SCHATTEN VON GESTERN/CALL FOR THE DEAD

Der erste der George-Smiley-Romane von John le Carré

Gleich in seinem Debut-Roman SCHATTEN VON GESTERN (CALL FOR THE DEAD, Original erschienen 1961; Dt. 1963/2002) führte John le Carré seinen (späteren) Meisterspion George Smiley ein. Der wird hier tatsächlich im ersten Kapitel mit einem Curriculum Vitae bedacht, das den Leser*innen Aufschluss über den Werdegang des Mannes gibt. Le Carré entwirft schon hier eine besondere Art Held: Smiley ist klein, dick, bebrillt, hat eine Vorliebe für deutsche Lyrik des Barock, kann sich darüber echauffieren, wie wenig Sekundärliteratur es zu dieser Gattung gibt, ist unglücklich mit einer ihm sozial übergeordneten Dame verheiratet, die ihn zu Beginn des Romans nach zwei Jahren Ehe bereits wieder verlassen hat – zugunsten eines kubanischen Rennfahrers. Das hat ihn getroffen und nachhaltig verstört und bringt ihn auch im Laufe des Romans immer wieder ins Grübeln. Smiley ist kein Überflieger, er hat Oxford mit durchschnittlichen Noten abgeschlossen und hatte sich eigentlich auf eine durchschnittliche Laufbahn eingestellt. Vielleicht eine akademische Karriere, vielleicht ein Lektorat. Es sollte anders kommen, er wurde vom britischen Geheimdienst angeworben und lebte noch in den letzten Jahren vor dem Krieg in Deutschland, wo er im Auftrag der Regierung ein Agentennetz aufbaute, welches er tatsächlich bis 1943 auch geführt hat.

Dies ist die Ausgangslage, als er eines sehr frühen Morgens zum Cambridge Circus – Sitz des Auslandsgeheimdienstes MI6 und somit Sitz von Smileys Arbeitgeber – gerufen wird. Ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, Samuel Fennan, hat sich selbst getötet. Smiley hatte den Mann erst kurz zuvor einer Überprüfung unterzogen, da Fennan anonym denunziert wurde, vor dem Krieg der Kommunistischen Partei angehört zu haben. Eingedenk des Abschiedsbriefes, der bei der Leiche gefunden wurde, war wohl genau diese Überprüfung der Auslöser für den Freitod. Nur passt das ganz und gar nicht zu Smileys Erinnerung an das Treffen. Im Gegenteil: Er hatte Fennan versichert, dass dieser nichts zu befürchten habe, viele Mitarbeiter aller möglichen Ministerien standen in den 30er Jahren eher links, was in Anbetracht des anwachsenden Faschismus´ in Europa kein Wunder gewesen sei. Erst recht nicht, nachdem der Bürgerkrieg in Spanien ein weiteres faschistisches Regime an die Macht gebracht habe. So beginnt Smiley zu recherchieren. Und gerät dabei mit seinen Vorgesetzten in Konflikt, da alle Beteiligten offenbar gut mit einem Selbstmord leben können. Sogar Fennans Frau, die Smiley noch am gleichen Morgen, an dem er von der Tat erfahren hat, aufsucht.

Le Carré nutzt hier bewusst und vor allem sehr geschickt Versatzstücke verschiedener Genres. Obwohl die Leser*innen von Beginn an wissen, dass sie es bei George Smiley mit einem Agenten zu tun haben, entwickelt sich der Plot des Romans zunächst wie ein klassischer Kriminalroman. Schnell wird deutlich, dass es sich bei dem vermeintlichen Selbstmord um einen fingierten handelt und ebenso schnell machen sich einige Leute des Mordes verdächtig. Wirkt zunächst wie ein klassischer Whodunit. Doch es wird eben auch schnell deutlich, dass Smiley anders ist als herkömmliche Ermittler. Beziehungsweise ist er eben gar kein Ermittler, er ist ein Spion. Wenn auch mittlerweile nicht mehr im operativen Geschäft. Geprägt wurde er durch den Krieg und jene Jahre, in denen er selbst operativ tätig gewesen ist. Und so denkt er wie ein Spion und ermittelt wie ein Spion.

