DIE WAHRHEIT ÜBER DEN FALL HARRY QUEBERT/LA VÉRITÉ SUR L`AFFAIRE HARRY QUEBERT
Es sei gewarnt vor Klischeebergen im Sommer....
Wie es eine Erfolgsformel bei Autoren gibt, gibt es eben diese auch bei Lesern. Hat man einmal herausgefunden, was einem gefällt – Kriminalromane, historische Romane, Familiengeschichten etc. – will man gern mehr vom Gleichen. Joël Dicker ist mit seinem Beststeller DIE WAHRHEIT ÜBER DEN FALL HARRY QUEBERT (Original: LA VÉRITÉ SUR L´AFFAIRE HARRY QUEBERT) ein solches Werk gelungen, das Leser anspricht, die gehobene Unterhaltung wollen, keinen reinen Kriminalroman, jedoch gern Spannung geboten bekommen und zugleich das epische Erzählen schätzen.
Aber was bedeutet schon gelungen? Auf über 700 Seiten wird eine endlose Geschichte über einen Schriftsteller ausgewälzt, der das Schreiben bei einem älteren Mentor lernen will, eben jenem titelgebenden Harry Quebert. Der – äußerlich eine Mischung aus Ernest Hemingway und Norman Mailer – war einst mit einem literarischen Wunderroman berühmt geworden, in dem er die Liebe zwischen einem älteren Mann (was man so älter nennt) und einer Jugendlichen beschreibt. Und ja, Nabokov lässt hier nicht nur grüßen, er winkt mit beiden Armen aus der Kulisse. „Kulisse“ ist auch gleich das Stichwort für Dickers Herangehensweise an sein Werk: Selten wurde ein Roman so offensichtlich auf Verfilmung hin geschrieben, wie dieser. Das hat dann ja nun auch geklappt, TVNow hat zugeschlagen und gleich eine Serie produziert, was der Roman allerdings auch nahelegt. Denn Dicker will alles – die Familiengeschichte, das Gesellschaftsportrait, einen Thriller, einen Künstlerroman, einen Liebesroman, ein Kleinstadtpanorama und ein Kammerspiel und dabei auch noch das Schreiben als solches verhandeln. In 31 abwärts gezählten Kapiteln lässt er seinen Icherzähler Marcus Goldman und dessen Mentor Harry Quebert über das Wesen des Schreibens schwadronieren. Und „schwadronieren“ ist an dieser Stelle wohl gewählt. Als sei sich Dicker, der vor seinem Welt-Bestseller bereits zwei Romane veröffentlicht hat, seines Talents nicht ganz sicher, lässt er die beiden Autoren Weisheiten verbreiten, die aus dem Creative Writing-Kurs, erstes Semester, stammen könnten. Klischees.
Und damit ist man beim Kern dieses Buchs angelangt. Selten wurden derart viele und teils schon billig zu nennende Klischees aufgehäuft und aneinander gereiht, wie hier. Angefangen beim sich selbst durchaus ironisch betrachtenden Ich-Erzähler Goldman, über Quebert, dessen lolitahafte Geliebte, deren Freunde und Familie, die Bewohner des Städtchens an der Ostküste, in dem sich all dies abspielt, bis zu Nebenfiguren wie Agenten und Verlegern, wirkt das gesamte Personal aus Romanen (meist nicht mal guten) und vor allem diversen Filmen und TV-Serien der vergangenen 60 Jahre entlehnt…nein – zusammen geklaubt. Das hat den für den Leser angenehmen Effekt, daß er diese Figuren alle bereits zu kennen glaubt. Nichts und niemand hier ist originell, nichts und niemand wirklich interessant. Gleiches gilt für die viel zu vielen Handlungselemente, die Dicker in seinen Roman packt. Da tauchen die sterblichen Überreste eines vor über 30 Jahren verschwundenen Mädchens auf, was Harry Quebert, dessen Ur-Manuskript seines Erfolgsromans bei dem Skelett entdeckt wird, in Schwierigkeiten und die Handlung überhaupt erst ins Rollen bringt. Umso dümmer, daß der Leichenfund auch noch auf seinem Grundstück stattfindet. Goldman will seinem Mentor zur Seite springen, ihn entlasten, und zugleich seinen zweiten Roman schreiben, was dazu führt, daß er sich zusehends in die Ermittlungen einmischt. So hofft er, Quebert zu entlasten und gleichzeitig aus dem Fall Kapital schlagen zu können. Dabei legt er – wie beim Häuten der Zwiebel, um ein weiteres Klischee zu bemühen – nach und nach immer weitere Schichten des Falles auf. Und Joël Dicker hat die Möglichkeit, seine Erzählung auf zwei, ach was, mindestens fünf Zeitebenen auszubreiten.
