SHANGHAI FERN VON WO
Ursula Krechel weist nach, daß und wie man erzählen kann vom Unbeschreiblichen
Die Frage ist mittlerweile nicht mehr allzu neu: Wie schreiben über das Unfassbare, wenn die, die es erleben, es ertragen mussten, nicht mehr leben? Wie von den Schrecken berichten, wenn die Augenzeugen „wegsterben“, wie es immer so schön heißt? Was, wenn die Augenzeugenberichte ausbleiben, niemand mehr reelles Zeugnis ablegen kann von den Gräueln, den Schrecken, den Demütigungen und dem seriellen Sterben in den Todeslagern, auf den Todesmärschen, in den Gettos, auf der Flucht?
Es gibt natürlich zahlreiche Berichte – Augenzeugenberichte, Erfahrungsberichte, Leidensberichte – es gibt die nachgereichten Erinnerungen eines Primo Levi, Marcel Reich-Ranicki, die Tagebuchaufzeichnungen eines Victor Klemperer und vieler, vieler anderer. Es gibt die Exilliteratur. Aber wie soll Kultur, wie soll Literatur, wie sollen Filmemacher mit dem Gegenstand umgehen, die selber keine Augenzeugen waren, die die Schrecken, die „Not und Elend des Dritten Reichs“ (Bertolt Brecht) nicht selbst erlebt haben und dennoch sich in der Pflicht fühlen, das Erinnern nicht aufzugeben, die Geschichte wach zu halten? Gerade in Zeiten, in denen rechtsgerichtete Kreise versuchen, einen „Schuldkult“ zu unterstellen oder „den Deutschen“ attestieren, durch die „Entnazifizierung“, mehr noch durch die „Reeducation“ ihrem ureigentlichen „deutschen Wesen“ entfremdet worden zu sein, ja, einer Gehirnwäsche zu unterliegen. Kreise, die allen Ernstes behaupten, die Demokratie sei „undeutsch“, sei dem „deutschen Wesen“ fremd.
Man kann es machen, wie es Niklas Frank getan hat, der Sohn Hans Franks, Generalgouverneur jenes Teils von Polen, der als „nicht annektiert“ galt. Ein Mann, der als „Schlächter von Polen“ in die Geschichte einging. Niklas Frank schrieb zwei von Wut und Schmerz und subjektiv empfundener Schuld geprägte Bücher über seinen Vater und später über die Mutter, in denen er seinem ganzen Hass gegen die Eltern zum Ausdruck brachte. Man kann es auch machen, wie es Thomas Harlan tat, der mit einer ungeheuren Akribie und zugleich literarischem Scharfsinn den Spuren jener nachforschte, die es nach dem Zusammenbruch des 3. Reichs geschafft hatten, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und vergleichsweise ruhig in der Bundesrepublik angekommen waren. Wie Niklas Frank, ist auch Thomas Harlan Sohn eines Täters. Sein Vater war Veit Harlan, der als einer der wenigen „Kulturschaffenden“ des 3. Reichs zumindest vor Gericht gestellt, wenn auch nicht zur Verantwortung gezogen wurde für die Unterstützung es Regimes.
Beide waren also auch immer in einer Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Sie waren, wenn eben auch vielleicht nur subjektiv, unmittelbar mit dem Grauen, mit den Tätern verbandelt. Wie aber schreiben, wie erinnern, wenn die eigene Geschichte keinen direkten Zugriff erlaubt, wenn man erinnern will, Erinnerungen wachhalten will und dennoch weiß, daß die Position des Sprechers, der Standort des Sprechenden, wesentlich ist im Kontext dessen, was man erzählen will? Können deutsche Autoren von den Opfern erzählen? Oder bleibt ihnen für alle Zeit nur die Täterperspektive? Und wie erzählt man von diesen furchtbaren Jahren, ohne zu trivialisieren, ohne den Stoff zu marginalisieren oder gar zur Kulisse verkommen zu lassen?
Jonathan Littell, Amerikaner, der in Paris aufwuchs und auf Französisch schreibt, hat es vor einigen Jahren vorgemacht, als er in seinem Werk DIE WOHLGESINNTEN (LES BIENVEILLANTES/2006; Dt. 2008) einen Täter zu Wort kommen ließ, der sich durch sein Sprechen und das, was er erzählte mehr und mehr entlarvte. Im gleichen Jahr erschien John Boynes DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA (THE BOY IN THE STRIPED PYJAMAS/2006; Dt. 2007) und schuf ein Beispiel dafür, wie man es besser nicht machen sollte, zumindest ganz sicher nicht, wenn man als deutscher Autor reüssieren wollte. Denn hier verkam das Konzentrationslager zu einer Kulisse für reinen Kitsch. Umso schlimmer, daß ausgerechnet dieser Roman gerade in Deutschland zur Schullektüre erhoben wurde. Ähnlich war es zuvor schon bei Bernhard Schlinks DER VORLESER (1995), ein Roman, der in Deutschland gefeiert wurde und doch nur schlecht seine apologetische Grundierung hinter der Konstruktion eines Kriminalromans verbergen konnte.
