THE SHARDS

Bret Easton Ellis liefert eine feine Coming-of-Age-Geschichte, einen hintersinnig gestrickten Thriller und ein Schlüsselwerk zum eigenen Oeuvre

In den späten 70ern und bis hinein in die frühen 80er Jahre muss Los Angeles the place to be gewesen sein. Damals war es nicht New York, nicht London, Rio oder Tokyo und schon gar nicht Berlin (außer, man war Kriegsdienstverweigerer und Punk), sondern die Filmmetropole am Pazifik, wo sich die kulturelle Elite zu treffen pflegte. Die Westküste der USA, dort, wo sich das große Geld und der Zeitgeist – zumindest im Laurel Canyon – trafen. Und gehörte man nicht gleich zu den Auserlesenen, also den Tycoons, den Produzenten, Schauspielern und Stars, gleich ob in der Filmbranche oder im Musikbusiness, dann war es sicher nicht das Schlechteste, als deren Nachkommen dort zu sein.

Mitte der 80er Jahre erschien ein Roman – eher eine atmosphärisch dichte Aneinanderreihung einzelner Szenen – der mit diesem Mythos gründlich aufräumte. LESS THAN ZERO (Original erschienen 1985) präsentierte scheinbar eine Liveschalte aus dem Inner Circle eben dieser Kids, die im zarten Alter von 17 Jahren Mercedes, Porsche und Jaguar fuhren, über eigene goldene Kreditkarten verfügten und offenbar ununterbrochen Zugang zu Drogen hatten. Der Preis dieses Lebens war allerdings hoch, wenn man dem Roman und seinem Autor Bret Easton Ellis Glauben schenken konnte: Diese Kids waren nicht nur verwahrlost – sozial, kulturell und emotional – sondern vor allem vollkommen abgestumpft, was im Roman anhand einer der schauerlichsten Szenen in einem literarischen Werk außerhalb des Horror-Genres veranschaulicht wurde.

Einige Jahre später trat Ellis erneut literarisch in Erscheinung und lieferte mit AMERICAN PSYCHO (1991) eine schockierend emotionslose, dafür semiotisch brillante Analyse der USA am Ende der Reagan-Ära. Das Buch erging sich in seitenlangen Aufzählungen von Markenklamotten an den luxusgepflegten Körpern und den Markeneinrichtungen in den Luxus-Appartements jener Yuppies, die damals an der Wall Street zu begreifen begannen, was ein Finanzmarkt wirklich bedeutet, wenn man richtig viel Geld verdienen will. Und dann kippte derselbe Roman in ebenso detaillierte Beschreibungen grausigster Folterungen und Tötungen junger Frauen durch seinen Ich-Erzähler Patrick Bateman. AMERICAN PSYCHO war ein Ereignis in mancherlei Hinsicht. Vor allem war der Roman ein Skandal, ein Porno und Gewalt-Porno, ein Schlag ins Gesicht eben jener Yuppie-Gesellschaft, die die eben vergangene Dekade geprägt hatte. Zugleich schien dies aber auf eine komplett verquere Art und Weise auch eine Hommage an eine Ära des Goldrauschs zu sein, an jenes Anything goes, welches die 80er Jahre angeblich so geprägt hatte. Und zwar von einem, der offenbar erneut direkt aus den engsten Kreisen, den Inner Circles dieses Goldrauschs, zu berichten wusste. Von einem, der seine Ergüsse dann auch noch als Komödie zu bezeichnen wagte. Dies war die ultimative Kapitalismusverherrlichung, getarnt als Kapitalismuskritik – oder verhält es sich exakt umgekehrt? – in der alles konsumerabel ist: Autos, Kleider, Körper.

Danach wurde es stiller um Ellis, er schrieb weiter, doch schien er sich in seinem Status als Kult-Autor verfangen oder eingerichtet zu haben. Sein Schreiben kreiste auffällig oft um ihn selbst, immer häufiger wurde er selbst zum eigentlichen Protagonisten seiner Werke. Ellis hatte nach eigenem Bekunden wenig bis kein Interesse an weiteren literarischen Werken, stattdessen schrieb er Drehbücher und kürzlich erst seinen ersten nicht-fiktionalen Band mit Essays zum Zeitgeist und dem, was ihn daran stört. Nun aber ist er zurück und legt THE SHARDS (2023) vor. Und führt die wesentlichen Züge seines Schreibens und die wesentlichen Werke – eben LESS THAN ZERO und AMERICAN PSYCHO – zusammen und mischt seine Stilelemente mit vielleicht fiktionalen und ganz sicher mit semifiktionalen Elementen. Und wie man ja immer gern behauptet, verrät die Fiktion letztlich wahrscheinlich weitaus mehr über die Wirklichkeit – oder eine Wirklichkeit – als es eine exakte Recherche, die sich akribisch an den Fakten entlanghangelt, je könnte.