Während der Befragung von Fennans Frau, einem Opfer der deutschen Lager, wird Smiley schnell bewusst, dass sich hier mehr, viel mehr hinter einem scheinbar einfachen Fall verbirgt als ursprünglich angenommen. Da der Agent dann aber Opfer eines Überfalls wird, scheint er aus den Ermittlungen ausscheiden zu müssen. Doch mit Hilfe eines ihm bisher unbekannten Polizisten und eines alten Bekannten aus dem Außenministerium ermittelt Smiley mehr oder weniger auf eigene Faust weiter und deckt so ein Spionagenetz der von den Briten nicht anerkannten Deutschen Demokratischen Republik auf. Und das vor allem deshalb, weil er die Handschrift eines seiner ehemaligen Schützlinge erkennt, besser: Er erkennt seine eigene Handschrift hinter all den geheimen Aktionen, eine Handschrift, einen Stil, den er einst an seine Untergebene weitergereicht hat. Smiley erwägt, zu kündigen, weil er spürt, dass sich hier Dinge selbstständig machen, die er nicht mehr wird kontrollieren können. Und er spürt eine große Müdigkeit. So setzt er ein Schreiben an seinem ihm scheinbar nicht sonderlich wohl gesonnenen Chef ab, der dies aber im Verlauf der Handlung geflissentlich ignorieren wird.

Es ist dies der Moment, an dem le Carré den Roman von einem im Grunde recht konventionellen Kriminalroman langsam ins Metier des Spionageromans hinübergleiten lässt. Allerdings wird dies auch dann keinesfalls ein herkömmlicher Vertreter des Genres, im Gegenteil. Le Carré schafft es anhand eines scheinbar einfachen, konventionellen Kriminalfalls, hinter dem sich ein konspiratives Netz der Spionage auftut, die (politische) Tragik und letztlich auch Widersprüchlichkeit des 20. Jahrhunderts zu verhandeln. Smiley erinnert sich an jenen Mann, Dieter Frey, den er einst in Deutschland rekrutierte. Ein Jude, der es irgendwie geschafft hatte, sich in der Organisation des NS-Staats, genauer: bei der Eisenbahn, unentbehrlich zu machen und so nicht nur überleben, sondern sogar die Lager vermeiden konnte. Möglich, dass le Carré damit das Nazi-Regime in seiner ganzen Bigotterie und Verkommenheit desavouieren wollte, indem er aufzeigt, wie willkürlich die Vernichtungsmaschinerie funktionierte, ein wenig weltfremd erscheint diese Wendung des Plots dennoch. Vielleicht muss man hier bedenken, dass der Roman bereits in den späten 50er Jahren und also geschrieben wurde, lange bevor das ganze Ausmaß der Perfidie des Systems wirklich zu durchschauen gewesen ist.

So oder so – le Carré bedient sich dieses Kniffs in doppelter Weise. Denn nicht nur Dieter Frey, sondern auch die Witwe des vermeintlichen Selbstmörders, ebenfalls Jüdin, allerdings mit siebenjähriger KZ-Erfahrung, hat sich der Spionage für das „Neue Deutschland“, sprich: die DDR, entschieden. Keinesfalls ihr Gatte, wie wir aufgrund des Handlungsverlaufs und der uns dargebotenen Indizien lange annehmen müssen. In beiden Fällen – Frey wie Mrs. Fennan – wird dies durch die Tatsache erklärt, dass es jüdische Opfer sind, die aufgrund ihrer spezifischen Geschichte, aber letztlich aus unterschiedlichen Motiven handeln.

