zuschoben, und sehr offen über das sprachen, woran sie sich noch erinnern konnten, gab es wenig Zweifel daran, was sich wann und wie zugetragen hatte. Nur das Motiv, ein nachvollziehbares Motiv, fehlte. Und genau das gab viel Anlass zur Spekulation. Zudem traten sowohl Manuels Vater als auch der Vater des getöteten Varani mehrfach in der Öffentlichkeit auf und gaben den Medien damit allerhand Stoff, den diese verarbeiten konnten. Es gab vielerlei Interpretationen und Spekulationen, von zwei jungen Männern, die sich gegenseitig in Gewaltphantasien und Blutrausch hineingepusht hätten, über die in solchen Fällen typischen Annahmen von Satansriten und -morden, die da angeblich abgehalten wurden, bis hin zu sozialen Fragen, bei denen es sich darum drehte, dass hier zwei verwöhnte Jungs aus gehobenem Milieu einen Sohn der Arbeiterklasse, einen Jungen der Vorstadt, einen Ragazzi di Vita, getötet hatten, weil sie dies einfach ihrem Status entsprechend für möglich hielten. Pure Dekadenz also.
Einer, der sich mit dem Fall nahezu obsessiv beschäftigt hat, war der Schriftsteller Nicola Lagioia, seit 2016, also jenem Jahr, in dem sich die Ereignisse zutrugen, Leiter der Turiner Buchmesse. Dies spielt im Folgenden eine Rolle. Sein Bericht DIE STADT DER LEBENDEN (LA CITTÁ DEI VIVI; 2020, Dt. 2023) war ein immenser Erfolg in Italien, stand dort monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde vielfach ausgezeichnet und diskutiert. Lagioia erzählt in seinem ausgreifenden Werk nicht nur vom Mord – dieser wird eher zum Ende dieses gut 500 Seiten langen Textes dargestellt, recht graphisch, doch nicht explizit, so dass der Leser sich den Schrecken gut vorstellen kann, sich jedoch nicht mit letztem Grausen abwendet – sondern vor allem von den beiden Tätern, dem Opfer, den Familien und davon, was dieser Kriminalfall mit der Gesellschaft gemacht hat. Doch vor allem und eigentlich erzählt Lagioia von Rom. Denn er macht die Stadt zu einer Protagonistin, verfällt immer wieder in weitschweifige und – auch das gehört zur Wahrheit – durchaus redundante und nicht immer zwingende Betrachtungen der „ewigen Stadt“ und warum der Einzelne, die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und somit auch Zukunft, hier nichts zählen und deshalb – angeblich – Taten wie die geschilderte geradezu zwangsläufig Folgen des in Lagioias Augen „zynischen“ Lebens in Rom seien. Dabei bedient er sich – zumindest in der deutschen Übersetzung von Verena von Koskull – einer recht blumigen Sprache und allerhand ebenso blumiger Metaphern, die man gelegentlich zwei- bis dreimal lesen muss, um ihren tieferen Sinn zu durchdringen. Und bei denen man sich manches Mal fragt, ob sie nicht als weitaus mehr scheinen, denn was sie sind.
Diese Sprache, die den Leser immer wieder vom Geschehen wegdrückt, ist generell das große Problem dieses Buchs, welches sich selbst und welches auch die Kritik in die Tradition von Capotes Bericht zu jenem Mord in Kansas im fernen Jahr 1959 stellte. Denn der Erfolg von Capote war sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass der Autor einer meisterhaften Novelle wie THE GRASS HARP (1951) sich bei der Beschreibung des Mordes und der Täter bei IN COLD BLOOD jeglicher schriftstellerischen Stilmittel enthielt, sich stattdessen völlig auf seine Fähigkeiten als Journalist verließ, der er schließlich auch war, und dadurch einen ausgesprochen nüchternen Text vorlegte, wodurch das Grauen, von dem er berichtete, noch um ein Vielfaches gesteigert wurde. Nicht so Lagioia. Der bemüht sich, der Tat einen mystischen, einen tieferen Grund einzuschreiben. Und er verfällt, wie so viele vor ihm und seither, der Anziehung der Täter. In gewissem Sinne möchte man meinen, dass Manuel Pratos Fähigkeiten zur Manipulation, die Lagioia so ausführlich beschreibt und die dem jungen Mann auch von anderen immer wieder zugeschrieben wurden, auch auf den Autoren selbst noch gewirkt haben muss.
Dennoch gelingt dem Autor eben auch eine Meditation über die italienische und dabei speziell über die römische Gesellschaft. Allerdings gemahnt sein Buch dabei häufiger an die Sittengemälde, die ein Bret Easton Ellis in Werken wie LESS THAN ZERO (1985), AMERICAN PSYCHO (1991) und nicht zuletzt in THE SHARDS (2023) von Los Angeles und New York malte: Bilder aus der Hölle. Eine Gesellschaft im permanenten Drogenrausch, Homosexualität, bzw. Bisexualität als Lifestyle, ewige Ambiguität, Unsicherheit, Gewaltphantasien und das immerwährende Spiel mit dem Feuer. Ellis spielt dabei mit einer gekonnten Mischung aus autobiographischen Erlebnissen und reiner Fiktion, die aber immer so nah an der Wirklichkeit angelehnt ist – dies bezieht sich nun vor allem auf sein letztes Werk, sicher nicht auf AMERICAN PSYCHO – dass der Leser im Ungefähren verbleibt und sich ständig überlegen muss, ist das noch wahr oder schon Erfindung?
