SEPTIMUS HARDING, SPITALVORSTEHER/THE WARDEN
Anthony Trollope entführt den geneigten Leser in die englische Provinz des 19. Jahrhunderts
Sollte jemand noch nach Argumenten suchen, die Erbschaftssteuer erheblich anzuheben, dann könnte er oder sie in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts fündig werden und sich munitionieren. Denn gefühlt in jedem 2. Roman spielt eine Erbschaft eine große Rolle, ist Auslöser für allerlei Streit, Ränke und Ranküne und meist bleibt als Moral der Geschichte die Erkenntnis, daß es besser ist, ein zwar bescheidenes Leben, aber dafür eines in Würde und Anstand zu führen. Und Geld verdirbt ja bekanntlich den Charakter. Da übrigens, wo es keine Erbschaft ist, spielen in diesen Romanen häufig Pfründe, Jahreseinkommen und Vermögen eine große Rolle. So oder so ist es das liebe Geld, dem im englischen Roman des 19. Jahrhunderts immer viel Aufmerksamkeit zuteilwird.
So also auch in Anthony Trollopes SEPTIMUS HARDING, SPITALVORSTEHER (THE WARDEN; erschienen 1855; Dt. hier: 2002). Es ist eine alte Erbschaft, die hier Auslöser ist für die Unbilden im Leben der titelgebenden Hauptfigur. Dieser Septimus Harding ist Kantor des Doms von Barchester und in dieser Funktion zugleich der Vorsteher des dem Domstift angeschlossenen Spitals, einem Heim für alte Männer, denen das Leben nicht allzu gut mitgespielt hat und die nun hier ihren Lebensabend verbringen dürfen. Harding ist ein Liebhaber kirchlicher Musik, leitet einen Chor, spielt das Cello in einem Streichquartett und erfreut sich eines friedlichen Lebens, gemeinsam mit seiner jüngeren Tochter, die ihn unterstützt, seit seine Gemahlin früh verstarb. All das scheint ein wahres Idyll, bis Mr. Hardings beschauliches Leben empfindlich gestört wird. Die Presse in Gestalt des Jupiter hat herausgefunden, daß der ursprüngliche Stifter des Spitals – allerdings vor gut 500 Jahre bereits ins Himmelreich eingegangen – niemals vorgesehen habe, daß der Vorsteher zwar 800 Pfund im Jahr einstreicht, die Männer, denen das Erbe des Stifters zugutekomme aber mit einigen Shilling abgespeist würden. Besonders pikant wird die Angelegenheit dadurch, daß Hardings Schwiegersohn – Gatte seiner älteren Tochter – nicht nur der Sohn des mit Harding eng befreundeten Bischofs ist, sondern auch Arch-Diakon und ein nahezu fanatischer Verteidiger der Kirche und ihrer Privilegien. Auf der anderen Seite ist es wiederum Hardings Schwiegersohn in spe, Verehrer seiner jüngeren Tochter, der den Angriff – aufgrund von Prinzipien, die ihn antreiben – führt.
Trollope spinnt hier ein herrliches und wie immer sehr komisches Gewirr aus Beziehungen, Anforderungen der Konvention, der öffentlichen Meinung und Leibeshändeln, in dessen Fokus sich der arme Septimus Harding wiederfindet, der doch immer nur bemüht war und ist, das richtige zu tun. Er hatte den Männern im Spital auf eigene Kosten ein paar Shilling mehr im Monat zukommen lassen, er lebt bescheiden, braucht auch das viele Geld, das er verdient, im Grunde nicht, hat aber auch nie in Frage gestellt, daß er Anspruch darauf habe. Nun macht der Jupiter – dessen Aufmachung und Auftreten dem der Times nachempfunden ist – aus Harding ein wahres Monster der Selbstgerechtigkeit, einen Ausbeuter, der sich auf Kosten der Männer, die ihm unterstellt sind, bereichert. Schließlich hinterfragt Harding selbst die Rechtmäßigkeit seines Einkommens, bemüht sich zugleich jedoch, niemanden, erst recht nicht dem zukünftigen Schwiegersohn, zu erzürnen.