Elsa Fennan – der le Carré einen ebenso bitteren wie ergreifenden Monolog gönnt, in welchem sie erklärt, sie sei die „wandernde Jüdin“, ein „Niemandsland“, das „Schlachtfeld für Smileys Spielzeugsoldaten“, man könne sie treten und auf ihr herumtrampeln, nur berühren dürfe (und könne) man sie nicht – findet ihre Motivation offenbar darin, all die Systeme zu verachten, die es Menschen ermöglichen, anderen Menschen Ungeheuerliches anzutun; Ungeheuerliches, dessen Spuren sie auf eben jenem Schlachtfeld mit sich trägt, welches ihr Körper darstellt; Systeme also, für die auch Smiley steht. Dieter Frey hingegen scheint den an Deutschland – wenn auch aus den richtigen Motiven, nämlich am „falsche“ System – begangenen Verrat derart zu verabscheuen, dass er diesen in einem neuerlichen Verrat, diesmal an Großbritannien, also jenem Land, das ihn einst zum ursprünglichen Verrat angestiftet hatte, ausmerzen will.

Dabei wird er im Roman als ein Vertreter totalitären Denkens gezeichnet. Nur eben nicht des faschistischen Totalitarismus, sondern des sozialistischen – oder kommunistischen, bedenkt man, dass dieser Roman mitten im Kalten Krieg spielt. Ein zugegeben etwas abenteuerlich konstruiertes Motiv, welches der Autor seiner Hauptfigur allerdings lediglich als eine Vermutung im Gespräch mit seinen Kompagnons in den Mund legt. Le Carré versteht es geschickt, all die Motive und subtilen Möglichkeiten der menschlichen Psyche seinem Publikum indirekt und somit immer ungesichert, prekär darzureichen. Das entspricht natürlich dem Wesen der Spionage: Man weiß nichts Genaues, vieles bleibt im Vagen, Vermutung, Annahme, Spekulation oder gar Gerücht. Und doch sind dies die Aspekte, die jedem Tun, allem Handeln, zugrunde liegen.

SCHATTEN VON GESTERN ist letzten Endes eine (vergleichsweise frühe) Reflektion auf den Kalten Krieg, auf die Auseinandersetzung der Systeme und die Verheerungen, die diese Auseinandersetzung, die nie offen stattfindet, an der Peripherie ihres Daseins anrichtet. Wer in diesem Spiel Sieger, wer Verlierer ist, das bleibt immer und ausschließlich eine Frage der Perspektive. Gewinnt Smiley das Spiel gegen seinen einstigen Schüler? Immerhin wird George Smiley am Ende des Romans überlebt haben. Das wird man wohl gemeinhin als einen siegreichen Ausgang der Affäre bezeichnen. Dieter Frey wird nicht überleben. Dafür – und Smiley ist der erste, der das eingesteht – bleibt Dieter Frey menschlich, ja, am Ende des Romans entpuppt er sich als der menschlichere Mensch: In der finalen Auseinandersetzung mit Smiley erinnert er sich an die frühere Freundschaft und drückt nicht ab, nutzt den Revolver in seiner Hand eben nicht, was Smiley die Gelegenheit gibt, ihn über die Brüstung einer Brücke in die eisige Themse zu stürzen: Smiley, ganz der Agent, zu dem er ausgebildet wurde, tötet also im Namen des Systems – des freiheitlichen, demokratischen, liberalen Systems – welches er, das erklärt er in einer Passage des Romans explizit, für das definitiv bessere hält. Smiley ist durch und durch Vertreter der britischen Demokratie. Die hat er gegen den Nazi-Faschismus verteidigt, er wird sie, daran lässt er keinen Zweifel aufkommen, auch gegen den Kommunismus und dessen Unterdrückungsapparate verteidigen. Aber er wird daran leiden, auch das wird gerade in den reflektierenden Abschnitten des Romans deutlich. Und er hat, ganz im Duktus von Elsa Fennan – ein weiteres Schlachtfeld eröffnet, als er Dieter Frey getötet hat. Sicher, dieses Schlachtfeld existiert nur noch in Smileys Erinnerung, aber dort wütet es.

