DER PLATZ/LA PLACE

Dies ist der Ausgangspunkt für das so hoch gelobte Schreiben der Annie Ernaux

DER PLATZ (Original LA PLACE, erschienen 1983; Deutsch: Neuübersetzung von Sonja Fink, erschienen 2019) wurde, als der Roman 1983 erschien, als eine Sensation wahrgenommen. Schnell erhielt das Werk renommierte Preise und man sprach von einer gänzlich neuen Literaturgattung. Eine Art „soziologische Biographie“ habe die Autorin vorgelegt. Annie Ernaux hatte bereits zuvor schon Romane veröffentlicht, doch zum Eigentlichen ihres Schreibens, so hat sie es später selbst erklärt, habe sie erst mit diesem Werk gefunden.

Es ist ein schmaler, nicht einmal Hundert Seiten langer Band, der von ihrem Vater erzählt. Nüchtern, meist sachlich, nach eigener Aussage bar allen Stils – also frei von Metaphern, Vergleichen, stilistischer Verfremdung – nähert sie sich dem bereits 1967 verstorbenen Vater an. Und damit dem Milieu, dem sie entstammt, welches sie aber – die Lehrerin, die schließlich das Leben des Bürgertums, der Bourgeoisie, führt – weit hinter sich gelassen hat und welches sie einst mit Scham erfüllte, wovon ein späterer Titel ihres Oeuvres berichtet[1].

Dieser Mann, ihr Vater, war ein Krämer und Betreiber einer Vorortkneipe im normannischen Yvetot. Er hatte nach dem Krieg sein eigenes Milieu – die meist ungebildete Arbeiterschaft – hinter sich gelassen und den kleinen Laden eröffnet, von dem er sich erhoffte, seinen eigenen Kindern eine bessere Zukunft zu sichern. Auch diese Divergenz zwischen dem Wunsch, daß der eigene Nachwuchs es einmal besser haben solle, zugleich aber vor all den Veränderungen, die das mit sich bringt, in eigenem Unwissen zurückzuschrecken, macht nicht nur einen Teil dieses Buchs aus, sondern ist steter Bestandteil in Ernaux´ Werk seit DER PLATZ.

Man sieht hier, wie sie noch sucht, wie sie noch ausprobiert, wie dieses Schreiben funktionieren könnte, wobei sie schon damals sehr sicher einige der Elemente nutzt, die ihr Schreiben seither bestimmen. Weshalb man durchaus darüber streiten kann, ob sie keinen eigenen „Stil“ ausgeprägt habe. Da sind bspw. die in Kursivschrift eingestreuten Sätze, die die Sprache ihrer Umgebung in Yvetot wiedergeben. Die Reflektion auf die – gesprochene – Sprache ist wesentlicher Bestandteil dieser Studien. Viele Bekannte und Kunden ihrer Eltern waren in den späten 40er und den 50er Jahren noch nicht des Schreibens und Lesens mächtig, man sprach ein Patois, das teils weit von der französischen Amtssprache entfernt war und das in der deutschen Übersetzung zwangsläufig verloren geht, wenn man die französische Sprache nicht genau beherrscht und die Feinheiten gelegentlicher im Original stehen gelassener Differenzen so zwar sieht, aber nicht wirklich versteht. Ein Sprechen, das verrät – die Herkunft, die Klasse und die Bildung des einzelnen.

Für Ernaux ist die Sprache eines der ganz wesentlichen Merkmale für Klassen- und Schichtzugehörigkeit. In der eigenen Alltagssprache fühlt man sich wohl, geborgen, aber schon der Besuch des zukünftigen Schwiegersohns, der ganz offensichtlich einer anderen sozialen Schicht entstammt, führt zu Komplikationen. Im Bemühen, die eigenen Unzulänglichkeiten zu kaschieren – was eben auch und gerade die Sprache miteinschließt – wird die Diskrepanz umso deutlicher. Und verräterischer.

