GEISTERBAHN

Ursula Krechels Abschluß ihrer Trilogie über Furcht und Elend des 3. Reichs

Ja, das ist „schwierige“ Literatur, die Ursula Krechel ihren Lesern in GEISTERBAHN (2018) zumutet. Da wird wenig erklärt, vieles aber aufgezeigt, nur muß der Leser sich seinen eigenen Zugang zum Gezeigten suchen. Nominell ist dies wohl der Abschlußband zu einer Trilogie des Exils und Weitermachens, wenn man es einmal so nennen will, die mit SHANGHAI FERN VON WO (2008) begann, in LANDGERICHT (2012) ihre Fortsetzung, vielleicht auch ihren Höhepunkt, fand und hier nun in den Niederungen der deutschen Provinz angekommen ist. Waren es in den Vorgängern vor allem Geschichten von jüdischen Exilanten – im ersten Band beschäftigte die Autorin sich mit der kleinen Enklave jüdischer Flüchtlinge im fernen Schanghai, im zweiten Band wiederum war es einen jüdischer Richter, der nach Kuba exiliert war und nach zehn Jahren Anschluß in der neuen Bundesrepublik sucht und überall auf die Widerstände alter Netzwerke und eine Öffentlichkeit stößt, die nichts mehr wissen will von Schuld und Vertreibung, gar Massenmord – , so widmet sich Krechel nun denen, die blieben, bleiben mussten, weil ihnen die Wege aus dem Land weitestgehend versperrt waren. Und jenen, die mitmachten und sich später auf „Befehlsnotstand“ beriefen.

Das Panorama ist weiter, als es in den Vorgängerbänden war. Der Blick richtet sich auf die Sintifamilie Dorn, die im Trierer Raum lebt, im Schaustellergewerbe tätig ist und in die Mühlen des Nazi-Regimes gerät; ebenso wird aber auch das Schicksal der Familie Torgau, Kommunisten, beleuchtet, die unter den verschärften Bedingungen ständiger Verfolgung lebt und deren Mitglieder teils – wie auch die Dorns – in KZ und Straflagern saßen. Einige der Familien haben überlebt, aber die Dorns betrauern auch den Verlust von sechs Kindern, die die Lager nicht überlebt haben. Weiteres Personal sind ein Junger Mann, der aufbricht, im neuen Regime Karriere zu machen und nach dem Zusammenbruch einfach weitermacht; eine junge Frau, die einer Hoteldynastie entstammt, sich aber aufmacht, die Welt auf eigene Faust zu erkunden und später nichts mehr mit dem familiären Gewerbe zu tun haben will; zudem jede Menge Rand- und Nebenfiguren, denen sich die Autorin allerdings mit Hingabe und viel Liebe zum biographischen Detail widmet.

Anders als die Vorgänger, ist dieser in fünf lange Kapitel unterteilte Roman wirklich eine Überblicks-, eine Panoramaerzählung. Selten gibt es Naheinstellungen auf einzelne Szenen oder Dialoge, oft werden lange Zeiträume in wenigen Sätzen umfasst, wirkt das Erzählen exemplarisch, vielleicht, um genau das Exemplarische dieser Schicksale zu betonen. Ein zunächst nicht näher zu identifizierender Ich-Erzähler, offenbar des Namens Bernhard Blank, tritt immer mal wieder in die Erzählung, doch kann er nicht der Erzähler all dieser Geschichten sein, wird er doch erst zur Hälfte des Buches – und damit nach dem Krieg – geboren. Sein Vater, im Buch durchweg in Großbuchstaben als MEINVATER gekennzeichnet, ist bei der Polizei, ist offenbar willentlich Handlanger des Regimes, der Erzähler imaginiert ihn in allerlei Situationen hinein, die jenen fürchterlichen Stationen des Vormarschs der deutschen Wehrmacht vor allem im Osten entsprechen, ohne daß der Leser erfährt, ob dies den späteren Recherchen Bernhard Blanks entspricht oder schlicht das Grauen der Jungen, der Nachgeborenen, vor den (möglichen) Taten der Eltern ausdrücken soll.

Zur Hälfte des Romans – etwa mit der Geburt Bernhards – ändern sich sowohl der Ton der Erzählung als auch der bisher eher distanzierte Blick, der die Schrecken, die auch die Autorin nur aus Erzählungen und Büchern kennt, bezeichnete, sich ihnen aber nicht unangemessen näherte. Nun erfahren wir erster Hand die Schilderungen einer Kindheit im Nachkriegsdeutschland, in den Wirtschaftswunderjahren, im aufstrebenden neuen Deutschland, regiert von einem Greis, der schon lang vor dem Krieg Oberbürgermeister der Stadt Köln gewesen war und sich nun mühte, dieses Land nicht nur zu befrieden, sondern auch in dir Gemeinschaft der westlichen Nationen zu führen. Immer wieder wird der erzählende Text von Ausflügen ins Zeitgeschehen unterbrochen, die allerdings – nachdem in der ersten Hälfte des Textes durchaus Jahreszahlen und genaue Daten genannt wurden und damit chronologische Ordnung boten – nun allein zeitlicher Verortung dienen.