Was sich da schließlich an Ungeheuerlichkeiten auftürmt, ist derart grotesk, daß geringere Logiklöcher – bspw. die Frage, wieso ein gestandener Ermittler der Staatspolizei einen wenn auch berühmten Schriftsteller wie Goldman einfach so an den Recherchen teilhaben lässt und dabei eklatante Mängel in der Ausübung seiner Profession offenbart, da es Goldman ist, der alle wesentlichen Indizien und Beweise zusammenträgt – kaum mehr auffallen. Dicker verarbeitet bis hin zu Victor Hugos Quasimodo-Figur nahezu jedwede literarische Stereotype, bastelt sich ein wirklich nur noch Kolportage zu nennendes Konstrukt aus Beziehungen, Zufällen, Unwahrscheinlichkeiten und Zusammenhängen, daß es im Gebälk dieses Werkes nur so knirscht. So ganz hat er sich scheinbar selbst nicht getraut, denn außer der ironisch gebrochenen Eigenbetrachtung des ich-Erzählers, baut er gelegentlich Szenen ein, die so offensichtlich übertrieben sind, daß man kaum glauben mag, daß dies weder dem Autor selbst, noch einem – hoffentlich genauen – Lektorat aufgefallen sein sollte.
Man könnte DIE WAHRHEIT ÜBER DEN FALL HARRY QUEBERT hervorragend nutzen, um die Anatomie eines Bestsellers zu erstellen, letztlich den Beweis zu führen, daß Erfolg eben doch planbar ist, nicht nur im Bereich Videospiele und Superheldenverfilmungen, sondern eben auch im literarischen Sektor. Wenn man das hier denn „Literatur“ nennen will. Dabei soll nicht unterschlagen werden, daß Dicker einiges auch durchaus gelingt. Es gibt schreiend komische Szenen, gerade wenn er tiefer in die Hoffnungen und Erwartungen der Bewohner des Kleinstädtchens eintaucht und diese als gnadenlose Kleingeister und Provinzler hinstellt (was an sich natürlich wieder Klischees sind), wenn sie sich durch die Anwesenheit eines in New York angeblich weltberühmten Schriftstellers Aufwertung und sogar persönliche Erfüllung erwarten. Es gelingt Dicker auch, Spannung zu erzeugen, wobei man allerdings konstatieren muß, daß der Roman definitiv 200 Seiten zu lang ist. Einzelne Dialoge sind, wohl geschult an Stephen King und John Irving, durchaus süffig und treiben die Handlung voran. Und natürlich ist das Ganze überaus kunstfertig konstruiert.
Wie hier, zeitlich auf verschiedenen Ebenen ineinander verschachtelt, die Lebenswege etlicher Haupt- und Nebenfiguren, die doch auch lebendig wirken, miteinander verwoben und offengelegt werden, wie sich lose Enden zusammenfügen – wenn auch manchmal auf Kosten der Glaubwürdigkeit – und wie trotz aller Übertreibungen in Motivik und Psychologie des Personals doch ein hübsch lesbarer Roman entsteht, der gut geeignet ist, am Strand verschmökert zu werden, verdient gewiß Respekt. Aber es bleibt eben Kunstfertigkeit, eine Fleißleistung, Handwerk. Nichts dagegen. Im Kern ist dies ein Kriminalroman, darüber sollte man sich nicht täuschen. Ärgerlich ist die Schamlosigkeit, mit der Dicker sich in der Literaturgeschichte bedient und dabei meint, seinem Publikum überlegen zu sein, das bei all den Winkelzügen nicht merken soll, wie hier jemand seinen Mangel an Ideenreichtum, originellen Perspektiven, sowie die fehlende Fähigkeit, ernsthaft von der Liebe und ihren Verwicklungen zu erzählen, kaschiert. Irgendwann – und das ist tödlich für jeden Roman – kommt man sich dabei schlicht veräppelt vor. Spätestens zu diesem Zeitpunkt fängt DIE WAHRHEIT ÜBER DEN FALL HARRY QUEBERT an, den Leser zu nerven. Und das ist der Tod aller Literatur.
Sei´s drum, Joël Dicker hat (s)ein Erfolgsrezept gefunden und seine Leser werden es ihm danken, ab nun in Variationen dasselbe wieder und wieder vorgesetzt zu bekommen. Die Sommer sind lang, sie sind heiß, da braucht es viel Stoff, der nicht allzu viel intellektuelle Eigenleistung verlangt. Hier ist er.