HITCHCOCK (Buch)

Seinerzeit das erste grundlegende Buch über den Meister des Suspense und seine Filme

Man mag es heute kaum glauben, heute, da Hunderte von Büchern, Artikeln und Dokumentationen über den Großmeister der Regie Alfred Hitchcock erschienen sind, aber in den 50er Jahren noch galt der Mann, der uns mit THE 39 STEPS (1935), VERTIGO (1958) oder – natürlich – PSYCHO (1960) Grusel, Spannung und immer Unterhaltung bescherte, als reiner Formalist und guter Handwerker des Spannungskinos, über den ein Wort zu viel zu verlieren schlechthin unnötig gewesen wäre. So dauerte es bis 1957, bis überhaupt jemand bereit war, genauer hinzuschauen und sich zu fragen, was der Engländer eigentlich genau machte und vor allem: Wie? Es ist kein Wunder, daß dies dann Europäer, genauer: Franzosen waren; eben jene französischen Kritiker, die in der stilprägenden Zeitschrift CAHIERS DU CINÉMA schon für die Rehabilitation des Western gesorgt und die tieferen Schichten bedrohlicher Unruhe in amerikanischen Thrillern freigelegt und unter dem Begriff „Film Noir“ subsumiert hatten. Ob Francois Truffaut, Jacques Rivette, Jean-Luc Godard, Éric Rohmer oder Claude Chabrol – sie alle hatten schon lange einen Narren an Hitchcock gefressen und verteidigten seine Arbeit sogar gegen die Ansichten ihres Chefs, des Herausgebers der CAHIERS, André Bazin. Schließlich brachten Rohmer und Chabrol das hier zu besprechende Buch heraus und widmeten sich auf hoch theoretischer Ebene den Werken ihres Idols. Und waren damit die allerersten, die konzentriert über den „Meister des Suspense“ schrieben.

Aufgeteilt in die „britische Periode“, zwei voneinader abgetrennte „amerikanische Perioden“, eine Konklusion und einen Nachtrag, werden vor allem jene Filme ausführlich behandelt, die Hitchcock zwischen 1948 und 1958 gedreht hat. Darunter waren Meisterwerke wie STRANGERS ON A TRAIN (1951), REAR WINDOW (1954), THE WRONG MAN (1956) oder eben auch VERTIGO. Abgerundet wird das Ganze durch zwei Interviews mit den Autoren, die ja dann selber Meister ihres Faches wurden, wobei Chabrol sich oft als Epigone Hitchcocks titulieren lassen musste. Es ist auch Claude Chabrol, der hier über die älteren Filme schrieb, Rohmer schließlich besprach die „großen“ Filme aus der amerikanischen Periode NACH den anfänglichen Jahren bei Selznick. David O. Selznick, Produzent solcher Klassiker wie GONE WITH THE WIND (1939) oder DUEL IN THE SUN (1947), hatte Hitchcock in die USA geholt und seine ersten Filme dort produziert, war des Regisseurs allerdings bald überdrüssig, da dieser ihm nicht die für Selznick so typische Masse an Rohmaterial lieferte, damit der Produzent nach Lust und Laune „seine“ Filme zusammenschneiden konnte. Hitchcock – auch darin ein Neuerer – war ein hochökonomischer Regisseur, der nahzu perfekt „auf Anschluß“ drehen konnte und somit wenig Raum für eine andere Montage als die einmal beabsichtigte ließ.

Chabrols Vorgehensweise ist die konventionellere der beiden. Er führt den Leser langsam an die Punkte heran, die ihm wichtig sind und so gelingt es, nach und nach herauszuarbeiten, wo und in welchen Filmen Hitchcocks Meisterschaft sich zeigte und schärfte. Auch verdeutlicht er, daß Hitchcock immer ein kommerzieller Regisseur war und wie dies ein integraler Bestandteil seines Werkes wurde. Erfolg war wichtig für ihn und so intergrierte er bald in seine Arbeit, was ein „Künstler“ wahrscheinlich abgelehnt hätte: Die Erwartung des Publikums, dessen Vorstellungen und Wünsche. Und er begann recht früh, damit zu spielen und somit dem Zuschauer auch einen Spiegel vorzuhalten, in dem der seine eigenen (u.a. sadistischen) Neigungen erblicken konnte. Auch kann Chabrol herausarbeiten, welches Hitchcocks Themen waren, worauf es dem Regisseur und eben auch Autoren ankam. „Schuld“ und „Schuldübertragung“ z.B. sind zentrale Anliegen seiner Geschichten. Der Katholik Hitchcock, der den Menschen in Ur- und Erbsünde gefangen sieht, versteht die dunklen Triebe, die eben zu Entführung, Erpressung oder gar Mord führen können. Und er weiß, daß die Unschuldigen immer einen tief versteckten Ort in sich haben, an dem sie mit den Schuldigen korrespondieren. Seien es die Charlies in SHADOW OF A DOUBT (1943) – also Nichte und Onkel – die wie zwei Seiten einer zutiefst gespaltenen Persönlichkeit erscheinen können, seien es die beiden Männer in STRANGERS ON A TRAIN, die einen mephistophelischen Pakt eingehen, von dem einer der beiden allerdings zunächst nichts ahnt, sei es der gelangweilte Fotoreporter in REAR WINDOW, der den Mord im Nachbarhaus nahezu herbeisehnt, um die Zeit seiner Rekonvaleszenz zu überbrücken: Immer läßt uns Hitchcock ahnen oder deutlich spüren, manchmal sogar sehen, wie in den scheinbar Gerechten tiefe, düstere und bedrohliche Triebe und Gelüste dräuen. Diese Orte will Hitchcock finden und öffnen, zumindest momentweise.

