FLUG 93/UNITED 93

Nervenzerfetzend, eindringlich und ergreifend

An einem wunderschönen Dienstagmorgen im September 2001 besteigen an verschiedenen Flughäfen an der Ostküste der USA die unterschiedlichsten Passagiere die Maschinen, die sie an ihre Ziele bringen sollen – Pendler, Geschäftsleute, Familien, Urlauber.

Und – auf vier Flugzeuge verteilt – 19 Männer islamischen Glaubens, die wissen, daß sie alle innerhalb der kommenden 2 Stunden sterben werden. Und die wissen, daß sämtliche Passagiere, die mit ihnen in den entsprechenden Maschinen sitzen, ebenfalls sterben werden. Für einen Krieg, von dem die meisten der Opfer bis zu diesem Tag nicht einmal wußten, daß er geführt wird, ein heiliger Krieg gegen Amerika, den Hort des „Bösen“.

Die zu allem entschlossenen Männer verstehen sich als Krieger in dieser epischen Auseinandersetzung und sie werden aus Passagierflugzeugen rasende, todbringende Raketen/Bomben machen. Drei der entführten Maschineen werden ihr Ziel erreichen und das erste wirklich ikonographische Zeichen des 21. Jahrhunderts setzen: Die brennenden Türme des World Trade Center in New York; schon weniger beeindruckend der Rauch, der aus den Trümmern des Pentagon aufsteigt. Die vierte entführte Maschine – bis heute wird gerätselt, was ihr eigentliches Ziel gewesen ist: Das Capitol? Das weiße Haus? – erreichte ihr Ziel jedoch nicht und stürzte in Shanksville, Pennsylvania auf ein Feld und zerschellte dort.

UNITED 93 (2006) versucht, die anderthalb Stunden, die zwischen den ersten Ungereimtheiten auf den Radaren und Monitoren diverser Flugüberwachungszentren, Flugaufsichtsbehörden, des Militärs und dem Absturz des titelgebenden Fluges „United 93“ liegen, zu rekonstruieren. Wie die Männer in den Behörden lange nicht begreifen, was sich da abspielt, wie das Militär wegen einer Flugübung über dem nördlichen Atlantik nicht genügend Kampfjets zur Verfügung hat, um die Ostküste umfangreich und ausreichend zu schützen, wie in den Kontrolltürmen die unterschiedlichsten, oft gegenläufigen Meldungen einlaufen, im Laufe von ca. anderthalb Stunden für immer mehr Verwirrung sorgen und wie schließlich alle wie gebannt, fasziniert und vollkommen schockiert auf die ersten CNN-Bilder des brennenden Nordturms, dann auf die Livebilder des Einschlags in den Südturm starren – Paul Greengrass gelingt ein eindringliches Dokudrama, das in den letzten 20 Minuten zu einem unglaublich intensiven Kammerspiel und Absturzdrama wird, wie man es auf der Leinwand selten gesehen hat.

Weitestgehend mit unbekannten Schauspielern realisiert, teils mit Laien, die an den wirklichen Ereignissen beteiligt gewesen sind, unter verstärktem Einsatz der Handkamera, unter Verzicht auf ein wirklich ausgearbeitetes Drehbuch und im Rückgriff auf die dokumentierten Anrufe und Berichte aus der entführten Maschine, bemüht sich der Film darum, zu zeigen, wie „ganz normale Menschen“, die sicherlich alle niemals Helden sein wollten, durch die Ereignisse nahezu gezwungen werden, sich zu entscheiden, einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen – und, wenn schon nicht ihr eigenes, so doch das Leben jener zu retten, die sich in dem als Ziel bestimmten Gebäuden aufhalten. Diese Minuten, die fast in Echtzeit erzählt werden, in denen aus der Ungewißheit, womit man es hier eigentlich zu tun hat, die Gewißheit wird, es offenbar mit zu allem Entschlossenen zu tun zu haben, sind an Spannung und Dramatik kaum zu überbieten. Der Kampf schließlich, den die verzweifelten Passagiere gegen die vier Entführer kämpfen, geht dann unterschiedslos in den unfassbar rasant gefilmten Absturz über, welcher sicherlich zu den heftigeren Kinomomenten der jüngeren Vergangenheit gehört.

Es ist erstaunlich, daß es Greengrass gelingt, den Film von der ersten Minute an spannend, ja nahezu nervenzerfetzend spannend zu inszenieren, obwohl ja nun jeder Zuschauer genau weiß, was passieren wird. Der Regisseur – auch für das (improvisierte und improvisierende) Drehbuch verantwortlich – verzichtet dabei vollkommen auf Vorgeschichte oder Erklärungen. Er zeigt, als sei seine handgeführte Kamera immer dabei gewesen, wie sich die Entführer vorbereiten, er zeigt die alltäglichen Routinen in den diversen Flugkontrolltzentren, Besprechungen, Schichtübergaben. Und er zeigt, wie sich erst nach und nach das Gefühl einschleicht, daß da etwas nicht stimmen kann. Schließlich scheut Greengrass sich nicht, auch den Einschlag in den Südturm zu zeigen.