In diesem ersten Band der Barchester Chronicles, die schließlich auf sechs Bände anwachsen sollten, liefert Harding ein Gesellschaftsportrait, in welchem er Bigotterie, Doppelmoral, die Macht der öffentlichen Meinung und die Verführbarkeit des Menschen bloßstellt und durchaus auch der Lächerlichkeit preisgibt. Einige Figuren wirken wie Karikaturen, allen voran der Arch-Diakon Grantly, aber auch andere, weniger wichtige Figuren erfüllen diese Funktion. Harding wird als etwas naiver Mann gezeichnet, der unvermittelt zum Gegenstand einer Medienkampagne wird. Doch Trollope dreht die Schraube noch ein wenig weiter, indem er all die verfeindeten Parteien in emotionale Beziehungen zum Vorsteher und seinen Töchtern setzt. So entstehen herrliche Szenen, in denen bspw. Harding und der Bischof vor dem Arch-Diakon zittern, dessen fordernder Art sie nichts entgegen zu setzen haben, bis sie sich schließlich mit einer List aus seiner Umklammerung befreien. Daß die Liebe sowieso über alles siegt, was sich ihr in den Weg stellt, versteht sich (für Trollope) von selbst, weshalb sein Schwiegersohn in spe sich natürlich vom ganzen Vorgang zurückzieht, als er merkt, daß seine Angebetete ihn fallen lassen könnte. Womit Trollope gleich noch die angebliche Macht der Frauen karikiert, die sie ja dank ihrer tiefen Emotionalität über die Männer haben sollen.
Das ist modern, es ist saukomisch, es hat Tempo und Spannung, glaubwürdige Figuren und jede Menge Einzelepisoden, die äußerst unterhaltsam zu lesen sind. Man kann anhand eines Romans wie diesem gut nachvollziehen, weshalb Trollope zu seiner Zeit einer der meistgelesenen und erfolgreichsten Autoren Englands gewesen ist. Und wie so oft ist man bass erstaunt, wie gut diese Literatur auch heute noch funktioniert. Daß hier einer recht offen, sehr spöttisch und vor allem mit höchst klarem Blick die ausgesprochen weltlichen Seiten der anglikanischen Kirche und ihrer Besonderheiten aufs Korn nimmt, ist da nur eine Seite der Medaille, denn Trollope weiß zugleich auch jene zu karikieren, die sich diese Stellung zunutze zu machen verstehen und immer auf den eigenen Vorteil bedacht sind.
Modern mutet auch an, wie sich der Autor der Geschichte einschreibt. Denn immer wieder – recht typisch für Trollope – tritt er selbst in Erscheinung, spricht den Leser an, beichtet ihm auch, wo er nicht so genau Bescheid wisse, was er lieber verdeckt hält etc. Zugleich fungiert er aber auch als auktorialer Erzähler, der klassisch auch anwesend ist, wenn sich zwei Liebende ihre Schwüre zuflüstern. Und doch kann er uns auch aus eigener, deutlich als solche gekennzeichnete Anschauung einiges über einige hier erzählen. Daß die Kinder der Grantlys zwar einerseits mit allen Mühen damaliger Erziehung bearbeitet wurden, dennoch keine sonderlich liebenswürdigen Geschöpfe aus der Vereinigung der Tochter des Spitalvorstehers und des Sohns des Bischofs hervorgegangen sind, erklärt der Erzähler bspw. anhand einer anschaulichen und vor allem selbst erlebten Begegnung.
Wenn man will, lässt sich dies als leichte Unterhaltung lesen, wenn man mehr hineinlesen und herausholen will, kann man hier aber auch ein gelungenes gesellschaftliches Portrait der englischen Provinz zur Mitte des 19. Jahrhunderts entdecken, welches dem Leser einiges zu erzählen hat und somit Vieles erklärt.