DIE UNSCHÄRFE DER WELT
Iris Wolff schreibt einen kleinen großen Roman
Dies ist die Kurzfassung einer Rezension: Was für ein wunder-wunder-wunder-bares Buch!
Man mag das nicht glauben: Wie ist es möglich, daß eine solch vergleichsweise junge Autorin solche Lebensweisheit einerseits, solches Sprachvermögen andererseits besitzt? Daß es ihr gelingt, eine solch flirrende, hintergründige, gewollt unscharfe Konstruktion für einen Roman zu entwerfen und dann auf knappen 212 Seiten eine Welt entstehen zu lassen, die untergegangen ist, fast vergessen, noch zu verorten irgendwo in der Zeit und doch nur noch in Erinnerungen lebt, leben kann?
Iris Wolff wurde für DIE UNSCHÄRFE DER WELT (2020) vollkommen zurecht für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, zumindest auf die Long List gesetzt. Preise mögen von Bedeutung sein, definitiv hätte sie den Preis, mindestens aber das Vorrücken auf die Short List, verdient gehabt. Sei´s drum. Denn das Buch bleibt ja und kann, nein sollte, gelesen werden. Denn es ist ein Wunder, was diese Autorin der deutschen Literatur zu geben vermag.
Geboren in Siebenbürgen, Rumänien, kam Wolff Mitte der 80er Jahre nach Deutschland, hier wuchs sie auf, hier hat sie zu schreiben begonnen. Nun legt sie ihren vierten Roman vor und erzählt in einem weiten Panorama vom Leben in der Diktatur, von Liebe, Freundschaft, Flucht und Rückkehr. In sieben langen Kapiteln begleiten wir sieben Protagonisten, die auf verschlungenen Pfaden zueinander in Beziehung stehen. Im Mittelpunkt, besser: Im Fokus, steht dabei Samuel. Er ist ein seltsames Kind, Sohn eines Pfarrers, der in Siebenbürgen sein Amt antritt. Samuel schweigt, er spielt nicht mit anderen, er ist ernsthaft, er ist ein Beobachter, er ist mutig, er ist von tiefer Trauer erfasst. Er flieht mit seinem Freund Oz mit einem gestohlenen Kleinflugzeug über die Grenzen, es verschlägt ihn nach Norddeutschland, wo er durch Zufall jenen Mann wiedertrifft, der einst, als Besuch aus der DDR, auf dem Hof des Vaters die Sommerferien verbrachte. Und so schließen sich Kreise, kommt wieder zusammen, was vielleicht nie zusammengehörte und dennoch einander ergänzt. Wahlverwandtschaften.
In jedem Kapitel nimmt Wolff eine andere Perspektive ein, es braucht ein genaues Lesen, große Aufmerksamkeit, um zu verorten, wo in dieser Erzählung man sich befindet. Vor allem die zeitlichen Abläufe erfordern diese Genauigkeit. Und die Autorin macht es dem Leser nicht immer leicht, da sie eine Sprache nutzt, die aus sich selbst heraus leuchtet, die wortgewaltig Farben, Gerüche, Geräusche, die Töne der Natur einfängt, die ein Land, eine Region auferstehen lässt, ein Land der Kindheit, das untergegangen scheint. Man kann sich in dieser Sprache verlieren, ohne der Geschichte, dem roten Faden, zu folgen. Es ist eine poetische, lyrische Sprache, die verzaubern kann. Und in der doch immer wieder die Schrecken, das Grauen auch in einer Region zum Ausdruck kommt, die doch so weit weg von den Geschehnissen der Weltgeschichte gelegen scheint. Und in der doch die Angst vor Bespitzelung, Denunziation, vor dem Nachbarn, unterschwellig immer zu spüren ist. Wolff hat keinen explizit politischen Roman geschrieben. Eher das Gegenteil. Doch das Politische, das so oft die Geschichte bestimmt, spielt hintergründig immer eine Rolle, ist da, nimmt Einfluß, bestimmt die Haltung und die Sprache der Protagonisten.
Den Zauber eines Buches einzufangen, zu beschreiben, verführt oft zu Pathos, zu Kitsch, und wird dem Werk doch meist nicht gerecht. So auch hier. Denn der Zauber – deshalb ist es ja ein Zauber – lässt sich nicht in Worten einfangen, lässt sich eben nicht beschreiben. So greift man zur Interpretation. Der weite Rahmen über Jahrzehnte hinweg, der aber nie markiert wird, den man sich – wie alles hier – regelrecht er-lesen muß, erspüren, wodurch schon eine gewisse Unschärfe den Roman grundiert und zunächst anmutet wie ein Märchen, etwas Zeitloses. Und doch bricht in diese märchenhafte Erzählsituation immer wieder, oft nur in einem Nebensatz, die ebenso raue wie nüchterne Wirklichkeit ein, fordert ihr Recht als Taktgeber des Erzählens. Auch die Beziehungen der Figuren zu- und untereinander bleiben oft unscharf, so unscharf, wie die Wirklichkeit selbst, in der wir auch oft erst im Nachhinein begreifen, wie ein Satz gemeint war, was eine Geste zu bedeuten hatte. Und in der wir auch gelegentlich Jahre und Jahrzehnte nach einem Ereignis mit dessen Konsequenzen konfrontiert werden.
So bleibt einzig an Wolffs Konstruktion zu kritisieren, wie hier der Zufall Menschen zueinander treibt, die einst im Leben des andern eine Rolle gespielt haben. Doch begreift der Leser diese Konstruktion erst auf den letzten Seiten dieses Romans und wird damit daran erinnert, eben dies – einen Roman – in den Händen zu halten, ein Leseerlebnis. Ein Leseereignis. Womit der Roman auch sein Recht behauptet, ein Roman zu sein, kein unmittelbarer Bericht aus der Realität. Keine Umsetzung in einem eins-zu-eins-Format. Sprache hat ihr Recht und auch das Erzählte hat sein eigenes Recht. Und beides wird hier ernst genommen, wird hier aufbereitet und in einer Engführung zueinander gebracht. Es muß diese Sprache sein, um der Erinnerung Ausdruck zu verleihen, es muß diese Geschichte sein, um das Große im Kleinen zu erfassen. Genau das gelingt Iris Wolff wie kaum jemandem in deutscher Sprache momentan.
Und als gelte es dies noch einmal zu verdeutlichen, lässt Wolff einen Buchhändler auftreten, lässt uns an seinen Gedanken teilhaben. Und dieser Buchhändler verdeutlicht uns noch einmal den Wert des Buches, also des materiell handhabbaren Buches, seine Bedeutung, seine Einmaligkeit. Wie wir es in der Hand halten, seine haptische Bedeutung, die Möglichkeit, vor und zurück zu blättern, anzustreichen, Markierungen vorzunehmen und sie immerzu, noch während der Lektüre oder Jahre danach, erneut zu konsultieren und uns damit daran zu erinnern, wann und in welcher Verfassung wir einst diese Zeilen gelesen haben. Allein für diese wenigen Seiten und ihre Eloge auf das Buch als Gegenstand, lohnt die Lektüre dieses wunder-wunder-wunder-baren Buchs.