DER GANG VOR DIE HUNDE

Kästners FABIAN in einer neuen, neu redigierten und somit ursprünglichen Fassung

Es werden regelmäßig Erhebungen durchgeführt, welche Bücher eher Frauen, welche eher Männer ansprechen. Regelmäßig findet sich da immer noch Max Frischs STILLER unter jenen Werken, die Männer bevorzugen, aber immer noch wird auch Erich Kästners FABIAN. DIE GESCHICHTE EINES MORALISTEN genannt. Ein Buch, das Ende der 1920er Jahre geschrieben und erschienen, gerade die Haltung junger Männer, die den Krieg – also den heute Ersten Weltkrieg genannten – erlebt und vor allem überlebt hatten, widerspiegelt. Wie SCHLUMP, Hans Herbert Grimms nahezu apathische Beschreibung des Krieges, wie Remarques bittere Anklage IM WESTEN NICHTS NEUES, berichtet auch Kästners Buch von der inneren, der seelischen Zerstörung derer, die die Lotterie der Schützengräben „gewonnen“ hatten. Anders als in den genannten Romanen, dezidierten Werken über den Krieg, spielt diese Erfahrung im FABIAN allerdings eine zurückgestellte Rolle, ist allerdings wesentlich für das Verständnis der Hauptfigur.

Dieser Jakob Fabian erlebt die Jahre der Weimarer Republik, gerade die Jahre unter Brüning, die heute in der Wissenschaft längst als Quasi-Diktatur betrachtet und als solche auch im Roman benannt werden, als den Beginn eines Höllensturzes. Er – wie sein bester Freund Labude, ein sich habilitierender Sozialist aus besserem Hause – sieht in einem offenen und sich einigenden Europa die einzige Möglichkeit, die Fehler der jüngsten Vergangenheit nicht zu wiederholen. Der Aufstieg der Nationalsozialisten, zugleich die Angriffe der Kommunisten auf die Republik, das Zehren der Fliehkräfte, die innere Zersetzung – deutlich sieht Fabian das Heraufdämmern einer neuen, einer schlimmen, gefährlichen und potentiell tödlichen Zeit. Diese Erkenntnis und das Echo des ersten Krieges lassen ihn zu einem Moralisten werden, der seine Umgebung gnadenlos, ohne Rücksicht auf Etikette, überdeutlich und immer ehrlich wissen läßt, was er von den Irrungen und Wirrungen hält, derer er gewärtig wird. Dekadenz, fast gesellschaftlicher Defätismus, die Aufgabe jeglicher Loyalitäten, Treue, Freundschaft und allen Anstands lassen ihn einen Standpunkt einnehmen, dessen moralische Fallhöhe so enorm ist, daß auch er sie schlicht nicht halten kann. Fabian mäandert durch die Berliner Tage und Nächte, zunächst noch als „Propagandist“ – also Werbefachmann – einer Zigarettenfabrik angestellt, später, auch aufgrund seines losen Mundwerks, arbeitslos und ohne viel Ehrgeiz, überhaupt wieder in Lohn und Brot zu kommen; läßt sich auf allerhand erotische Händel ein, lernt eine Frau kenne, die ihn wirklich interessiert, sich aber für eine mögliche Karriere beim Film zu prostituieren bereit ist und verliert durch den Selbstmord seines Freundes Labude schließlich jedweden Sinn am Leben.