Es ist frappant, wie all die Schrecknisse des Kriegs und der Nazi-Herrschaft plötzlich keiner Erwähnung mehr wert sind. Zumindest scheint es lange so. Der Leser ist irritiert, ob des Schweigens des Romans, bis ihm anhand meist kurzer Einblicke ins Nach- und Seelenleben der Überlebenden – sowohl die Dorns als auch die Torgaus kehren aus den Lagern nach Trier zurück – Einblicke in das nachwirkende Grauen geboten werden. Die Zeugungsunfähigkeit, weil Sterilisation an „Zigeunern“ bei den Nazis an der Tagesordnung war, die physischen Schmerzen, die von den Folterungen und Mißhandlungen geblieben sind, vor allem aber die seelischen Schmerzen, welche die Erinnerungen immer wieder neu auslösen. Und man begreift, daß es Krechel hier gelingt, etwas spürbar zu machen, was viele aus ihrer Generation so empfunden haben: Die ungeheure Last des Schweigens, des Totschweigens, des zweiten Tötens durch Verdrängung und Leugnen, bzw. Ignoranz. Das ist zwar ein grandioser stilistischer Twist, doch was dann anstatt des Schweigens erzählt wird, ist möglicherweise doch zu banal, um all die vielen, vielen Seiten zu füllen, bis doch wieder, im letzten Kapitel, die Schatten der Vergangenheit aufbrechen und Bernhard Blank, nun klar und deutlich als Erzähler des Geschilderten zu erkennen, berichtet, wie es mit denen weitergegangen ist, die uns in den Kapiteln aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren und damit seiner eigenen Kindheit und Jugendzeit bekannt sind.

Iris, die so voller Sommersprossen ist, daß sie schier leuchtet und die eine Singstimme ihr Eigen nennt, die Gläser klirren lässt; Cecilia, deren Vater – eben jener Karrierist sowohl in der Diktatur als auch in der Demokratie – als Kinderpsychologe einige der Kinder therapiert, die in Trier aufwachsen; Ignaz, noch im KZ geboren und wider aller Wahrscheinlichkeit am Leben geblieben, und Anna, die sich vom Vater lösen und Sinti-Regeln brechen und bürgerliche Existenzen in diesem neuen Deutschland aufbauen. Ihre und die Entwicklungen vieler anderer, deren Leben Blank nur kurz anreißt, werden auf den letzten Seiten noch einmal aufgegriffen und Krechel markiert hier eine Generation (der sie selbst, 1947 geboren, angehört), die zwar aufbrach, es anders zu machen, besser vielleicht, die aber dennoch immer mit den Schatten der Taten und Schuld der eigenen Eltern lebte.

Jedes dieser fünf Kapitel ist auf seine Weise gelungen, immer wieder gibt es Szenen und auch reflektierende Überlegungen hinsichtlich dieser eigenen Generation und ihrer Selbstzweifel, die den Leser packen, auch emotional packen – gerade auf den letzten Seiten, wo uns eine zarte, verspätete Liebesgeschichte geboten wird – und momentweise entführen. Nur ist das alles als Roman, als zusammenhängende Geschichte nicht kohärent. Worauf will Krechel hier hinaus? Auf das eigene Anliegen? Ist dies eine Rechtfertigung (die es sicherlich nicht braucht), ein Rechenschafts-Ablegen über das eigene Schaffen? Es erschließt sich nicht wirklich und so wird hier nichts zwingend, kommt wenig zu sich selbst, wird nie deutlich, was uns diese spezifische Erzählung eigentlich mitteilen will. Daß das Leben weiterging und schließlich die Opfer und die Täter nebeneinander leben mussten? Das die Schatten der Vergangenheit spätestens mit den Wiedergängern jener Vergangenheit – Ewiggestrigen, Neo-Nazis, Altfaschisten – wieder reell werden? Ignaz und Anna müssen es erleben, als ihr Restaurant zum Ziel ausländerfeindlicher Angriffe wird. Doch ist das schlicht nicht drängend genug.

Krechel, die mit dem ersten Band dieser Trilogie ein Schlaglicht auf nahezu vergessene Fluchtpunkte gerichtet hatte, die im zweiten Band der Verstörung jener Ausdruck zu verschaffen wusste, die als Opfer in ihr so empfundenes Heimatland zurückkehrten und dort auf diese eisige Wand des Schweigens trafen, erzählt hier von einer Kindheit und Jugend in der jungen Republik, ohne dabei etwas Spezifisches erzählen zu wollen oder erzählen zu können. So bleibt dies eine – ja, vielleicht exemplarisch gewollte – Erzählung aus diesen Jahren, eine unter sehr, sehr vielen. Sie fügt der großen Erzählung über Schuld und den Umgang mit Schuld, über das Vergessen und das Wiederaufbrechen des scheinbar Vergangenen leider nichts hinzu, was man nicht auf die eine oder andere Art bereits wusste oder bereits erfahren hat. So bleibt hier vor allem ein Spracherlebnis, denn dies kann man, will man dieser Autorin natürlich niemals absprechen: Ihren Willen und das Vermögen, wuchtig und zugleich vorsichtig, tastend und sehr, sehr einfühlsam zu erzählen.

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