SEE DER SCHÖPFUNG/CREATION LAKE

Rachel Kushner betreibt ein äußerst kluges, aber auch ein perfides Spiel kultureller Differenzen

In ihrem bis dato letzten Roman SEE DER SCHÖPFUNG (CREATION LAKE, Original erschienen 2024; Dt. 2025) begibt sich die amerikanische Autorin Rachel Kushner auf das Gebiet der Agententätigkeit. Allerdings ist es weniger das Feld der klassischen Spionage, welches ihre männlichen Kollegen wie John le Carré oder Frederick Forsyth beackern, sondern, zeitgemäßer, jenes der privaten, wirtschaftlichen Geheimdiensttätigkeit.

Sadie Smith – der Name nach ihrer eigenen Aussage so echt wie ihre Brüste – wird von einem Auftraggeber, den sie nicht kennt, dem nie begegnet ist, mit welchem sie lediglich über Mittelsmänner kommuniziert, auf eine Landkommune im Südwesten Frankreichs angesetzt, deren Mitglieder im Verdacht stehen, die örtliche Bevölkerung, vor allem die Bauern, gegen ein geplantes Megabassin aufzuwiegeln. Diese Bassins kommen vor allem Konglomeraten zugute, die Großbetriebe bewirtschaften und immer dringender auf das Wasser – Grundwasser, um genau zu sein – angewiesen sind. Dabei graben sie es den Kleinbauern, der traditionellen Landbevölkerung wortwörtlich ab. Smith soll, wenn nötig, als eine Art Agent provocateur die Mitglieder der Kommune soweit aufwiegeln und zu unüberlegten Handlungen anstiften, dass die Staatsgewalt eingreifen kann. Doch ändert sich der Auftrag im Laufe ihres Aufenthalts in der Kommune…

Erzählt wird diese Geschichte von der Agentin selbst. Die, einst in Diensten des FBI und dort nach einem verunglückten Einsatz in Ungnade gefallen, verdingt sich nun vor allem auf dem europäischen Schauplatz und so werden die gut 473 Seiten des Romans auch zur Annäherung einer – obwohl wir ihr Alter nie erfahren, wohl noch vergleichsweise jungen – Amerikanerin an den „alten“ Kontinent. Eine Annäherung in Zeiten der zunehmenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entfremdung. Und entfremdet bleiben sich die verschiedenen Gesellschaften und Kulturen auch auf den Seiten dieses Romans und danach. Sadie Smith blickt auf Europa als ein gigantisches Netzwerk aus Waren- und Dienstleistungen: „[…]eingeschweißte Paletten mit ultrahocherhitzter Milch, Nesquikpulver oder Halbleitern; Autobahnen und Kernkraftwerke; fensterlose Verteilungslager, vor denen unsichtbare Männer aus Polen, Moldawier, Mazedonier, mit ihren LKWs zurücksetzen und Waren einladen, um sie durch ein gigantisches Netzwerk namens ‚Europa‘ zu befördern […]“. Damit ist der Ton, der Grundton des Romans, gesetzt. Er ist pragmatisch. Handlungs- und figurenbasiert. Pragmatisch eben auf amerikanische Weise. Sadie Smith sieht Oberflächen und deren Struktur. Und begreift sie, fast instinktiv, doch immer nutzbringend.