Daß Kästner seinen Helden – eigentlich eher schon einen Antihelden – im allerletzten Satz des Romans mit einer Lakonie sterben läßt, die wenig Vergleichbares in der Literatur kennt, ist folgerichtig und markiert genau die Verzweiflung, die dem Werk selbst wohl zugrunde lag, auf jeden Fall aber innewohnt. Vom Lektorat erheblich gekürzt und auch etlichen Veränderungen am Text selbst unterworfen, erschien der Roman 1931 unter dem bekannten Titel. Seit 2013 liegt der Text in seiner Urfassung in einer Ausgabe des Schweizer Atrium-Verlags vor, neu redigiert und mit einem umfassenden Apparat, inklusive der unterschiedlichen Vorworte des Verfassers zu den einzelnen Ausgaben und einer umfassenden Darstellung der Veröffentlichungsgeschichte. Gewählt wurde der von Kästner ursprünglich und unbedingt gewollte Originaltitel DER GANG VOR DIE HUNDE. Man begreift, wenn man sich ein wenig mit den Schrecken jener Tage auskennt, ein wenig die Literatur und Geschichte des Ersten Weltkrieges, warum dieser so verzweifelt um Würde und Integrität kämpfende und so unbedingt ein humanes Ansehen auch ohne gesellschaftliche oder berufliche Stellung bestehende Jakob Fabian so vielen Männern seiner Zeit – aber auch darüber hinaus, denn Kästner fängt etwas durchaus Universelles ein – als Vorbild gelten konnte, warum dieser Roman und mit ihm seine Hauptfigur, so beliebt gewesen ist. Selten wurde ein so treffendes Portrait eines gebildeten, sensiblen, verletzlichen und äußerst verletzten jungen Mannes geboten, eine Darstellung, der es gelingt, dieses spezifisch männliche Aufbruchsgefühl, die Welt erobern zu wollen, zugleich von Unsicherheit, Selbstzweifeln und natürlich adoleszenten Weltschmerzes durchflutet und getrieben. Das gilt – auch ohne Fabians spezifische Vorgeschichte eines ehemaligen, sehr jungen Frontkämpfers. Und dazu passt auch Kästners Umgang mit Erotik und Sexualität, die für einen jungen Mann natürlich ebenfalls ununterbrochen interessant und faszinierend sind.

Kästner nutzt das erotische Moment allerdings auch allegorisch, indem er – ohne Scheu, offen, sachlich fast, dadurch allerdings nie pornographisch oder auch nur effektheischend –  Erotik und erotisches Abenteuer zwar dezidiert, manchmal fast explizit, zugleich aber – durch die jeweilige Situation und die Auflösung derselben – als Symbol und Katalysator einer Gesellschaft darstellt, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher ist, in der der einzelne – mehr noch: DIE einzelne – nicht nur körperlich, sondern in vielerlei Hinsicht gezwungen ist, sich zu prostituieren. Der äußere Druck – wirtschaftlicher, aber auch politischer Natur – steigt beständig und fordert Tribute. In den Salons, den Kaschemmen und Bordellen, in denen auch Fabian mit erstaunlicher Abgeklärtheit ein und aus geht, die ihm aber nichts bieten, ist es doch sein rigider Moralismus, der zwar den Trieb vom Fühlen zu trennen vermag, ihn aber auch schaudern lässt ob der vermeintlichen Verkommenheit, in diesen Etablissements und dem dortigen Personal kommt eben die Selbstvergessenheit und Dekadenz der Epoche, einer sich selbst zugrunde richtenden Ära, zu voller Blüte, zu ihrem adäquaten Ausdruck. Zumindest stellt es sich Fabian, durch ihn auch Kästner, so dar.

Und Kästner stellt es so dar. Es ist fast eine Binsenweisheit, aber die wieder und wieder gestellte Frage danach, ob und wenn ja, was man habe wissen können von dem was da aufzog, beantwortet ein Text wie dieser übergenau mit einem Ja und einem „recht viel“. Nein, keine Vernichtungslager vielleicht, aber einen Krieg? Doch, ja. Man kann es einem Text wie diesem, der die Gefahr schon im Titel wittert und sie allegorisch im letzten Satz verdichtet, entnehmen, wie sehr in der Luft lag, was zehn Jahre später kommen sollte. Und natürlich ist auch die Repression, die grundlegende bevorstehende Veränderung der Gesellschaft hier spürbar, mehr noch, sie wird an verschiedenen Stellen explizit thematisiert. Denn auch dies unterliegt dem Moralismus dieses Jakob Fabian: Er stellt die entscheidenden Fragen und er läßt seine Umwelt nicht vom Haken, wenn es drauf ankommt. Sie müssen sich verhalten. Und er wird enttäuscht werden. Immer wieder, gnadenlos. Denn die, die er zur Rede stellt, scheinen sich lange schon abgefunden zu haben mit egal was da kommt.

Es ist Labudes Selbstmord, der auf der Handlungsebene den dramatischen Wendepunkt, auf der allegorischen Ebene aber anzeigt, was sich da im Geheimen abspielt. Kästners Welt ist nicht die des Proletariats. Er schildert weder die Welt der Hinterhöfe, noch die Halbwelt, in der Alfred Döblins Franz Biberkopf zuhause ist. Auch nicht die Kleinbürger, denen Hans Fallada so prägnante Portraits widmete oder ausgewiesene Künstlerkreise. Kästners Figuren entstammen dem Bürgertum, die Not der Armut, des Hungers, der Arbeitslosigkeit ist in seinen Kreisen entweder noch nicht angekommen, oder wird zumindest entweder durch das Milieu, in dem man sich bewegt, oder aber durch das Elternhaus, sprich: die soziale Klasse/Schicht, der man entstammt, aufgefangen. Labudes Freitod wird hervorgerufen durch sein vermeintliches Versagen mit seiner Habilitation, deren Verriß sich als grausamer Scherz eines Neiders herausstellt – doch ist es nicht das Bildungsbürgertum, welches freiwillig, sehenden Auges, vielleicht getäuscht, aber definitiv in vorauseilendem Gehorsam, in den Abgrund der Diktatur gelaufen ist? Kästner zeigt dieses Bürgertum als schwaches, als eine gesellschaftliche Kategorie, auf die kein Verlass mehr ist.