Lagioia erfindet nichts, maßt sich allerdings Einblicke in die Denkstrukturen seiner Protagonisten an. Immer wieder erklärt er seinen Lesern, was Manuel oder Marco in bestimmten Situationen dachten, wie sie sich fühlten. Dabei rekurriert er auf die von ihm eingesehenen Vernehmungsprotokolle, aus seinem Text geht nicht hervor, dass er mit Manuel Foffo, dem letztlich überlebenden Täter, gesprochen hätte. Prato seinerseits brachte sich kurz vor Beginn seines Prozesses im Gefängnis um. So entsteht ein manchmal schwer zu entwirrendes Geflecht aus Tatsachen, Aussagen (die durchweg mit Vorsicht zu genießen sind, wenn man den Beschreibungen der beiden extrem labilen Charaktere Manuel Foffo und Marco Prato, die Lagioia hier liefert, Glauben schenken mag) und Projektionen des Autors. Dies alles angereichert mit zitierten Passagen der Eltern, von Freunden und Bekannten der Täter und auch des Opfers – vor allem dessen langjährige Freundin kommt zu Wort – die das Erzählte stützen und erweitern sollen.
Schließlich gibt Lagioia dem Leser – inhaltlich nach einer Nachfrage eines befreundeten Journalisten – zu verstehen, weshalb er so obsessiv mit dem Fall beschäftigt ist: Als Jugendlicher und sehr junger Erwachsener hatte er eine schwierige Zeit, neigte zu Alkohol- und Drogenexzessen und hatte Glück, dass bei einigen seiner Ausschweifungen niemand zu Schaden gekommen ist. Daraus leitet Lagioia die Überlegung ab, ob wir alle nicht – und sei es nur durch Zufall – immer schon mit dem Bösen in Kontakt stehen und häufiger als wir ahnen auch seinen Wegen folgen. Allein mit einer Größe wie „dem Bösen“ zu arbeiten wird nicht jedermanns Sache sein. Gedoppelt wird diese Sichtweise mit Einschüben, die von einem holländischen Touristen erzählen, der nach Rom kommt, um sich hier an sich prostituierenden Minderjährigen zu vergehen. Was diese Einschübe sollen, versteht der Leser nicht unbedingt, doch es drängt sich der Eindruck auf, dass mit diesem schließlich um die gleiche Zeit aufgeflogenen Kindesmissbrauch so etwas wie das „wahre“ Böse beschworen werden soll, wohingegen Manuel und Marco irgendwie als aus der Bahn geratene junge Männer eingeschätzt werden, die sich in die eingangs beschriebene toxische Verbindung zueinander begeben haben und wahrscheinlich nie zu Tätern geworden wären, wenn sie sich nicht begegnet wären. Viel Konjunktiv, wenn man bedenkt, dass am Ende dieser Begegnung die fürchterlich malträtierte Leiche eines jungen Mannes in einer völlig verwüsteten Wohnung lag.
Alles in allem entsteht hier dennoch ein interessantes Sitten- und Gesellschaftsbild einer Stadt, die langsam aber sicher im Chaos zu versinken droht. Immer wieder flicht Lagioia Berichte von der Rom beherrschenden Rattenplage ein, erzählt von dem Dreck und dem Müll, der die Straßen verunstaltet, schildert eine Stadt, die nahezu unregierbar geworden ist und verbindet dieses Chaos auch mit dem eigenen Leben, wenn er davon berichtet, wie er und seine Frau – eben im Jahr 2016 – nach Turin ziehen, froh, Rom und dem Chaos zu entkommen und dann doch, voller Heimweh nach dieser Stadt, von der man nicht mehr loszukommen scheint, zurückzukehren. Da wird die Mordtat der beiden Freunde, da wird ihr Opfer, da werden all die Beteiligten, die hier zu Wort kommen, da wird dieses seltsame Gemisch aus Hedonismus, Drogenrausch, Prostitution, echter und angenommener Homosexualität, Transidentität und ewiger Party zu einem Spiegel, ja, einem Sinnbild dieser Stadt und ihrer dekadenten, zynischen, sich dem Untergang hingebenden Gesellschaft.
Doch überzeugt das nie wirklich, es ist nicht zwingend, wirkt manchmal aufgesetzt und in der behaupteten Zwangsläufigkeit sehr gewollt. Und alles – das Koks, der Sex, der Schauer, die Unschuldsbeteuerungen und die Betrachtungen der Stadt Rom – wiederholt sich arg häufig. So interessant Lagioias Buch auch sein mag, weder kann es mit Capotes Werk, noch mit den Fiktionen eines Bret Easton Ellis mithalten. Es dreht sich zu sehr um sich selbst, bzw. der Autor dreht sich zu sehr um sich selbst, es überhöht eine extrem brutale Bluttat zu etwas Sinn- und Schicksalhaftem, und es erliegt der Faszination der Täter, ohne dem Leser nahebringen zu können, weshalb gerade dieser junge Mann, Luca Varani, zum Opfer werden musste, in seiner Anlage suggeriert es aber, dass ausgerechnet er dieses Opfer zu sein hatte – auch dies wieder eine Zwangsläufigkeit, die auf einen dräuenden tieferen Sinn verweist. Viel wäre drin gewesen, Vieles stimmt auch in diesem Werk und doch bleibt ein ungutes, oft schales Gefühl, wenn man es schließt.