LANDGERICHT

Ursula Krechel lässt den Leser das Nachkriegsdeutschland mit den Augen eines Exilanten betrachten

Nachdem sie in ihrem Roman SHANGHAI FERN VON WO (2008) das Schicksal deutscher – meist jüdischer – Emigranten in der fernöstlichen Stadt beleuchtet hat, dabei auf eine akribische Recherche zurückgriff, wendet sich Ursula Krechel im Nachfolger LANDGERICHT (2012) einem Einzelschicksal zu. Sie erzählt die Geschichte des jüdischen Emigranten Dr. Richard Kornitzer, der mit einer als „arisch“ eingestuften Deutschen verheiratet ist und fast zu lange wartet, bis er das Land verlässt und nach Kuba entkommt. Die Figur des Richard Kornitzer basiert auf einer realen Person – das Vorbild war der Jurist Robert Bernd Michaelis, der seinerseits allerdings nach Shanghai geflohen war und auf den die Autorin möglicherweise bei den Recherchen zum Vorgänger gestoßen ist – , dennoch hat man es hier, nicht nur aufgrund der Tatsache, daß Kornitzer nach Kuba flieht, mit einer fiktiven Person zu tun. Krechel erzählt diesmal nicht vom Exil, obwohl auch dieses eine Rolle spielt und in einem längeren Kapitel beschrieben wird, sondern größtenteils von Kornitzers Heimkehr und den Erlebnissen und Erfahrungen, die er mit der Nachkriegsgesellschaft, dem wieder aufgebauten Staat und dessen Vertretern machen muß.

Die Kinder in England, mit einem der letzten Kindertransporte in Sicherheit gebracht – zehn Jahre haben die Kornitzers sie nicht gesehen – war dem Juristen die Flucht vor dem Zugriff der Nazis gelungen. In Kuba fasst er langsam Fuß, kann sogar eine Arbeit finden und die nahezu zehn Jahre, die er hier verbringt, halbwegs gut überstehen. Er lernt eine neue Liebe kennen, sie wird schwanger, er wird beide – Mutter und Tochter – auf der Karibikinsel zurücklassen, wenn er 1948 ins kalte Deutschland zurückkehrt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in Süddeutschland, wohin seine Frau Claire in den Kriegswirren gekommen war, den ersten Auseinandersetzungen um Wiedergutmachung und dem Versuch, irgendwie in seinen alten Beruf, den Richterstand, zurückzukehren, verschlägt es Richard Kornitzer schließlich nach Mainz, wo ihm eine Stelle als Richter angeboten wird. Und hier begegnet Richard Kornitzer nicht nur jeder Menge alter Bekannter, die die zwölf Jahre des Nazi-Regimes offenbar alle mehr oder weniger gut überstanden haben, sondern er wird auch mit einer Gesellschaft konfrontiert, die sich ganz gut im Vergessen und sich-selbst-Vergeben eingerichtet hat. Es beginnt ein jahrelanger Kampf mit den Behörden, da Kornitzer eine angemessene Stelle haben will, er weist darauf hin, daß er, hätte er nicht fliehen müssen, längst weiter oben auf der Karriereleiter stünde, er bekommt es mit einer kalten Bürokratie zu tun, die sich schließlich gönnerisch dazu herablässt, ihm einen angemessenen Posten am Mainzer Landgericht zuzugestehen – und mehr oder weniger darum bittet, nun aber endlich Ruhe zu geben.

Man spürt in Ursula Krechels Schreiben eine Distanz, die nie eine gegenüber dem Sujet ihrer Erzählung ist, sondern immer eine, die sowohl dem Gegenstand der Erzählung als auch den Personen, die sie beschreibt, Respekt zollt. Krechel, geboren 1947, weiß um ihre Position als Nachgeborene und sie weiß, daß sie von einem Unrecht erzählt, von einer Gesellschaft berichtet, die sie selbst so, in dieser Art, nie hat kennenlernen müssen. Es war schon in SHANGHAI FERN VON WO ein Balanceakt, sich sprachlich angemessen einem Thema zu nähern, welches vom eigenen Erfahren weit entfernt ist. Krechel wird die Frage danach, wer spricht, welche Position der Erzähler innehat, einnimmt, sehr genau durchdacht haben. Beantwortet hat sie sie auf jeden Fall richtig.