Um sich der Gruppe anzunähern, geht sie eine Beziehung zum besten Freund des Anführers der Kommune, einem Mann namens Pascal, ein. Diesem dient sie sich als Übersetzerin an, die bereit ist, das Manifest der Gruppe ins Englische zu übertragen. Ihr Freund, der in der Folge kaum noch eine Rolle spielt im Roman, ist Filmemacher. Und wie schon in ihrem internationalen Bestseller FLAMMENWERFER ist Kushner auch hier an Kunst, speziell der des Films, interessiert, um eine Art Schablone über das zu Erzählende zu legen. Denn der Film, dieser originär amerikanische Beitrag zur kulturellen Menschheitsgeschichte, wird hier zur Blaupause für die Story. Voller Querverweise und Anspielungen auf Filme und Serien, sich bestimmter, filmisch begründeter Klischees bedienend, ist Sadie Smith´ Perspektive auf Europa immer auch geprägt durch das Objektiv der Kamera. Was nicht heißen soll, dass sie sich – wie die Autorin – nicht sehr gut auskennt im europäischen Kino, welches zu beurteilen ihr nicht schwerfällt. Aber die kulturelle Prägung dieser Frau ist eine amerikanische. Und amerikanisches Kino, wie auch die amerikanische Literatur, sind nun einmal handlungsbasiert, anders als die Filme eines Jean-Luc Godard, eines Pier Paolo Pasolini oder eines Michelangelo Antonioni.

Aber stimmt das wirklich? Kann man hier wirklich von einer Handlung sprechen? Treibt Rachel Kushner nicht auch da ein ausgesprochen versiertes Spiel mit ihren Leser*innen?  Denn viel geschieht hier tatsächlich nicht, obwohl Kushner selbst durchaus eine handlungsorientierte Autorin ist. Doch gelingt ihr hier das Kunststück – darin wieder ganz dem europäischen Kino bspw. eines Wim Wenders entsprechend – aus der langsamen Bewegung dieser Frau auf ihr Ziel zu, enorme Spannung zu generieren. Um ihre Leser*innen bei der Stange zu halten, erzählt Kushner eine Vielzahl kleinerer und größerer Nebenstränge und Nebengeschichten, jede Figur wird mit irgendeiner Story, mindestens aber einer Anekdote ausgestattet und so glaubt man gar nicht, dass die eigentliche Handlung voranschreitet. Tut sie aber doch, wenn auch eher in elliptischer Form – und mündet in einem ausgesprochen zynischen Showdown auf einer Landwirtschaftsmesse.

Der Clou des Romans aber ist, dass Sadie Smith (deren Namen nicht von ungefähr an den der großartigen englischen Schriftstellerin und Essayistin Zadie Smith erinnern dürfte) sich in den kollektiven E-Mail-Account der Kommune eingehackt hat und so in der Lage ist, die dort einlaufenden Mails eines Mannes namens Bruno mitlesen zu können. Und dieser Bruno, dessen schriftliche Zeugnisse Smith in indirekter Rede und oft von ihr kommentiert wiedergibt, ist einer Art alternativen Menschheitsgeschichte auf der Spur. Er hat sich nach einem persönlichen Unglück in eine Höhle in der Nähe der Kommune zurückgezogen, in der er zu der Erkenntnis gelangt ist, dass wir, Abkömmlinge des Homo sapiens, dem von eben diesem in der Urzeit zurückgelassenen Neandertaler gar nicht so überlegen seien, wie wir gern annehmen. Von einigen von ihm selbst gemachten Beobachtungen in der Höhle ausgehend, entwirft Bruno das Gedankenspiel, dass sich einfach nur der listigere, brutalere, skrupellosere Typus durchgesetzt hat, während der, der in sich vielleicht die besseren Anlagen trug, evolutionär ausgeschaltet wurde. Bruno führt diese Überlegung historisch bis zu den einst in der Gegend, wo all dies sich zuträgt, ansässigen Cagots, einer sozialen Minderheit, die weitestgehend diskriminiert wurde und angeblich im 16. Jahrhundert einen Bauernaufstand anführte; wahrscheinlich gehört dies aber ins Reich der Legende. Ihre genaue Herkunft ist der Wissenschaft bis heute ein Rätsel, möglicherweise sind sie Nachkommen der West-Goten. Bruno jedenfalls glaubt, in ihnen Nachkommen eben jener „Taler“ – wie er den Neandertaler liebevoll nennt – erkennen zu können, der die bessere genetische Disposition für ein Leben in und mit der Natur gehabt hätte.

