LICHTSPIEL
Daniel Kehlmann lässt G. W. Pabst - leider nicht immer gelungen - mit sich, seinem Werk und den Bedingungen ringen, unter denen es entstanden ist
Künstler interessieren sich für Künstler, das verwundert nicht. Erst recht, wenn Künstler mit dem Bösen flirten und der Versuchung erliegen, sich mit ihm gemein zu machen. Die schwarze Romantik folgte genau diesem Prinzip. Allerdings wusste sie auch noch nichts von der reinen Banalität des Bösen, vom Bösen in der Massengesellschaft, im Zeitalter der industrialisierten, der Massen-Tötung.
Der Meister der Massentötungen, das Dritte Reich, vertrieb etliche Künstler und Kunstschaffende – allen voran natürlich diejenigen, die jüdischen Glaubens waren. Aber die Vorstellung, die Joseph Goebbels, der Propagandaminister, der eben auch für „Volksaufklärung“ und also für Kunst und Kultur zuständig war, von Kunst hatte, widersprach so oder so dem, was in Deutschland in den Jahren seit Ende des Ersten Weltkriegs entstanden war. Er betrachtete den Expressionismus, ebenso wie den Surrealismus und den Dadaismus, als „entartete Kunst“ und bekämpfte all diese modernen, teils avantgardistischen Kunstrichtungen wortwörtlich bis aufs Blut. Auch und gerade den Film okkupierten die Nazis schnell und gründlich, der Zugriff auf die UFA, das führende Studio in Deutschland, war umfassend. Goebbels hatte viel zu genau begriffen, welche Mittel und Möglichkeiten in den Massenmedien – damals vor allem das Radio, aber natürlich auch der Film – lagen.
Von den führenden Filmkünstlern gingen viele, wenn nicht die meisten, nach Amerika, um ihr Glück in Hollywood zu versuchen. Einige – Erich von Strohheim, Ernst Lubitsch oder Josef von Sternberg – waren lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgewandert, da sie die Möglichkeiten erkannten, die Hollywood, die dortigen Produktionsbedingungen und vor allem das kalifornische Licht boten, viele andere wie bspw. Robert Siodmak, Fritz Lang oder Billy Wilder flohen vor ihren Verfolgern. Eine in diesem Reigen interessante, weil Ausnahmefigur, ist G.W. Pabst. Ihm und seiner Geschichte widmet der Schriftsteller Daniel Kehlmann seinen jüngsten Roman LICHTSPIEL (2023) – und es könnte, kommt man noch einmal auf den ersten Absatz dieses Texts zurück, gerade die spezifische Verwobenheit mit dem Regime, mit dem Bösen, gewesen sein, die Kehlmann an diesem Stoff gereizt haben dürfte.
Die Geschichte des Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst ist etwas anders als die der anderen oben angeführten Beispiele der deutschen Filmgeschichte. Pabst galt neben Meistern wie Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang, Robert Wiene oder Paul Wegener als einer der großen Filmemacher des deutschen Stummfilms und des frühen Tonfilms. DIE FREUDLOSE GASSE (1925) ist sein herausragendes Werk dieser Schaffensperiode. Mit der darin enthaltenen Rolle der Grete Rumfort konnte Greta Garbo ihre Weltkarriere begründen. Mit der Wedekind-Verfilmung DIE BÜCHSE DER PANDORA (1929) machte Pabst dann die Amerikanerin Louise Brooks zu einem der führenden weiblichen Stars ihrer Zeit. Er unterstützte Arnold Fanck bei dessen Film DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ (1929) – und lernte bei den Dreharbeiten auch die spätere Regisseurin und Hitler-Vertraute Leni Riefenstahl kennen. Mit WESTFRONT 1918 (1930) drehte er einen der eindringlichsten Anti-Kriegsfilme, die es überhaupt gibt, zudem das Gegenstück zu Hollywoods Verfilmung von Erich Maria Remarques IM WESTEN NICHTS NEUES (ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT/1930). Spätestens nachdem Pabst Brechts DREIGROSCHENOPER (1931) auf die Leinwand gebracht hatte, galt er in Deutschland gar als „der rote Pabst“, da ihm Sympathien für den Kommunismus nachgesagt wurden. Pabst ging 1933 nach Frankreich und drehte auch dort. Während seines Aufenthalts wurde er von der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland überrascht. Bald darauf reiste er nach Amerika, wo er allerdings feststellen musste, dass die Erfolge in Deutschland in Hollywood nicht zwingend etwas bedeuteten. Sein Film A MODERN HERO (1934) floppte und es gelang Pabst nicht mehr, ein Anschlussprojekt auf die Beine zu stellen.