So ist ihre Sprache manchmal geradezu spröde, sehr zurückhaltend, gelegentlich greift sie, bewußt, auf den Duktus amtlicher, offizieller Sprache zurück, dies auch, indem sie immer wieder offensichtlich historisch genaue Amtsschreiben einbaut, die den kalten Ton der Bürokratie gegenüber einem Opfer mehr als verdeutlicht. Und erklärt, weshalb dieser Mensch – stellvertretend für so viele – nie mehr heimisch werden konnte in seinem Heimatland. Der Leser kann dies spüren, kann empfinden, welche Ohnmacht ein Mann wie Richard Kornitzer empfunden haben muß. Die Sprache des Romans erinnert manchmal an die eines Heinrich Böll und anderer, die nach dem Krieg sehr bewußt eine Sachlichkeit propagierten, den Versuch unternahmen, dem Ungeheuerlichen mit einer willentlich entschlackten und von allem Zierrat befreiten Sprache zu begegnen. Wenn der Roman sich dann auf die persönliche Ebene begibt, wenn der Leser das Ehepaar Kornitzer als solches erlebt und seine Ängste und Sorgen spürt, dann wechselt der Ton ein wenig und erinnert an die späten Romane eines Hans Fallada und dessen oft ein wenig zutraulich ausfallenden, den Figuren zugewandten, manchmal voller Mitgefühl schwingenden Beschreibungen. So stellt sich Krechel auf eher subversive Weise durchaus auf die Seite ihres Protagonisten. Aber was sonst wäre auch der Sinn eines Romans wie diesem?

Es ist ungeheuer wichtig, daß gerade die Literatur Wege und Möglichkeiten findet – auch stilistisch – dem Vergessen entgegen zu arbeiten und die Geschichte des 3. Reichs und dessen, was damit auf allen möglichen Ebenen einherging, weiterhin wach zu halten und aufzuarbeiten. Man kann wahrscheinlich schlicht nicht vom Grauen der Lager, der Vernichtungskammern und Verbrennungsöfen erzählen, ohne diese Situationen auch nur annähernd zu kennen oder gar erlebt zu haben (und die, die es dennoch versuchen, scheitern regelmäßig). Umso wichtiger, von jenem Grauen zu erzählen, das vielleicht zumindest noch vorstellbar, erahnbar, ist. Der Druck, den der erzwungene soziale Tod bedeutet, wenn man aus seinem Beruf, vielleicht seiner Berufung, gedrängt, entrechtet und letztlich für vollkommen vogelfrei erklärt wird. Die Angst und zugleich die (irrationale) Hoffnung, daß die Dinge sich beruhigen, daß eine Zivilgesellschaft an irgendeinem Punkt nicht mehr mitgeht und sich wehrt. Die Panik, wenn man merkt, daß man womöglich bereits in einer tödlichen Falle sitzt und nun auf irgendeinem Wege aus dieser herausfinden muß, das Nadelöhr finden muß, das noch ein Entkommen zulässt. Und dann die Schmach, zurückzukehren und festzustellen, daß man eigentlich nicht mehr hierhergehört, daß man im Grunde eine Anomalie darstellt, schlicht, weil man überlebt hat. Die kalte, nie zu befriedigende, nie zu löschende Wut, wie die Dinge einfach weitergehen, wie jene, die gestern noch Todesurteile unterschrieben haben, heute am „Aufbau der Demokratie“ mitwirken.

All das ist in Krechels Roman angelegt, all das ist spürbar. Manches wird direkt thematisiert, anderes schwingt mit und lebt auch davon, daß die Autorin sich auf ihre Leser verlässt – und verlassen kann. Ihre Romane kamen wahrscheinlich zur rechten Zeit, auch, um die Beachtung zu finden, die ihnen zuteilwurde. Immerhin erhielt die Autorin für LANDGERICHT 2012 den Deutschen Buchpreis. Eine Zeit, in der das Interesse an einer weiteren Aufarbeitung, auch wissenschaftlicher Studien, über den Alltag im 3. Reich zunahm und durch allerhand gut lesbare Fachliteratur unterstützt wurde. Zugleich widmeten Historiker und Soziologen eben auch jenen Aspekten der Unterdrückung und des Terrors ihre Aufmerksamkeit, die nicht gleich an den Toren von Auschwitz endeten – wohlgemerkt endeten sie letztlich alle nicht an den Toren, sondern in den Öfen von Auschwitz – sondern jene Maßnahmen aufgriffen, die die späteren Radikalerlasse und -aktionen erst ermöglichten – durch Gewöhnung, Propaganda, Abstumpfung, Angst. Dies alles ist gut nachzuempfinden in Krechels Roman.