Wie also Sprechen, wie Schreiben von den Schrecken? Ursula Krechel beweist nun seit Jahren, wie es gelingen kann. Ihr Roman SHANGHAI FERN VON WO (2008) ist ein Paradebeispiel dafür, wie man – akribisch, detailgenau, mutig und bereit, sich all dem zu stellen, was die Recherche ergibt – von den Opfern berichtet, sie zu Wort kommen lässt, ihre Geschichte erzählt, ohne in Kitsch, ohne in Apologie, ohne sich in Erklärungen zu versteigen, wo es keine Erklärungen mehr geben kann. Sie nimmt sich eines Sujets an, das zunächst abgelegen, fast abseitig erscheint und stellt ihrem Werk ein Zitat voran, das genau dies´ Abseitige thematisiert:
„Wir trauten uns nicht, von unserem Überleben in Shanghai zu erzählen. Andere hatten so viel Schlimmeres erlebt und nicht überlebt.“
Das Zitat eines anonymen Emigranten. Und sicher, wenn man so will, hat der Zitierte recht. Doch gelingt es Krechel, gerade anhand dieser Enklave im fernen Asien, unter den Bedingungen der japanischen Besatzung, des Krieges, einer vollkommen fremden Kultur, genau jene Aspekte herauszuarbeiten und zu verdeutlichen, die so wesentlich sind für diesen Teil der Geschichte des Nazi-Regimes und seiner Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Juden, Sinti, Roma, politisch Andersdenkenden, gegenüber Homosexuellen und jedwedem, der nicht in ihr verqueres völkisches Weltbild passte. Sich aus der eigenen Kultur verbannt fühlen, mit den tiefsitzenden bürgerlichen Tugenden und Manieren keine gesellschaftliche Relevanz mehr erlangen, den gelernten Beruf aufgeben, sich unterordnen, auch wenn es dem eigenen Selbstverständnis widerspricht. Aber auch die härteren Erfahrungen werden gespiegelt und beschrieben: Das unwesentliche Sterben, das kaum wen interessiert, die erneute Gettoisierung, das Begreifen, wie weit die Arme des Regimes reichen, die immer drohende Gefahr, die Staatenlosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins in einer Welt, die wenig Milde kennt und nahezu kein Mitleid für Flüchtlinge – gerade solche, die keinem Staat, keiner Nation mehr zuzuordnen sind. Das Gefühl, letztlich ein Spielball von Kräften zu sein, die man weder versteht, noch überschauen kann.
Ursula Krechel vermeidet in ihrer Sprache, in ihren Sätzen, den Beschreibungen, auch dort, wo sie tief in die Seelen der von ihr Beschriebenen eintaucht, ihre Gedankenwelt zu durchforsten sucht, ihre Verfasstheit, ihre Ängste oder auch, gelegentlich, die Hoffnungen beschreibt, jedwede Nähe zu Kitsch, zu Gefühligkeit oder, was das Schlimmste wäre in einer solchen Literatur, Mitleid. Sie bleibt lange im Äußeren, beschreibt die Lebensbedingungen, die Verhältnisse und Beziehungen der Flüchtlinge und Emigranten mit großer Akribie, mit Sachlichkeit und auch einer gewissen Distanz. Das gibt ihr die Möglichkeit, genaue, tiefgreifende Psychogramme von Menschen zu erstellen, die trotz oder gerade wegen ihres Status´ Menschen sind, geblieben sind. Menschen, die nicht immer unbedingt sympathisch sein müssen, Menschen mit Macken, Eigenarten, Fehlern. Und sie widmet sich ebenso den Tätern, gesteht diesen aber nur in offiziellen Zusammenhängen Namen zu. Der Kulturattaché am deutschen Generalkonsulat bspw., der einen deutschen Auslandssender aufbauen will, um die nationalsozialistische Propaganda auch in Fernost zu verbreiten. Aber auch Gestapo- und SS-Angehörige, die die japanischen Besatzer nötigen, die jüdischen Flüchtlinge erneut zu drangsalieren und zu gettoisieren.
Krechel greift auf Aufzeichnungen – Texte ebenso, wie Bücher, Erinnerungen, Archivmaterial – zurück, auch dies akribisch aufgereiht und aufgezählt am Ende ihres Romans. Es sind die Erinnerungen an Menschen wie Lothar Brieger, einem Kunsthistoriker und Anhänger der zionistischen Idee, aus Berlin stammend, der verzweifelt versuchte, sein Leben und also auch sein Wirken in Shanghai fortzusetzen und doch in Entfremdung nahezu erstarrt. Es sind Erinnerungen wie die von Franziska Tausig, die mit ihrem Mann gerade noch aus Österreich flüchten konnte, den Sohn in England in Sicherheit hoffte, die mit dem „besten Apfelstrudel ihres Lebens“ eine Stelle in einem Restaurant ergattern konnte und nebenbei ein neuartiges Gebäck erfand, das schließlich als „Frühlingsrolle“ um die Welt ging. Es sind die Erinnerungen eines Menschen wie Ludwig Lazarus, Erbe einer der bedeutendsten Buchhandlungen Berlins und in der Emigration doch nur ein besserer Hausierer, der mit einem Satz abonnierter Zeitungen durch die Gemeinde der Flüchtlinge streifte und seine Ware anbot.