Was den Film außergewöhnlich macht – gerade für eine amerikanische Produktion, so kurz nach den wahren Ereignissen gedreht – , ist seine Figurenzeichnung. Keine Helden und keine eindeutigen Bösewichter. Diese Männer, die sich mit Kleinmessern und einer Bombe (von der nie klar wird, ob sie echt oder eben doch nur eine Attrappe ist) des Flugzeugs bemächtigt haben, die sofort einen Passagier töten und auch die Piloten schlicht abschlachten (und genau so zeigt der Film es auch – als eine Art „Schlachtung“), die eine der Stewardessen töten, weil sie sich nicht sicher sind, ob diese die Behörden benachrichtigen könnte, diese Männer werden gezeigt als Menschen mit Angst, nicht als religiöse Fanatiker. Sie müssen sich ab eines gewissen Zeitpunkts in ihren Wahn hineinsteigern, um diese Mission abschließen zu können, doch der Film zeigt, wie ihnen die Angst, ja fast der Schock über das eigene Tun, in die Gesichter geschrieben steht. Es gab nach den Ereignissen eine Menge Theorien darüber, was an Bord von Flug 93 wirklich geschehen sei – ob Ziad Jarrah, der die Maschine wohl flog, in den letzten Minuten, der Film deutet es sogar noch früher an, Zweifel an dem bekam, was die Vier da im Begriff waren zu tun, ob er entweder das ganze Unternehmen abbrechen wollte oder aber die Maschine bewußt in ein offenes Feld hat stürzen lassen, um wenigstens nicht das Ziel zu zerstören. Das mag sein, doch geht der Film nie weiter, als anzudeuten, was ihn angenehm wenig spekulativ macht. Immer sind Räume offen für weitergehende Überlegungen und Interpretationen des Zuschauers.

Den Entführern gegenüber steht ein Haufen normaler Menschen, die sich nach und nach per Bordtelefon von ihren Lieben verabschieden (die davon existierenden Aufzeichnungen waren Grundlage des Drehbuchs für diese Stellen; und niemand soll „Kitsch“ rufen – das waren Menschen, die im Bewußtsein des eigenen Todes mit den ihnen Nächsten sprechen wollten – wann, wenn nicht in diesem Moment, soll man denn bitte „kitschig“ werden?), die aber auch begreifen, daß da etwas Größeres im Gange ist und sie vielleicht in dem kurzen Rest ihres Lebens noch eine Aufgabe haben – das Allerschlimmste zu verhindern und deshalb angreifen zu müssen. Verzweifelt angreifen zu müssen: Keine Helden, kein „Let’s Roll“, was Neil Young, der eben auch nicht immer trittsicher ist, zu einem patriotischen Song animierte (der nicht einmal gut ist), sondern lediglich der schließlich trotzige Mut der Verzweiflung. Man kann es nicht oft genug sagen: Verzweiflung, pure, reine Verzweiflung.

Greengrass enthält sich aller Deutungen. Er zeigt eine in sich geschlossenen und funktionierende Narration dieser Ereignisse, die so gewesen sein KÖNNTE, ob sie so gewesen IST, werden wir nie erfahren. Das scheint sehr wichtig in der Beurteilung dieses (wie aller dokumentarischen oder künstlerischen Äußerungen zum Thema) Films – man kann ihn weder auf der Basis von „Wahrheit“ beurteilen, noch aufgrund von „Realität“. Bei aller Nutzung der bekannten Quellen bleibt es ein Film.

Es gab Stimmen, die meinten, es sei geschmacklos diesen Kampf nachzustellen, der Film käme zu früh. Das ist ein Argument, daß man gelten lassen muß. Es mag so sein, daß ein paar Jahre mehr hätten vergehen sollen, bis die Bilder und Ereignisse dieses so einschneidenden Tages für fiktionalisierte Dramen genutzt wurden. Doch kann man sagen, daß, WENN man schon einen solchen Film dreht, die Lösungen, die Paul Greengrass anbietet, die denkbar besten sind.

Und so laufen auch die Anfeindnungen der Verschwörungstheoretiker (daß es keine Wrackteile an der Absturzstelle gab, daß Zeugen eine Explosion am Himmel gesehen hätten…) ins Leere: Es sei ihnen unbenommen, ihre Version der Ereignisse zu erzählen (die dann allerdings ebenso auf ihre Haltbarkeit als Theorie überprüft würde, wie die allgemein gültige) – auch das bliebe eben nur EINE Narration der Geschehnisse. Hier hat man es eben mit DIESER Narration zu tun. Hilfreich ist es immer, den Unterschied zwischen der Realität und einem Film/Buch/dem Fernsehen klar zu markieren.

Dies ist ein erschreckend eindringlicher Film. Ein Zeugnis und ein Denkmal für jene, die an diesem Tag Opfer eines ihnen bis dahin unbekannten Krieges wurden, eines Krieges, der seitdem unser aller Leben mitbestimmt.

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