EINE FRAU/UNE FEMME

Annie Erneaux verarbeitet den Tod ihrer Mutter in ihrer gewohnt nüchternen Weise

Wenn in den mittleren Jahren, vielleicht ab 45, das Altern und schließlich das Sterben der eigenen Eltern zu einem der einschneidenden Ereignissen des eigenen Lebens wird, klärt sich auch eine Frage, die man sich zuvor möglicherweise nie gestellt hat. Nämlich die, welchen Stellenwert welches Elternteil im eigenen Leben eingenommen hat. Die Mutter, der Vater – welche Bedeutung haben diese Menschen im eigenen Leben, für was stehen oder standen sie? Wer ist einem womöglich näher gewesen?

1983 erschien Annie Erneaux` Kurzprosa LA PLACE, in welcher sie sich mit dem Tod ihres Vaters auseinandersetzte und aus diesen Betrachtungen eine Studie des Milieus ableitete, dem sie entstammt. Kleinibürgerlich, rückgreifend in die Arbeiterklasse, mit einem steten Wunsch nach sozialer Anerkennung und zugleich einem tief verwurzelten Mißtrauen gegenüber der Bourgeoisie, konnte man diesen Mann als ein Zeichen, ein Symbol für eine gewisse Klasse der französischen Gesellschaft erkennen. Als Person, als Individuum, war er schwer zu fassen. Zugleich entstand ein früher Entwurf jener Art zu schreiben, die die „Ethnologin ihrer selbst“ (Erneaux über Erneaux) anstrebte. Sie habe keinen Stil, sie schreibe weder literarisch noch rein soziologisch, sondern betrachte das eigene Leben als eine Art Steinbruch, als ein Normmodell, um die Nachkriegsgesellschaft Frankreichs zu analysieren. Zur vollen Entfaltung kam dieses Konzept schließlich in LES ANNÉES (2008). Interessant ist – als eine Zwischenstation – das 1988 erschienene Werk UNE FEMME.

Hier geht Erneaux von den letzten Jahren ihrer Mutter und deren Tod in einem Altenheim in einem Pariser Vorort aus und arbeitet sich an dem Leben dieser Frau ab. Es ist ein schmaler Band, der Einblick in ein Leben gewährt, in dem ebenfalls der Traum von sozialem Aufstieg maßgeblich war, ein Leben, das von Arbeit – zunächst als Arbeiterin, dann als Besitzerin eines Ladens mit angeschlossener Kneipe – bestimmt war, aber auch von einer Art Grundfreude darüber, daß die eigene Tochter es zu „etwas gebracht“ hatte, daß das eigene Kind es „einmal besser haben würde“. Ein elementarer Unterschied zu Erneaux´ Vater, der nominell zwar ähnliche Wünsche gehabt haben mag – Wünsche, die typisch für die Schicht gewesen sein mögen, der er entstammte – , zugleich aber immer voller Mißtrauen gegenüber den Schichten geblieben ist, in die die Tochter durch Abitur, Studium, den Beruf der Lehrerin und schließlich ihre Ehe vorgestoßen war. Anders die Mutter, die die Veränderungen im Leben der Tochter als Verbesserungen begriff. Sie war auch eine Frau, die zwar voller Ehrfurcht vor jenen gewesen sein mag, die ein „besseres“ Französisch sprachen, belesen und gebildet waren, Kunst und Kultur zu schätzen wussten, dies aber zugleich eher als Ansporn, als Fokus betrachten konnte. Und in ihrem bescheidenen Maß an diesem Leben Teil haben wollte.

Erneaux´ Mutter kommt uns näher als ihr Vater im Vorgängerband. Sie wird uns als Person verständlicher und psychologisch, auch emotionaler greifbarer. Sie wird zu einer Person eigenen Rechts, wenn man so will. Und so wird Erneaux´ Buch, liest man es in einer Doppellektüre mit LA PLACE, eben auch zu genau der Art von Prüfung, von der im Eingangsabsatz die Rede war. Man kann spüren, daß der Tochter die Mutter als Mensch näher gewesen ist. Sicher – sie lebte weitaus länger als der bereits 1967 gestorbene Vater, Erneaux musste das Altern, vor allem die späte Demenz der Mutter miterleben und dadurch auch jene Umkehrung im Verhältnis von Eltern und Kind, die viele beschreiben, die die Eltern spät als Alzheimer- oder Demenzpatienten erlebt haben. Doch bleibt grundlegend auch das Gefühl, daß der Tochter die Mutter als Person, als lebendiges Wesen, näherstand. Vielleicht sind die Mütter unser eigentlicher Anker im Leben, während die Väter, spricht man mit Lacan (den Erneaux durchaus kennen und in Ansätzen auch gelesen haben dürfte) selbst nur Teil eines Zeichensystems sind. eine symbolische Ordnung repräsentieren

Stilistisch (und man kann sehr wohl – entgegen ihrer eigenen Aussage – von einem ausgeprägten Stil bei Annie Erneaux sprechen – und zwar einem guten, weil gut lesbar) sind jene Elemente hier noch nicht so stark ausgeprägt oder aber bewußt zurückgeschoben worden, die in LA PLACE schon prägnant waren und vor allem den späteren Werken so augenscheinlich wurden: Das Reflektieren darüber, wie man schreibt, wie man das eigene Leben und das Leben derer, die man liebt, bzw. die einen geprägt haben, beschreibt, wie man es sprachlich erfassen soll und niederlegt. Dafür gibt es bereits die charakteristischen kursiven Einschübe, die immer wieder die Sprache der Eltern und ihres Milieus wiedergeben und reflektieren. Eben Aussagen wie „etwas Besseres sein“ oder „es zu etwas gebracht haben“.

UNE FEMME scheint persönlicher, es scheint – und Erneaux weist darauf auch hin – ein Prozeß, recht unmittelbar nach dem Tod der Mutter, gewesen zu sein, der letztlich ca. neun Monate gedauert hat. Ein Prozeß des Akzeptierens wie der Verarbeitung, der Trauer, und schließlich der sprachlichen Umsetzung in Literatur. Eine Geburt, wenn man so will. Vielleicht ist man nie, in keinem ihrer Bücher, so nah an der emotionalen Seite der Autorin, ihrem eigenen Schmerz und Erleben ihrer selbst, wie hier, auch wenn dies selten oder gar nicht thematisiert wird. Es ist spürbar in diesen Zeilen. Erneaux´ Werk wird bleiben, es wird immer wesentlicher und relevanter werden – und dieser schmale Band wird darin, da sollte man sich sicher sein, eine Ausnahmestellung einnehmen, dessen Wert vielleicht vor allem jene bemerken, die selbst in Trauer sind oder Verluste zu verarbeiten hatten und haben. Kein Trost-Buch. Aber ein Trost.

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