Es ist dann Éric Rohmer, der die Dinge zusammenbringt und – auch wenn er die Begriffsfindung im Interview Chabrol zuschreibt – von der „Metaphysik des Formalismus“ bei Alfred Hitchcock spricht. „Die Form sucht sich den Inhalt“ heißt es an einer Stelle. Den Vorwurf des Formalismus, also auch den ein Technokrat der Filmkunst zu sein, greift Rohmer auf und entkräftet ihn dahingehend, daß er daraus erst recht die Meisterschaft Hitchcocks abzuleiten im Stande ist. Gerade ein Film wie I CONFESS (1953), eher unbeachtet im Kanon des Werkes dieses Giganten, aber auch ein Film wie THE WRONG MAN, dient Rohmer als Anschauungsmaterial für seine Thesen. Anhand von STRANGERS ON A TRAIN kann er den hohen Stellenwert, den der Symbolismus im Werk Hitchcocks spielt, aufzeigen und diesen, gekoppelt an eines DER Steckenpferde des Regisseurs – die Psychoanalyse – nutzen, um seine These zu vedichten: Es sind oft Bilder, Einzelmotive, um die herum Hitchcock seine Geschichten konstruiert (und dabei vor nichts zurückschreckt, im Notfall nutzt er auch „lügende Bilder“, wie in STAGE FRIGHT [1950]). Allein eine Story zu „konstruieren“ wäre heute schon ein Frevel, Hitchcock setzt sich jedoch über alle Regeln der Genrekunst hinweg. Und dringt damit immer tiefer in jene Gefilde vor, in denen sich Grundaussagen über das Wesen des Menschen machen lassen und zugleich eine Moral (kein Moralismus) zutage tritt, der jede Aussage über den Menschen zweifelhaft werden läßt. Er verläßt also die Gefilde des reinen Filmgenres und öffnet sich die Welt der Kunst (und der Literatur – Rohmer bescheinigt sich, im Laufe der Jahre Hitchcock immer weniger als Formalist und immer mehr als Erzähler im Sinne Renoirs betrachtet zu haben). Für Éric Rohmer wird Alfred Hitchcock zu einem abstrakten Künstler, der in Formen Ausdruck inhaltlicher Art findet. Eine sehr frühe postmoderne Sicht auf das Werk eines Künstlers. Er bescheinigt Hitchcock schließlich, neben Murnau und Eisenstein DER Erfinder filmischer Formen gewesen zu sein. Und damit ist man dann allerdings im Pantheon der Filmkunst angekommen. Der Nachtrag zu VERTIGO komplettiert und verdeutlicht noch einmal gebündelt die Thesen der Autoren zu ihrem Idol.

Daß VERTIGO unter amerikanischen Kritikern auf den ersten Platz des „Besten Films aller Zeiten“ gewählt wurde und dort nach nahezu 55 Jahren Welles‘ CITIZEN KANE (1941) ablöste, verdeutlicht den langen Deutungsweg, den die Figur Alfred Hitchcock beschritten hat: Vom formal reizvollen, manchmal sich Taschenspielertricks bedienenden Handwerker zum Auteur im Sinne der europäischen/französischen Nouvelle Vague. Letzteren Status sprechen ihm Chabrol und Rohmer auch erstmals zu. Sie sehen in ihm einen Künstler, der sich zwar perfekt der kommerziellen Maschinerie „Hollywood“ zu bedienen weiß, deren Wünsche und Erwartungen auch bedienen und befriedigen kann, der jedoch dabei – eben einem Auteur gleich – sein ganz eigenes, persönliches Sammelsurium und Programm an Obsessionen, Traumata und Ängsten bearbeitet.

Es wäre sehr, sehr interessant gewesen, wenn die Autoren sich später noch einmal hätten dazu aufraffen können, ihr Werk zu erweitern, dann hätte man gewusst, wie sie zu Werken wie PSYCHO oder THE BIRDS (1963) standen. Filme, die das misantrophe und oftmals zynische Weltbild ihres Erschaffers noch einmal mit einer ganz neuen Brutalität und Lust an Terror und Sadismus ausstattete.

So hat man hier einen höchst interessanten Band theoretischer Filmliteratur, der sich erstmals seinem Sujet näherte und zugleich verdeutlicht, warum die Intellektuellen der CAHIERS so hohe Ansprüche an die Filmtheorie stellten.

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