Genau das macht die Figur George Smiley von Beginn seiner literarischen Auftritte an so interessant und letztlich zu einem Prototyp für eine ganze Armada von Agentenfiguren, die, anders als Ian Flemings Superheld James Bond – ebenfalls von einem ehemaligen Mitarbeiter des MI6, wie le Carré es war, erfunden –, den Beruf zwar aus Überzeugung ausüben, sich aber immer auch mit dessen Schattenseiten und den teils paradoxen Situationen und Handlungen auseinandersetzen und daran eben auch zu zerbrechen drohen. Bei George Smiley kommt hinzu, dass dieser Mann gerade in seinem ersten literarischen Abenteuer auch noch dadurch gekennzeichnet ist, dass seine Frau ihm Hörner aufgesetzt hat. Das macht ihn enorm verletzlich und vor allem zu einem ganz gewöhnlichen Menschen; einem Mann, wie es sie millionenfach gibt, einem, dem halt die Frau abgehauen ist, ganz einfach, weil sie einen besseren, aufregenderen, interessanteren Kerl gefunden hat. Wenn Bond ein Mann ist, der ausdrückt, wie Männer (vielleicht) sein wollen, dann ist George Smiley ein Spiegel dessen, was die meisten von uns sind. Durchschnitt. Und doch füllt er eine seltsame, gefährliche und auch bedrohliche Stelle in einem System aus, das wir schätzen und das und schützt. Wir vertrauen also auch darauf, dass Männer wie Smiley im Fall der Fälle bereit sind zu tun, was sie glauben tun zu müssen.

Rein literarisch zeigt sich in SCHATTEN VON GESTERN schon die ganze Eleganz, die die Romane von John le Carré in seiner dann folgenden, sehr langen schriftstellerischen Karriere ausmachen wird. Vielleicht noch etwas verspielt hier und da, etwas verliebt in die eigene Herrschaft über die Sprache, zu langen Sätzen neigend, die, vor Information nur so strotzend, Leser*innen manchmal zu verwirren drohen und damit einen so handlungsbasierten Roman zu überfrachten scheinen, ist dies dennoch mit viel Witz und sehr viel Liebe zu den Figuren geschrieben.

Smiley und seine Mitstreiter Peter Guillam, ein Beamter des Außenministeriums, sowie der Polizeioffizier Mendel werden im Laufe der Handlung regelrecht zu Freunden. Und le Carré verwendet viel Zeit und Aufmerksamkeit auf die kleinen Akte dieser beginnenden Freundschaft. Wie die beiden andern Smiley, der im Laufe der Handlung zweimal übel zugerichtet wird, umsorgen, wie der seine neuen Kumpel daraufhin in seinen – wenn auch nur drittklassigen – Club einlädt, wie man einander zutrinkt und immer wieder mit kleinen Aufmerksamkeiten umhegt, das hat schon seine Art. Auch diese scheinbaren Nebensächlichkeiten lassen die Männer, die alle auf ihre je eigene Art einsam wirken, ausgesprochen menschlich erscheinen. Sie alle sind hart, wenn es drauf ankommt, aber sie haben sich trotz allem doch auch eine Menschlichkeit bewahrt. Und das sogar, obwohl uns der erzählende Text sehr früh im Roman weismachen will, dass, als er von seiner Frau verlassen wurde, etwas in Smiley abgestorben sei. Doch wäre dem wirklich so – wieso säße er dann am Ende des Romans in einem Flugzeug gen Zürich, dorthin, von wo seine abtrünnige Frau ihm geschrieben hat mit der Bitte, zu ihm zurückkehren zu dürfen?

SCHATTEN VON GESTERN war der Auftakt einer beispiellosen Serie Spionageromanen, die den Autor John le Carré die kommenden dreißig Jahre seines Schaffens begleiten und zu der er immer wieder zurückkehren sollte. Ein fulminanter Auftakt, der seine ganze Wucht vielleicht erst beim zweiten Hinschauen entfaltet.

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