Der Erzähler in THE SHARDS ist ein Autor namens Bret Easton Ellis. Er hatte in den 80er und 90er Jahren große Erfolge und erklärt in der Einleitung, dass er nun, nach nahezu vierzig Jahren, endlich bereit sei, vom letzten Sommer in der Highschool zu berichten, dem Sommer und Spätsommer 1981. Was damals passiert sei, sei so schrecklich, dass es all die Jahre gebraucht habe, sich dem Geschehenen zu stellen. Es geht um Freundschaft, Illoyalität, um Betrug, Verrat und erwachende Sexualität, es geht aber auch um Mord und Totschlag. Was hier im Grunde erzählt wird, ist eine Coming-of-Age-Story im Thriller-Gewand oder aber ein Thriller als Coming-of-Age-Story. Suchen Sie´s sich aus. Bret jedenfalls ist sich in jenem Sommer, in dem er und seine Freunde alle um die 17 waren, schon recht sicher, homosexuell zu sein. Da er aber, er, der nicht von Natur aus zu den beliebten Schülern gehört – eine Hierarchie, die sich vor allem aus körperlichen Attributen und Vorteilen ableitet – angesehen sein will, hat er sich mit Debbie zusammengetan. Deren Vater Terry ist ein sehr angesehener Hollywood-Produzent, was Debbies Stellung in ihrer Jahrgangsstufe maßgeblich beeinflusst. Susan und Thom sind enge Freunde von Bret und gelten als das schönste Paar der Schule, woraus sich wiederum ihr Star-Status ergibt. Bret unterhält allerdings eine schwule Beziehung zu Matt. Und er hat großes Interesse an einem anderen Schüler. Und dann taucht Robert auf, der aus dem mittleren Westen kommt und den ein düsteres Geheimnis zu umgeben scheint. Der aber vor allem eine äußerst anziehende Wirkung auf Susan zu haben scheint. Als Bret die Beziehung zwischen Susan und Thom gefährdet sieht, sieht er das gesamte Konstrukt der Clique und damit auch seine eigene Stellung an der Schule gefährdet. Und da Bret, ein begeisterter Kinogänger mit einem Faible für Horrorfilme und einem Hang zur allgemeinen Übertreibung, was seinen Status als „Autor“ mitbegründet, sich sehr für den in diesem Sommer aufkommenden Fall des Trawlers, eines Serienkillers, der LA unsicher macht, zu interessieren beginnt, liegen gewisse Schlüsse, die er zieht, nur nah. Und führen schließlich in die Katastrophe.

So in etwa ließe sich die Handlung des Romans zusammenfassen. Man könnte aber auch verkürzt sagen: Ellis schreibt eine Geschichte über jugendlichen Überschwang und juvenile Unsicherheit und zugleich einen recht einfach gestrickten Thriller um einen Serienmörder. Und räumt dabei mal eben mit jenem ur-amerikanischen Mythos jenes Sommers nach dem Abschluss der Highschool auf, wenn amerikanische Jugendliche angeblich erwachsen werden, das Elternhaus verlassen und wesentliche Erfahrungen machen, die dann ihren Charakter und, sieht man es literarisch, den weiteren Verlauf ihres Lebens prägen. Doch ganz so einfach ist es eben nicht. Das beginnt schon damit, dass es eben nicht um diesen Sommer nach der Highschool geht, sondern um den letzten Sommer auf der Highschool. Ein Sommer, der von elitärem Gehabe der Schul-Senioren geprägt ist. Von Partys und Drogen und sehr, sehr viel Sex. Aber auch von den wesentlichen und wichtigsten Arbeiten und Kursen, die darüber entscheiden, ob man eine der mittelmäßigen oder doch eine der Elite-Universitäten der Ostküste besuchen wird. Ellis schreibt gnadenlos ehrlich, manchmal gnadenlos witzig, oft entlarvend und immer mit großem Stilwillen. Er scheint anhand einer fiktionalen Geschichte die Grundlagen seines Schreibens, inhaltlich wie formal, erforschen zu wollen.