Hier etwa setzt die Handlung von Kehlmanns Roman ein. Was bis hierher geschah, wird den Leser*innen in Rückblenden und Erinnerungen des Regisseurs mitgeteilt und also auch immer mitreflektiert. So entsteht das Bildnis eines durchaus verbitterten Mannes, der sein Werk nicht genügend gewürdigt, der sich in den Fallstricken der Geschichte verwickelt sieht und doch eigentlich nur Kunst schaffen will. Zurück aus Hollywood dreht Pabst erneut in Frankreich, 1939 reist er nach Österreich, wo seine Mutter in einem vom Regisseur gekauften Schloss lebt. Da sie krank ist, zusehends hinfällig wird, will er sich darum bemühen, sie in Wien in einem vernünftigen und ihrem Lebensstil angemessenen Heim unterzubringen. Hier werden Pabst und seine Familie – neben ihm seine Frau Trude und der gemeinsame Sohn Peter, im Buch Jakob – vom Kriegsausbruch überrascht. Pabst wird von Goebbels Ministerium mehr oder weniger erpresst und gezwungen, für das Regime zu arbeiten und realisiert mit KOMÖDIANTEN (1941), PARACELSUS (1943) und DER FALL MOLANDER (1945) drei Filme im nationalsozialistischen Deutschland.
Ersterer ist ein für die Filmproduktion der Nazis typisches Portrait eines oder einer „großen“ Deutschen – in diesem Fall der Schauspielerin Caroline Neuber. Käthe Dorschs Leistung in dieser Rolle wurde damals allgemein gelobt und gilt nach wie vor als ein Glanzstück ihrer Karriere. Der Nachfolger erfüllt zwar ein ähnliches Profil – ein berühmter Deutscher und seine Leistung werden gewürdigt – ist aber allgemein als Meisterwerk anerkannt. Der letzte dieser drei Filmen gilt als verschollen – und wird gerade deshalb für Kehlmann dramaturgisch zum Dreh- und Angelpunkt seines Romans. Denn da man so gut wie nichts über die Dreharbeiten zu dem Film weiß, kann der Autor unterstellen, dass Pabst, als es nicht mehr möglich ist, Wehrmachtssoldaten und Einheimische vor Ort – gedreht wurde in Prag – für Massenszenen zu rekrutieren, auf KZ-Häftlinge zurückgriff. Heute wissen wir, dass Riefenstahl, die auch im Roman einige Auftritte hat, dies für ihren Film TIEFLAND (1940-44/veröffentlicht 1954) genau so gehandhabt hat. Eines der übelsten Kapitel deutscher Filmgeschichte, waren es doch größtenteils Sinti und Roma, die von der Firma der Regisseurin „gebucht“ und aus zwei Zwangslagern zum Drehort verschafft wurden. Nach Abschluss der Dreharbeiten deportierte man sie nach Auschwitz-Birkenau, wo fast alle ermordet wurden.
Es ist also starker Tobak, wenn Kehlmann Pabst unterstellt, genau so gehandelt zu haben. Sowohl inhaltlich wie dramaturgisch, aber auch auf der Metaebene, kann er seinen Roman dadurch allerdings abrunden. Denn beginnen und enden lässt er ihn mit Pabsts Regieassistenten Franz Wilzek, der als bereits sehr verwirrter Greis aus der Ich-Perspektive von einem Besuch im Fernsehstudio erzählt (literarisch ein kleines Meisterstück Kehlmanns, diesen subjektiven Erzähler glaubwürdig seine Vergesslichkeit ausstellen zu lassen), wo ihm ein Redakteur zuraunt, sein Vater sei bei den Dreharbeiten dabei gewesen – wodurch er Wilzeks Behauptung, der Film DER FALL MOLANDER sei nie gedreht worden, lediglich in der Vorbereitung gewesen, widerlegt. Wilzek aber hatte eben in der Livesendung von Heinz Conrads – und sehr zu dessen Unmut – genau diese Behauptung aufgestellt. Für Pabst, so kolportiert es Kehlmanns Roman, sei es aber Zeit seines restlichen Lebens so gewesen, dass er den Film für ein Meisterwerk gehalten habe und enorm unter dessen Verlust gelitten habe.