Indem sie auf historische Persönlichkeiten zurückgreift, kann Krechel ihre Geschichte verbürgen – einerseits; anderseits kann sie dadurch, daß sie die Geschichten dieser Menschen sehr genau studiert hat, das Exemplarische herausarbeiten. Brieger hatte ein langjähriges Verhältnis mit Dora Sophie Kellner, der Ex-Frau von Walter Benjamin, mit dem er trotz dieses Umstands eine, wenn auch komplizierte, Freundschaft pflegte. Kellner konnte nach Italien, später London emigrieren, mit ihr gibt es postalischen Austausch, auf die Briefe, die Brieger an Benjamin schreibt, erhält er nie Antworten. Wir, die Nachlebenden, wissen natürlich um Benjamins Schicksal, seinen Freitod im südfranzösischen Portbou, als er sich im Netz der Gestapo wähnte. So sind hier eben nicht einfach Schicksale beschrieben, aus der Luft gegriffen, sondern es wird immer das Schicksal der Flüchtlinge an sich mitgedacht. Ja, es gab, will man noch einmal auf das oben genannte Zitat des anonymen Flüchtlings zurückkommen, härtere Schicksale, tragischere Geschichten, brutalere Ausgänge. Aber alle, alle, die vor den Nazis fliehen mussten, die die Schrecken teils, wie Ludwig Lazarus, erduldet, die Straflager und KZ er- und überlebt hatten, teilten grundlegend ein Schicksal als Verstoßene, Ausgestoßene. Als immerzu Bedrohte.
Krechel lässt immer wieder einfließen, wie bspw. Lazarus auf „den Bändern“ klingt, die ihr offenbar zur Verfügung standen. So wird eben nicht nur illustriert, was dem einzelnen geschah, sondern auch, wie dies überliefert wurde. Die Quellenlage ist immer Teil der Erzählung und dadurch kann die Autorin eben auch die Redlichkeit thematisieren, aber auch die Umstände, unter denen Nachgeborene weitererzählen können – und dürfen? Wir müssen uns diese Geschichten aneignen, ohne sie uns zu eigen zu machen. Denn im Erzählen selbst liegt auch eine Traumabewältigung, liegt auch der Triumph des Überlebens, des Überlebt-Habens. Es gilt, diesen Triumph zu würdigen.
Und doch, bei aller Vorsicht, erlaubt sich Krechel, diese Menschen eben als Menschen zu zeigen, mit ihren Eigenheiten, ihren Manierismen, mit ihren Egos und ihren heimlichen Vorlieben und Abneigungen. Shanghai, dieser Ort, der für Berliner Bürger zu einem Synonym für das absolut Fremde wird und sie doch auch, aufgrund seiner Kolonialgeschichte, mit etwas Bekanntem zu empfangen weiß, wird zu einer historischen Ironie, wenn solche wie die, die einst hier flanierten, nun als Bittsteller, auf Gedeih und Verderb Ausgelieferte, zurückkehren und Schutz suchen. Da werden sehr subtil historische Zusammenhänge, subkutane Verbindungen thematisiert und aufgezählt, da wird spürbar, wie Geschichte ineinandergreift, nicht aufhört, nie vergeht und sich gelegentlich gegen sich selbst wendet. Und dann, plötzlich, kommen Sätze wie dieser:
„Die Frau hatte die Fähigkeit, über Argumente zu springen, Die Gesetzlosigkeit des Auges sammelt, bündelt Wissen und Empfindungen, alles ist gleichrangig, keine Wahrnehmung, auch nicht die des eigenen Todes, wird ausgeschlossen“ (S. 272)
Und der Leser begreift schlagartig, wie tief Ursula Krechel bei aller Sachlichkeit und verständlichen Distanz, die sie einhält, einhalten muß aufgrund ihrer Erzählerposition, in diese Figuren eingedrungen ist, wie genau sie in der Lage ist, diese Schicksale und Leben zu begreifen. Es gibt viele solcher Sätze in diesem Buch, Sätze, die manchmal schneiden wie dünnes Papier, Sätze, die man zwei, drei, vier Mal liest, deren tieferen Grund zu erfassen man sich kaum zutraut, und die jedes Mal schmerzen. Und – vielleicht die einzige Tröstung, die dieser Roman für den Leser bereithält – die uns zumindest beweisen, wie ein Schreiben gelingen kann, welches sich einer Geschichte annimmt, die wohl zurückliegen mag, die aber niemals vergeht.