Bruno selbst – und das ist wichtig für den Roman – ist ein Alt-68er, ein ehemaliger Aktivist, der in engem Kontakt zu dem Situationisten Guy Dabord stand. Es sind Verbindungen wie diese, die Kushner durch den gesamten Roman spinnt, und die dem von Sadie Smith entdeckten Netz entsprechen, nur eben ideengeschichtlich. Sadie Smith behauptet, aus Priest Valley zu stammen, einem Kaff irgendwo im Süden Kaliforniens. Tatsächlich existiert es, es ist aber eine tote Stadt, Einwohnerzahl exakt 0. Eine Zombiestadt. Und es ist genau dies der Widerspruch, aber auch das Spannungsfeld, in dem Sadie Smith sich bewegt. Während sie Brunos gelegentlich ins Esoterische, gar ins Mystische abdrehenden Anmerkungen zur Menschheitsgeschichte liest, konterkariert sie diese mit oftmals geradezu peinlich platter Profanität. Das ist – auf sarkastische, manchmal unangenehm zynische Art und Weise – sogar lustig und nimmt dem Roman Schwere, die er tatsächlich aber gar nicht hat. Doch – und da wird es eben interessant und da beginnt die eigentliche Kunst der Rachel Kushner – Brunos Sicht auf die Welt ist nicht nur fantasievoller, sie ist vor allem sehr, sehr viel schöner als die einer Frau wie Sadie Smith. Denn ob seine Menschheits- oder die daraus abgeleitete Gesellschaftstheorie nun irgendeinen realistischen Rahmen haben oder nicht: Sie eröffnen ein weites denkerisches und kreatives Feld. Es wird schon seinen Grund haben, dass Kushner diese Geschichte im Land des Strukturalismus und des Poststrukturalismus und nicht in dem der negativen Dialektik angesiedelt hat.

Film betrachtet seinem Wesen nach Oberflächen, die Literatur dringt ihrem Wesen nach durch Oberflächen hindurch in tiefere, reflektierende Ebenen. Der europäische Mann Bruno, der in einer Höhle lebt und nur gelegentlich hervorkommt, um im Haus seiner Tochter einen Laptop zu nutzen und seine manchmal kryptischen Weisheiten an die Kommune abzusetzen, dringt unter die Oberfläche der europäischen (Kultur)Geschichte vor und findet dort mögliche Alternativen; die Amerikanerin Sadie Smith betrachtet Europa – und letztlich die Welt – als reine Oberflächenstruktur, die sich zunutze machen kann. An einer Stelle des Romans, einer Bruchstelle, wie sich herausstellen wird, erklärt sie, dass sie es vermisse, in einer Kultur zu Hause zu sein. Sie vermisse es, Englisch mit anderen Muttersprachlern zu sprechen und preist dann die Möglichkeiten der englischen Sprache, was Ausdrucksmöglichkeiten, was Nuancen betreffe. Die englischen Wörter seien kreativ und präzise, wie die – und hier wird sie explizit – amerikanische Musik, die amerikanischen „Subkulturen, der Straßenstil, die Leidenschaft für Gewalt, Dummheit und Freiheit.

Es mag dies der Moment sein, in dem Sadie Smith beginnt, durch die Oberfläche des eigenen Ichs und der sozialen, kulturellen und politischen Prägung zu brechen, die sie geformt haben. Wenn sie schließlich ihren Auftrag erledigt haben wird – auf denkbar andere Art und Weise denn gedacht – dann wird sie sich zurückziehen. Sie wird alle Folgeaufträge ablehnen und eben nicht zurückkehren in diese, die von ihr als die sie prägend ausgemachte Kultur. Vielmehr wird sie sich nach Spanien zurückziehen, ans äußerste westliche Ende des europäischen Kontinents, immer einen Katzensprung entfernt vom vielleicht noch fremderen Afrika. Und hier wird sie beginnen, zu gesunden. Der „See der Schöpfung“ hat sich auch in Sadie Smith ausgebreitet. Sie wird aus ihm schöpfen – in reichlicher Fülle.

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