In einer, wenn nicht der entscheidenden Szene des Romans stellt der junge Wilzek Pabst mitten in den Kriegswirren am Drehort zu DER FALL MOLANDER zur Rede. Hier endlich, in diesem Moment, da er gewahr wird, dass Pabst bereit ist, die letzten Grenzen zu überschreiten – und ahnend, dass sie so oder so schon viel zu weit gegangen, schon viel zu tief in Schuld verstrickt sind – widersetzt er sich dem Meisterregisseur. Müht sich, den auch vor sich selbst zu schützen. Aber der setzt zu einer Rede an, die das ganze Dilemma des Künstlers, aber auch das Sein jenseits von Moral oder auch nur Anstand definiert: Ja, das sei alles Wahnsinn, aber dieser Wahnsinn gäbe ihnen die Möglichkeit, einen großartigen Film, Kunst eben, herzustellen. Die Menschen, die sie dafür benutzten, die stürben sowieso, niemand würde gerettet. Aber ohne sie, ohne Pabst und Wilzek und all die Mitwirkenden an dem Film, gäbe es eben auch den nicht. So aber gäbe es eben zumindest diesen Film – und der sei die reine Kunst. Lässt Kehlmann Pabst den Roman hindurch nie als Mitläufer erscheinen, eher als Getriebenen (anders als bspw. Heinz Rühmann, der ebenfalls auftritt und dem Kehlmann attestiert, was man über den kleinen Mann weiß – nämlich dass er ein sehr gutes Verhältnis zu Goebbels und einen sehr kurzen Draht in dessen Ministerium hatte), ist genau dies der Moment, die Stelle, an der sein Verhältnis zum Regime kippt und er eben doch den Reizen, den Verlockungen des Bösen verfällt oder zu verfallen droht. Und nicht widerstehen kann, solange er sich einzureden vermag, dass es nur um die Kunst ginge, nichts anderes.
Am Ende des Romans wendet sich Kehlmann noch einmal Wilzek zu, der mittlerweile aus dem Fernsehstudio zurückgekehrt ist in das Heim, in dem er lebt. Und was er uns dort offenbart – und wie es dazu gekommen ist – stellt nicht nur Pabst, es stellt das Wesen der Kunst selbst infrage. Denn es ist eine hübsche Kunst-Variation auf die Frage nach Schrödingers Katze. Das mag so nicht der Wahrheit entsprechen, als meta-kritische Abrundung dieses Romans hingegen ist es äußerst raffiniert.
So beschrieben, entsteht der Eindruck, es mit einem großartigen Roman zu tun zu haben. Und ja, es gelingen Kehlmann Szenen von großer Eindringlichkeit. So funktioniert die Charakterisierung Pabsts hervorragend. Man glaubt dessen innerer Abneigung, seiner Zerrissenheit zwischen einer Existenz als Künstler und als Opportunist in einem durch und durch verkommenen System. Dazu passt auch seine zunehmend depressive Phase, je weiter der Krieg voranschreitet, die innere Abwesenheit, die ihn dann aber auch später, nach dem Krieg, kaum mehr zu verlassen scheint. Irgendwann ist es Trude, die übernimmt und die Familie in halbwegs sichere Fahrwasser führt, während Sohnemann Jakob den Lockungen der Nationalsozialisten erliegt und hofft, Karriere in einer derer Elite-Organisationen machen zu können. All das funktioniert und ist erschreckend in seiner Folgerichtigkeit. Vielleicht schon zu eindeutig in dieser Folgerichtigkeit.
Es gelingen Kehlmann auch Einblicke in die Psychologie des Massenwahns, er vermittelt, wie das so funktioniert, wenn sich das dialektische Verhältnis von Herrn und Knecht verkehrt, weil die politischen Verhältnisse sich ändern. Nur gelingt ihm das dann alles nur noch holzschnittartig. Die Jerzabeks – er Hausmeister, sie Hausangestellte auf dem Schloss der Pabsts – sind die Vorzeige-Nazis par excellence. Dümmlich, brutal und provinziell auf eine Art, dass es an Debilität grenzt, werden sie derart klischeehaft gezeichnet, dass dies schon eine arge Verzerrung darstellt. Und so zieht sich das durch den gesamten Roman – und leider nicht nur mit Nazis, sondern mit allerhand historischen Figuren und Vertretern historischer Organisationen etc.
