DER WILLE ZUM BÖSEN/ILL WILL

Dan Chaon ist ein wahrlich furchteinflößender Thriller gelungen, der sich mit den Großen des Genres (und darüber hinaus) messen kann

Man sollte einmal ein kritisches Symposium abhalten, auf dem Lektoren sich für die Wahl deutscher Titel amerikanischer, britischer oder französischer Thriller und Kriminalromane verantworten müssten. Unter anderem sollte das der Verantwortliche tun, der aus ILL WILL (so der Originaltitel dieses Werkes) ein DER WILLE ZUM BÖSEN gemacht hat. Warum? Weil sich auf den Auslagetischen der Bahnhofsbuchhandlungen „das Böse“ immer gut macht? Einerlei, worum es im entsprechenden Buch eigentlich geht?

Mag sein. Im Falle von Dan Chaons Roman ILL WILL wird der deutsche Titel dem Inhalt nicht nur nicht gerecht, er konterkariert ihn geradezu. Chaon hat nominell einen Thriller geschrieben, das stimmt. Aber wie nicht jeder Thriller „das Böse“ behandelt, ja, die besseren sogar wissen, daß es so etwas wie „das Böse“ gar nicht gibt, so muß auch nicht jeder Thriller zwingend Mord und Totschlag behandeln oder wie ein Polizist mörderische Taten aufklärt. Im Gegenteil –  ganz im Sinne vieler Thriller gerade der 1970er Jahre, die nicht zu unrecht oft das Präfix „Psycho-„ erhielten, weist ILL WILL einen wirklich furchteinflößenden Plot auf, der tief in die Psychen der Hauptprotagonisten vordringt und dort schreckenerregende Beschädigungen zutage fördert, der sich aber auf geradezu fahr-lässige Weise aller herkömmlichen Thrillerelemente entledigt. Hier ist nahezu alles „psycho“, so gut wie nichts „Krimi“ und doch haben wir es zweifelsohne mit einem „Thriller“ zu tun. Und was für einem!

Der Psychologe und Therapeut Dustin, Vater zweier Söhne und Gatte einer an Krebs sterbenden Frau, wird immer wieder von Erinnerungen an seine Jugend in den frühen 1980er Jahren  eingeholt. Gemeinsam mit seinen Cousinen Kate und Wave und einem Adoptivbruder Rusty, wuchs er bei seinen Eltern und deren jeweiligen Geschwistern auf, die jeweils ein anderes Geschwisterteil geheiratet haben. Unter dem Einfluß des fast dämonisch wirkenden Rusty macht Dustin Erfahrungen mit Drogen, sexuellem Mißbrauch und satanistischen Ritualen. Bis er eines Tages die Leichen der Erwachsenen findet. Er und Kate sagen gegen Rusty aus, der daraufhin für dreißig Jahre ins Gefängnis wandert. Und nun wird dieser entlassen, da eine Organisation, die für zu Unrecht Verurteilte kämpft, sich für ihn eingesetzt hat, während – Koinzidenz? – der Ex-Polizist Aquil Dustins psychologische Fähigkeiten in Anspruch nimmt, um einem Serienmörder auf die Schliche zu kommen, der offenbar unentdeckt seit Jahrzehnten junge Männer ermordet…

Aus wechselnden Perspektiven – mal nehmen wir Dustins Standpunkt ein, mal den seines jüngeren Sohnes Aaron, mal den von Rusty, mal den von Kate oder Wave, wobei Dustin und Aaron durchaus unsere Hauptquellen und Bezugspersonen darstellen – werden die Geschehnisse geschildert, die sich über ca. zwei Jahre hinziehen. Zugleich bekommen wir beunruhigende und durchaus wechselhafte Schilderungen der Jahre, die den Morden an den Eltern von Dustin, Kate und Wave vorausgingen und Kapitel für Kapitel unsere Einschätzungen und auch die von uns während der Lektüre getroffenen Urteile in Frage stellen. Chaon gelingt es, den Kriminalfall in den Hintergrund treten zu lassen und unsere Aufmerksamkeit vielmehr auf die seelischen Zustände vor allem Dustins und Aarons zu lenken. Ein offenbar seelisch  schwer traumatisierter Vater, dessen Beschädigungen sich nach und nach offenbaren und die Chaon sich nicht scheut, auch anhand sprachlicher Ungereimtheiten, in Halbsätzen und Auslassungen zu verdeutlichen, und ein ebenfalls traumatisierter Sohn, drogenabhängig, zynisch und emotional erkaltet – aus dem Spannungsfeld dieser Vater-Sohn-Beziehung entsteht die eigentliche Spannung des Romans.

Es sind auch dies die eigentlichen Stärken des Buches: Seelische Zustände spürbar zu machen, in Abgründe einzutauchen und dort menschliche Pein zu finden und dem Leser verständlich zu machen, ohne (oder zumindest nur sehr, sehr selten) einen der Handelnden der Lächerlichkeit preiszugeben, was bei einigen der Figuren fast naheliegen könnte – weder den extrem leichtgläubigen und dadurch schnell manipulierbaren Dustin, der wie ein für immer Verlorener wirkt; nichz den cool scheinen wollenden Aaron, der unter seiner verhärteten Oberfläche die verletzliche Seele eines kleinen Jungen offenbart und schließlich ähnliche Fehler wie sein Vater zu begehen droht; nicht die hippiesk anmutenden Eltern der erwachsenen Protagonisten; auch nicht eine gegenwärtige Jugend, die vollkommen entfremdet wirkt zwischen Drogen, Medien, technischem Spielzeug und extremer emotionaler Erkaltung. Und auch wird sich hier nicht über eine Schicht lustig gemacht, entstammen diese Menschen doch jener Klasse, die in den USA allzu verächtlich gern als „White Trash“ bezeichnet wird, und aus der sich Dustin bei all seiner psychischen Dysfunktionalität immerhin über ein College- und Universitätsstudium herausgearbeitet hat.

Bleibt bei allem Lob eigentlich nur kritisch anzumerken, daß es vielleicht, um eine solche an sich schon (er)greifende Story zu erzählen, gar keinen Umweg über Morde und Serienkiller gebraucht hätte. Wo Literatur meist auf seelische Zustände rekurriert, um sich mit diesen auseinander zu setzen, sie zu erforschen und auszustellen, nutzt die Thriller- oder Kriminalliteratur seelische Zustände meist, um daraus Spannungselemente zu generieren. In den seltensten, den allerbesten Fällen – Patricia Highsmith oder Jim Thompson seien als Beleg angeführt – gelingt es, beides zur Deckung zu bringen. Dan Chaon darf sich berechtigte Hoffnungen machen, einst in diese Riege vorzustoßen. Vielleicht hätte das Ganze ein wenig kürzer geraten können, vielleicht hätten es ein paar literarische/sprachliche Mätzchen weniger (seitenlange Parallelmontagen, deren tieferer Sinn sich nicht wirklich erschließt, kann man doch nun mal nicht parallel lesen, sondern so oder so nur hintereinander weg) auch getan und aus ILL WILL wäre vielleicht ein noch besseren Roman geworden, als er es ohnehin schon ist. Doch soll man nicht kleinlich sein, dies fesselt und reißt mit und es fröstelt einen bei der Lektüre. Selten, daß man so tief in Gedanken- und Seelenwelt solch zerrütteter Charaktere hineingezogen wird, die alles Mögliche sind – nur eines nicht: „böse“.

 

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