Daß der auch als Roman und nicht nur als ein umgeformtes Sachbuch (obwohl es einige Leser und Kritiker gab, die dem Buch genau dies dann doch vorwarfen) funktioniert; ist Krechels gelungener und sehr gekonnter Figurenzeichnung zu verdanken. Richard Kornitzer und seine Frau Claire sind greifbare Figuren, Menschen aus Fleisch und Blut. Nie nähert sich dieses Schreiben auch nur ansatzweise dem Kitsch oder auch nur dem Sentiment. Es gibt Momente, in denen der Leser schlucken muß, aber Krechel bedient dies nicht und sie erzielt ihren Effekt gerade in solchen Passagen durch ihre stilistische Distanz, die manchmal schon brachiale Sachlichkeit, die sie anschlagen kann. Im Gegenteil: Kornitzer ist kein uns unbedingt sympathischer Mensch. Er erscheint gelegentlich weinerlich, manchmal selbstmitleidig. Wir werden also auch immer wieder damit konfrontiert, daß wir uns dabei ertappen, ähnlich auf ihn zu reagieren, wie jene im Buch, die seine ununterbrochene Erinnerung daran, daß er ein Opfer ist, irgendwann eher mitleidig betrachten. Und immer wieder wird uns dabei vor Augen geführt, daß genau diese Haltung – die Opfer irgendwann als lästig zu empfinden – exakt das ist, wovon LANDGERICHT erzählt. So sehr wir Kornitzers Kampf für ein ganz wenig Gerechtigkeit und Ausgleich verstehen und seine Erschütterung begreifen, wenn er immer wieder auf Mauern des Schweigens oder der Ignoranz stößt, wir werden dennoch nicht warm mit diesem Menschen.

Wie einsam der Kampf des Ehepaars Kornitzer ist, untermauert auch ihre späte Wiederbegegnung mit den Kindern. Diese haben mittlerweile über zehn Jahre in England gelebt, fühlen sich wie Engländer und wollen beide – Sohn und Tochter – nicht mehr zurück. Natürlich auch, weil sie in ein noch längst nicht wieder aufgebautes Land zurückkehren müssten, das ihnen feindlich gesinnt war (und ist), in dem sie sich dann aber zu beteiligen hätten, um es wieder neu erstehen zu lassen. In einem kurzen Nachkapitel beschreibt Krechel stichwortartig die Lebensläufe der wesentlichen Protagonisten und so erfahren wir, daß Kornitzers Sohn in England geblieben ist und dort ein Leben aufgebaut hat. Totale Entfremdung. Die Trauer, wie Geschichte ein ganzes Leben für immer und in den Grundfesten erschüttern, verändern und zerstören kann, ist gerade an diesen privaten Verletzungen und Zerwürfnissen auf eine bittere Art zu spüren. Kornitzers nehmen die Abweisung durch die Kinder, die in späteren Jahren aufweicht, fast schon wie eine Strafe hin. Und man versteht es. Und das ist fürchterlich.

LANDGERICHT ist der große Roman, als der er seit seiner Veröffentlichung gilt. Obwohl Krechel sich im Vorgänger einer noch vorsichtigeren Sprache bediente – vielleicht der Tatsache geschuldet, über reale Personen zu schreiben, sich keiner Fiktionalisierung zu bedienen – und damit manchmal noch genauer in die Zwischenräume von Beziehungen und die Widersprüchlichkeiten der Figuren vordringen konnte, gelingt es ihr hier, vielleicht weil es eine Fiktionalisierung ist, den Leser auf eine ungemein sachliche Art sehr nah an die Figuren heranzuführen. Eine seltsame Doppelbewegung, die einen respektvollen Abstand zu wahren versteht und zugleich die Verletztheiten, Verletzungen, den Schmerz sehr unmittelbar erfahren lässt. Große Kunst.

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