Er stellt sich selbst als einen extrem unsicheren Jugendlichen dar, leicht zu beeindrucken, mit einer ausgedehnten Fantasie, eben jener Neigung zur Übertreibung, die ihm ein Alleinstellungsmerkmal ist, die ihn innerhalb seiner Clique aber auch zusehends isoliert. Zugleich gelingt ihm ein nahezu perfektes Portrait einer solchen Clique. Die Machtverteilung (auch und gerade zwischen Jungs und Mädchen – wobei letztere definitiv besser wegkommen, auch weil sie gerissener und in entscheidenden Momenten gemeiner sind), die Langeweile, die Abgestumpftheit, die von diesen jungen Menschen ausgeht, die Abhängigkeiten, gerade wenn sich alles, wie in den Nobelvororten von LA, um Aussehen, Erscheinung, Beliebtheit dreht. Als Robert auftaucht, ist er für die Mädchen interessant, weil er fremd ist, für die Jungs eher einfach einer für die Crowd und für Bret eine Bedrohung, da der Neue scheinbar mühelos mit den anderen in Verbindung tritt. Bret seinerseits lebt ein „geheimes Leben“, seine schwule Seite, von der niemand erfahren darf, da Homosexualität hier zwar allenthalben vorhanden scheint, dennoch aber verpönt und geächtet ist. Er geht dabei weit, lässt sich von Terry, dem Vater seiner (Alibi-)Freundin verführen, als der ihn mit einem Drehbuchauftrag lockt usw. Und, was dem Ganzen einen gewissen Dreh und doppelbödige Ambivalent verleiht – so sehr er Robert auch als Konkurrenten in seiner Stellung bei den Mädchen (brüderlicher Freund, dem man alles anvertraut) fürchtet, so sehr begehrt er ihn eben auch. Als reines Objekt seiner Lust, als Projektionsfläche.

Die Geschichte um den Killer, der umgeht und die – so viel sei verraten – letztlich nicht aufgelöst wird, kann man getrost allegorisch lesen. Ellis stellt sich als den einzigen dar, den die Story überhaupt interessiert, der die Nachrichten verfolgt und die Namen der Verschwundenen kennt, wodurch er sich eine Sensibilität zuschreibt, die er nicht besitzt und die schließlich im Finale furioso auch gnadenlos ad absurdum geführt wird. Schon am Anfang, als die verschwundenen Mädchen noch Fremde sind, wird er auf die Artikel in den Zeitungen aufmerksam, weitaus intimer und auch bedrohlicher wird es, als einer seiner geheimen Sex-Partner verschwindet und der Killer ihm und seinen Freunden damit sehr nah zu kommen scheint. Es ist eine Entsprechung zu LESS THAN ZERO, wo außer der Hauptfigur Clay auch niemand mehr einen moralisch intakten Kompass zu haben scheint. Anders als Clay stellt Bret sich in THE SHARDS dieser Dysfunktion, träumt aber exakt den Traum, den Clay bereits vollzogen hat: Aus LA fliehen, möglichst weit weg, wenn möglich an die Ostküste und eins der dortigen Elite-Colleges. Ellis treibt seine gesamte Story schließlich auf eine blutige Spitze, die einen seiner Schulkollegen das Leben kosten wird. Die Explizität der Darstellungen – sowohl der mehrfach im Buch vorkommenden Sexszenen als auch der extremen Gewalt am Ende; zuvor wird sie eher sporadisch, dafür aber sehr effektiv eingesetzt – , die Drastik, verweisen auf AMERICAN PSYCHO, zugleich verweisen sie den Roman THE SHARDS aber auch ins Reich der Fantasie und betonen eben den fiktionalen Charakter. Hey – wir sind in Hollywood! Dort, wo man eine gute Story mit einer Bombe beginnen lässt und dann ganz langsam steigert.

