ST. IVES/ST. IVES: BEING THE ADVENTURES OF A FRENCH PRISONER IN ENGLAND

Robert Louis Stevensons letzter Roman

Gern wird gestritten, ob nun DIE HERREN VON HERMISTON (WEIR OF HERMISTON: AN UNFINISHED ROMANCE; erschienen 1896) oder doch ST. IVES (ST. IVES: BEING THE ADVENTURES OF A FRENCH PRISONER IN ENGLAND; erschienen 1898) der allerletzte Roman des großen schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson gewesen sei. Beide waren unvollendet, als der Autor am 3. Dezember 1894 auf der Südseeinsel Samoa starb. Doch während vom WEIR OF HERMISTON lediglich Textkonvolute existierten, hatte Stevenson ST. IVES einschließlich des 30. Kapitels bereits fertiggestellt und recht exakte Notizen und Verlaufskonstruktionen für die abschließenden sechs Kapitel hinterlassen. Seine Witwe Fanny Osbourne übergab das Skript dem Freund der Familie Arthur Quiller-Couch, der anhand der Notizen das Werk fertig schrieb. Obwohl es bereits 1975 eine deutsche Fassung gab, liegt nun eine sehr schön aufgemachte Neuübersetzung (und erstmalige Gesamtübersetzung) des Romans durch Andreas Nohl im Hanser Verlag vor.

Stevenson lebte zur Zeit der Niederschrift des Romans bereits geraume Zeit in der Südsee und hatte auf Samoa sein letztes Domizil gefunden. Er hatte aus gesundheitlichen Gründen Europa verlassen und fand hier, in den Tropen, eine gewisse Linderung. Vielleicht also stimmt, was Nohl in seinem äußerst kenntnisreichen Nachwort schreibt: Stevenson kehrte, womöglich auch aus Heimweh, in diesem Roman, wie auch in WEIR OF HERMISTON, noch einmal gänzlich in seine Heimat zurück. Die gesamte Handlung des Romans spielt in Edinburgh und England, lediglich in den letzten Kapiteln treibt es den Protagonisten mit einem Freibeuterschiff gen Amerika, allerdings nur, um dort unmittelbar die Rückreise nach England anzutreten. So hat Stevenson hier Gelegenheit, noch einmal, fast schwelgerisch, die Schönheiten und Eigenarten seiner Heimatstadt zu beschreiben, aber auch die Schönheit Großbritanniens generell. Er nutzt dafür eine recht eigenartige Figurenkonstellation. Er lässt einen französischen Gefangenen der Napoleonischen Kriege, der auf der Festung in Edinburgh in Haft sitzt, als Ich-Erzähler auftreten; so kann Stevenson Edinburgh, Schottland und England, die Landschaften, die Menschen und Eigenheiten der Gegenden, durch die es den Adligen St. Ives treibt, mit den Augen eines Fremden betrachten und beschreiben. Oft ist ein Staunen, gelegentlich ein distanzierter Blick.

Dieser St. Ives gehört einem alten Adelsgeschlecht an, dessen sonstige Vertreter rechtzeitig die Flucht aus Frankreich angetreten und sich in England niedergelassen hatten, bevor die Revolutionswirren sie hinfort fegen konnten. Nur der Zweig, dem auch der Titelheld entstammt, wurde Opfer der Massaker während der Terrorherrschaft der Jakobiner. St. Ives selbst, der verschiedene Sprachen, vor allem aber Englisch, spricht, entkam wie durch ein Wunder immer wieder der Guillotine und landete schließlich unter dem Namen Champdivers als regulärer Soldat in der Armee des Kaisers. 1813 fällt er in die Hände der Briten und wird – auch der Spionage verdächtig – inhaftiert. Auf der Festung in Edinburgh war es den Häftlingen gestattet, sich mit kleinen Handwerksarbeiten und Zierrat, den sie selber schnitzten, ein Zugeld zu verdienen, mit dem sie Tabak und zusätzliche Essensrationen kaufen konnten. An bestimmten Tagen kamen Edinburgher Bürger auf die Festung und erwarben die kleinen Arbeiten von den Gefangenen. St. Ives verliebt sich dabei unsterblich in eine junge Dame namens Flora. Da ein Mitgefangener sie beleidigt, kommt es zu einem Duell, bei dem St. Ives seinen Widersacher schwer verletzt. Der aber, doch ein Edelmann, hält dicht und verrät St. Ives bis zu seinem Tode eine Tage später nicht. So wird dieser nicht zur Rechenschaft gezogen. Bei einem Massenausbruch gelingt es St. Ives schließlich, sich abzusetzen und gen England zu fliehen. Dort erwartet ihn – das weiß er durch den Besuch eines Anwalts auf der Festung – eine große Erbschaft, da sein Onkel den Cousin Alain enterbt hat.