Auch Fabians Wortgewandtheit, sein Sprachvermögen, seine Rhetorik, die wie eine moralische Waffe anmuten, sind Ergebnis seiner Herkunft und seines Bildungsweges. Das Internat und von dort in den Krieg, erlebt er die Weimarer Jahre als einen Strudel aus politischem Wahn, Zersetzung, Dekadenz. Seine Reaktion darauf ist das – sprachliche – Beharren auf Genauigkeit, auf die Macht des Wortes, des Geistes und daß das Ökonomische niemals vor dem Humanen, vielleicht dem Humanistischen, kommen könne. Bevor er bereit ist, sich auf Karriere, Ehe, darauf einzulassen, den Regeln bürgerlicher Existenz zu folgen, will er grundlegende Fragen beantwortet haben, wohl wissend, daß die Antworten, die er bekommt oder findet, nie befriedigend sein werden. Ein Teufelskreis, ein selbstgewählter. Oder Weltverachtung. Oder Weltverweigerung? Ganz leise, ganz fern ist da ein Echo von  Melvilles Bartleby zu vernehmen, jenen großen Verneiner und Verweigerer der Weltliteratur. Doch ist Fabians Verweigerung weniger eine existenzialistische, oder, wenn man denn so will, ist es eine Metaexistenzialistische, denn die Erfahrungen des Krieges haben ihm und den Überlebenden seiner Generation ja überdeutlich gezeigt, wie zufällig alles Leben ist – oder eben nicht ist. So ist dies kein Leiden am reinen Sein, es ist ein Leiden an einer Existenz, die geprägt ist durch eine vom Menschen gemachte Welt, durch seine, des Menschen, Bedingungen, seine Systeme, in deren Mühlen man gnadenlos zermalmt werden kann, ist man zur falschen Zeit am falschen Ort, oder auch nur in die falsche Zeit hineingeboren.

Diesem Fabian gerinnt aber doch das Gute, das ihm begegnet, das ihn glauben lassen könnte, ihn, den humanistisch Gebildeten, ihn, der sich die Welt durchaus ästhetisch anzueignen versteht, zu etwas Verdorbenem. Da kennt der Autor wenig Skrupel seiner Figur gegenüber. Es ist gekonnt, wie es Kästner gelingt, Fabians Zuneigung zu Cornelia – immerhin eine von Battenberg – kaum spürbar in den Text einfließen zu lassen und dem Scheitern dieser Hoffnung schließlich umso größeres Gewicht verleiht. Wenn Jakob Fabian, wie gemeinhin angenommen, durchaus Züge  eines Selbstportraits trägt, so wird hier zwar die berechtigte Empörung eines Vertreters jener Generation veranschaulicht, die sich zurecht um ihre Jugend betrogen fühlen durfte, zugleich aber durchaus (selbst)kritisch das Bild eines Menschen, eines Mannes, gezeichnet, der an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern droht. Ein Mann, dem sein moralischer Rigorismus andere Perspektiven auf die Realität verstellt. Es gibt Angebote genug, freundliche und weniger freundliche, doch Fabian schlägt sie so oder so aus.

Es ist unfair, Literatur vergangener Epochen gegenwärtiger entgegen zu stellen, doch ist bei Re- wie Neulektüre eines Werkes wie Kästners eine Dringlichkeit zu spüren, die die Notwendigkeit, letztlich die Relevanz dieser Literatur verdeutlicht, gleichsam bezeugt. Es mag die Dringlichkeit den Zeitläuften geschuldet sein, DER GANG VOR DIE HUNDE bleibt ein intensives Stück deutsche Literatur, die ihre Qualität ganz gewiß auch und vor allem der sprachlichen Meisterschaft ihres Verfassers zu verdanken hat. Kein Wunder, daß der Roman so lange unter den beliebtesten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts zu finden war.

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