Es gibt aber auch weitaus subtilere Zeichen dafür, dass hier ein Autor sich mit seiner Profession beschäftigt. Man sollte nie vergessen, dass Ellis eben auch und vor allem ein Semiotiker ist; auch hier werden wieder seitenweise Marken aufgezählt und durch die reine Zusammenstellung soziale Markierungen hervorgehoben. Da ist bspw. die Art, wie der mittlerweile 57jährige Bret Easton Ellis sich angeblich an jenen Sommer 1981 erinnert. Man versuche einmal, sich detailliert an einen x-beliebigen Tag im Sommer seiner Schulzeit zu erinnern, inklusive aller Dialoge des bestreffenden Tages und sämtlicher von allen Beteiligten getragenen Klamotten. Man wird schnell merken, dass schon in einer solchen Erzählung nur die Fiktion funktionieren kann. Noch auffälliger aber ist die Reflektionsfähigkeit dieses angeblich 17jährigen Teenagers. Der von Ellis beschriebene Bret ist sich jederzeit sehr bewusst, dass er ein Teenager ist, dass er an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, dass er aber noch nicht über die Lebenserfahrung verfügt, die es ihm erlaubt, bestimmte Situationen richtig einzuschätzen – Situationen, die er genau aus dieser Befähigung zur Reflektion aber eben fast immer sehr genau und richtig einschätzt. Bis auf eine einzige, die er vollkommen falsch einschätzt und die im Grunde den Motor der gesamten Geschichte darstellt.

Es wird einige Leser geben, die Ellis dies als Fehler ankreiden, die behaupten werden, der Mann könne eben keine Teenager beschreiben. Doch sollte man diese Effekte als bewusste, gewollte Entfremdung betrachten. Ebenso, wie der junge Bret Easton Ellis – also die Romanfigur – sich von seinem Umfeld entfremdet, von seinen Freunden und sowieso von seiner im ganzen Buch nie anwesenden Familie (seine Eltern befinden sich auf einer dreimonatigen Kreuzfahrt, um ihre Ehe zu retten), so entfremdet sich der Text zusehends von sich selbst. Er wird zu seinem eigenen Meta-Text, der sich durchgehend auf subtile Art und Weise selbst kommentiert. Und genau diese literarische Bewegung macht THE SHARDS zu einem kleinen Meisterwerk.

Hier weiß einer ganz genau, was er tut und er legt noch einmal sein ganzes Können rein, um seiner Fangemeinde zu beweisen, dass er es kann. Und er kann es. Vielleicht hat Bret Easton Ellis – also der Autor – keine allzu große Lust mehr auf Romane und Erzählungen, vielleicht schreibt er lieber Drehbücher für Filme und Serien, die meist sowieso nicht realisiert werden (wie er hier wie an anderen Stellen sehr freimütig eingesteht), vielleicht werden wir zukünftig auch häufiger eher Essayistisches von ihm lesen, wie er es mit WHITE (2019) bereits vorgelegt hat, wer weiß? Doch THE SHARDS funktioniert auf so vielerlei Ebenen, dass man dem Buch wirklich einen hohen literarischen Status attestieren muss. Als Thriller-Autor weiß Ellis seine Fährten gut zu legen und die Spuren so zu platzieren, dass der Leser immer dran bleibt und auch dranbleiben will. In den entsprechenden Spannungsszenen beweist der Autor, dass er wirklich und wahrhaftig ein Thriller-Autor ist. Dem ganzen Roman liegt etwas Bedrohliches zugrunde. Weniger etwas Morbides, wie es bei LESS THAN ZERO und dann erst recht bei AMERICAN PSYCHO der Fall war – wobei letzterer Roman vielleicht nur noch allegorisch und semiotisch zu begreifen ist. Hier schleicht sich das Bedrohliche nach und nach in eine sehr treffende Beschreibung jener frühen 80er Jahre ein, die Ellis ebenfalls perfekt zu liefern versteht. Die Musik, die Filme, eine grundsätzliche Atmosphäre von Sommer und Freiheit, die er zunächst etabliert, die nach und nach aber von etwas Düsterem übertüncht wird – all das ist schon große Kunst. Die größte Kunst aber mag es sein, wie ein Ich-Erzähler ganz langsam zur eigentlichen Bedrohung im Text heranwächst und wir schließlich äußerst verstört sind, weil wir keine Ahnung mehr haben, mit wem wir es da eigentlich zu tun haben: Einer Romanfigur, dem jugendlichen Ich des Autors oder gar einem Serienmörder? Dass Ellis gern auch mit dem groben Besteck arbeitet, seine Sex- und die Gewaltszenen explizit und drastisch sind, das weiß, wer sich mit seinen Werken bereits beschäftigt hat.

Das ist vielleicht die größte Kunst dieses Romans: Wer Ellis frühe Werke kennt, wird hier eine Art halbfiktionalen Schlüsselroman finden, der einiges zu erklären scheint über diesen Autor und seine Motive. Wer jedoch noch nie einen Roman von Bret Easton Ellis in der Hand hatte, der wird sich gut unterhalten fühlen in dieser juvenilen sonnigen südkalifornischen Hölle.

 

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.