Es ist aber nicht nur das Patois, das hier auffällt, es sind auch jene kursiv eingeschobenen Redewendungen, die im Alltag Halt geben, die ein unsichtbares Gerüst aus Regeln und Konventionen definieren, welche den Alltag und die eigenen Weltsicht bestimmen. Zugleich ist diese Sprache – sowohl die das Patois´, als auch all die darin enthaltenen Lebensweisheiten – auch ein ewiger Stachel derer, die sie sprechen. Eben weil sie die eigene  Unterlegenheit markiert, sie legt gnadenlos den eigenen gesellschaftlichen Ort frei, weshalb der Vater sich einerseits bemüht, das Patois abzulegen, sich aber auch nicht auf eine Sprache einlassen kann, die er nicht kennt, deren Begriffe ihm nicht vertraut sind. Würde, so erklärt Ernaux an einer Stelle des Buchs, sei im Lebenskonzept ihrer Eltern nicht vorgekommen.

Diese Menschen, die Ernaux lange als Kollektiv wahrnimmt, in das sie sich selbst einschreibt und deshalb immer wieder die Begriffe „wir“ und „uns“ nutzt, stoßen in einer Zeit rasanten Aufbruchs in die Moderne überall an Grenzen, werden immer wieder mit der eigenen Rückständigkeit konfrontiert. Die daraus entstehende Unsicherheit, aber auch eine unterschwellige Aggression, erklärt sich so. Ernaux spürt dem nach, spürt diesem Gemisch aus „einfacher“ Moral, sozialem Druck, innerlich empfundenem Defizit und dem Festhalten an konservativen, oft noch kirchlich vermittelten, Werten nach.

Hier, in DER PLATZ, bleibt die Beschreibung noch einem rein soziologischen Konzept verhaftet, die Psychologie dahinter entdeckt sie zwar, nutzt sie allerdings eher zur Erklärung gewisser allgemeiner Zusammenhänge. Daß sich da auch andere, weitaus persönlichere Abgründe auftaten, wird sie erst später, in einem Buch wie DIE SCHAM, aufgreifen und näher untersuchen, weshalb die Lektüre des späteren Buchs auch sehr viel intensiver und auch schmerzhafter ist.

DER PLATZ entstand über fünfzehn Jahre nach dem Tod des Vaters, also in gehöriger Distanz zum eigentlichen Ereignis seines Todes und auch dem seines Lebens. Die Reflektion über dieses Leben und den Mann, der es gelebt hat, war also bereits weit vorangeschritten. Das änderte sich schon bei ihrem nächsten Werk, EINE FRAU (Original UNE FEMME; erschienen 1988, Dt. 2019), das sich mit dem erst kürzlichen Tod der Mutter nach langer Demenzerkrankung auseinandersetzt und damit viel unmittelbarer ist.

Wenn man Ernaux liest – auf Deutsch liest – und der Veröffentlichung ihres Werks bei Suhrkamp folgt, ist man fast gezwungen, es rückwärts zu lesen. So ist die Lektüre von DER PLATZ eher eine ergänzende zu den schon länger verfügbaren Titeln, doch ist es insofern interessant, da es eben diesen Ausgangspunkt markiert, an dem Ernaux das gefunden hat, was wohl ihre ureigene Sprache und damit Herangehensweise ist. Sie hat damit allerdings etwas geleistet, was jüngere Autoren wie Didier Eribon in den vergangenen Jahren aufgegriffen haben und fortführen: Eine radikale Untersuchung der eigenen Herkunft und dabei eine konsequente, meist wertfreie, Darstellung des Weges, den man selbst zurückgelegt hat.

Ernaux ist vielleicht „allgemeingültiger“, da sie ihr Leben als eine sehr konventionelle Form des Daseins begreift, während bspw. Eribon aus der Sicht eines Homosexuellen schreibt, der sich so auf eine ganz eigene Art mit dem Milieu, dem er entstammt, auseinandersetzen muß. Annie Ernaux, eine, wie sie es ausdrückt, „Ethnologin ihrer selbst“, kann gerade die vermeintliche Durchschnittlichkeit ihres Lebens zur eigentlichen Metapher, zur Meta-Metapher ihres Schaffens, machen, da es dadurch beispielhaft für eine Generation wird, die nicht mehr an den Klassenschranken abprallte, sondern Teil eines Aufbruchs wurde. Und sich damit immer weiter von den Eltern, der eigenen Herkunft, entfernte. Zu der eine Verbindung (wieder) herzustellen so unglaublich schwierig ist, wie Ernaux immer wieder betont.

 

[1] Ernaux, Annie: DIE SCHAM (LA HONTE; Original erschienen 1997, Deutsch 2020).

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