Diabolisch freundlich und doch immer unterschwellig bedrohlich der Abgesandte des Propagandaministeriums, überheblich und dumm die Hollywood-Produzenten, die Pabst das Geld für seinen Film verweigern. Beide – Nazi-Abgesandter und Hollywood-Produzenten – wirken wie aus dem entsprechenden Baukasten, wie etlichen Büchern und Filmen entnommen und passend für diese Gelegenheit zusammengebastelt. Und das setzt sich leider fort, wenn einerseits die Garbo auftritt und Pabst unterkühlt freundlich, aber bestimmt abblitzen lässt und andererseits Louise Brooks als Kaugummigirl den Regisseur, der ihr einst zu Ruhm und Reichtum verholfen hat, dreist und ein wenig überheblich abweist. Nicht ohne entsprechende erotische Untertöne. Wobei der Roman immer wieder andeutet, dass Pabst zeitlebens in Brooks verliebt war, ja, dass sie tatsächlich die große Liebe seines Lebens gewesen sei. Vielleicht wollte Kehlmann bewusst mit Klischees spielen, wollte die Garbo übertrieben Garbo-like darstellen und damit eine Karikatur dessen schaffen, was in Europa als „Kultur“ betrachtet wurde (die Nazis hätten sie gern, wie auch die Dietrich, „heim ins Reich“ geholt, was die eine wie die andere ablehnten) im Gegensatz zur vulgären angelsächsischen „Zivilisation“, für die die eben auch vulgär gezeichnete Brooks dann stünde. Doch sollte das der Ansatz gewesen sein, so ist er gescheitert. Diese Figuren wirken wie Abziehbilder. Sonst nichts.
Kehlmann streift durch die Filmgeschichte und leider haben zumindest interessierte und darob informierte Leser*innen – und die Frage, die sich damit stellt, ist natürlich die, für wen ein Buch wie dieses letztlich eigentlich geschrieben wurde, außer für den Autoren höchstselbst natürlich – bald den Eindruck, gemeinsam mit dem Autor einem Proseminar Filmgeschichte beizuwohnen. Beziehungsweise einem Proseminar „Georg Wilhelm Pabst in der Filmgeschichte“ zu lauschen, welches der begeisterte Daniel Kehlmann gerade vorträgt. Oder gerade vorbereitet.
Der reiht hier Szenen aus dem Leben des Regisseurs aneinander, gelegentlich mit großen Sprüngen, die nicht immer nachvollziehbar sind, er entwirft und breitet dessen Zweifel, Ängste und Träume für und vor dem Publikum aus und schafft dabei wirklich großartige Momente. So zum Beispiel, wenn er beschreibt, wie Pabst, während andere auf ihn einreden, eine Szenerie in einen Film umwandelt und uns somit fast magisch vermittelt wird, wie vor dem geistigen Auge des Regisseurs ein Bild, eine Kamerafahrt, ein Schwenk und die dazu passende Beleuchtung entstehen. Das sind Momente, in denen man spürt, wie genau sich Kehlmann mit seinem Sujet beschäftigt, wie tief er sich auch in einen Mann wie Pabst hineingedacht und gefühlt haben mag. Aber allzu oft verharrt er eben auch in Küchentischpsychologie, spekuliert über Gedanken und Gefühle und bleibt doch zu sehr an der Oberfläche, berührt das Publikum nicht wirklich, zieht es zu wenig hinein in das Ringen mit sich, mit der Kunst und vor allem den Bedingungen, unter denen sie in diesem Fall entsteht.
Das Problem ist dann das Ganze, das nicht über die Summe seiner Einzelteile hinauswächst – um an dieser Stelle selbst ein sprachliches Klischee zu verwenden. Der Roman liest sich gut, er liest sich schnell herunter, er packt auch stellenweise, keine Frage. Doch spürt man immerzu die Möglichkeiten, die noch darin gesteckt hätten, spürt, dass der Autor möglichst viel seiner Recherche unterbringen und verarbeiten wollte und sich dabei zu häufig im Detail verliert. Gelegentlich gleitet das Beschriebene dann in reine Kolportage ab und wird an diesen Stellen ärgerlich. Und so ist dies zwar sicher kein schlechtes Buch, aber doch auch nicht der große Wurf, der immer wieder zwischen den Zeilen und durch die Seiten hindurchschimmert.
Das ist schade, denn die Fragen danach, was Kunst darf und was sie soll und zu welchen Bedingungen sie entstehen kann, Fragen, die ein Buch wie dieses aufwirft – und die Kehlmann in der weiter oben geschilderten Szene aufgreift und auf einen sehr, sehr schmerzhaften Punkt bringt – sind wesentlich und immer wichtig. Und es sind, historisch betrachtet, Fragen, die hinsichtlich der deutschen Geschichten eben auch immer wieder – und gerade in Zeiten wie diesen – zu stellen sind. Fragen, mit der Künstler aber immer schon, in allen Zeiten und durch alle Zeiten, gerungen haben und ringen werden. Und deren Antwort(en) wahrscheinlich immer unbefriedigend bleiben und immer schmerzhaft sind.