In Folge entwickelt sich eine wilde Reisegeschichte, die St. Ives einmal bis in Englands Süden führt, dann wieder nach Schottland, immer in Begleitung eines jungen Freundes, den er als seinen Diener ausgibt, immer mit seinem rachsüchtigen Cousin auf den Fersen und immer mit dem drohenden Galgen im Nacken, da man ihn gemeinhin für einen Mörder hält. Unglücklicherweise war er während seiner Flucht gezwungen, auch einen Schäfer schwer zu verletzen.

Stevenson bemächtigt sich in seinem letzten Roman eines fast durchgängig ironischen Stils, der gelegentlich zur Persiflage neigt. So erwähnt er selbst mehrfach die Geschichten von Ann Radcliffe, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe höchst populärer Schauergeschichten geschrieben hatte. Gelegentlich wirkt ST. IVES wie eine Parodie auf eben solche, wie auch auf Räuberpistolen und Abenteuergeschichten, die sich ebenfalls großer Beliebtheit beim gemeinen Publikum erfreuten und unter denen auch Stevensons eigene Werke – TREASURE ISLAND (1883) oder KIDNAPPED (1886) bspw. – oftmals subsumiert wurden. Doch unter dem Mantel des leicht Dahinerzählten baut er auch hier die für ihn so typischen Fragen nach Moral und Gewissen, nach charakterlicher Ambivalenz und Befangenheit ein. Der Ich-Erzähler ist nicht nur ein Soldat, der das Handwerk des Tötens beherrscht, wie er uns an verschiedenen Stellen des Werks deutlich wissen lässt, sondern er wird in der Gefangenschaft eben auch zum Mörder. Zwar handelt es sich dabei um ein Ehrenduell, doch nichtsdestotrotz bringt St. Ives seinen Widersacher um. Und auch den Hirten im schottischen Hochland, der sich ihm und seinen Fluchthelfern entgegenstellt, verwundet der Flüchtige so schwer, daß er zunächst davon ausgehen muß, auch diesen vom Leben zum Tode befördert zu haben. Ganz so einfach, ganz so leicht, wie ST. IVES oberflächlich betrachtet daherkommt, ist der Roman dann doch nicht gestrickt. Stevenson geht mit den Wechselfällen des Lebens und seinen moralischen Fallstricken lediglich anders um, als in früheren Werken. Als wolle er sich nicht allzu sehr mit ihnen belasten, lösen sich die meisten Widersprüche auf und St. Ives kann seinem Selbstbild eines Gentleman und Dandys weiterhin treu bleiben.

Mehr als die Fragen nach moralischer Ambivalenz, die in Werken wie THE MASTER OF BALLANTRAE (1889) oder THE WRECKER (1892) und natürlich explizit in STRANGE CASE OF DR. JEKYLL AND MR. HYDE (1886) einen solch breiten Raum einnahmen, scheint es dem Autor hier daran gelegen gewesen zu sein, einen leicht satirischen Blick auf seine Landsleute und die Heimat zu werfen. Indem er seinen Ich-Erzähler Franzose sein lässt, kann er einerseits einen Haufen typischer Vorurteile und Klischees über England und Schottland, die Engländer und Schotten und deren spezifischen Eigenarten und Lebensweisen in seinen Text einarbeiten, manchmal genüsslich bestätigen, dann aber auch als völlig irrelevant entlarven, zugleich – St. Ives ist ein äußerst ehrlicher Chronist – läßt er aber auch die herrschenden Klischees über die Franzosen in seinen Roman einfließen. So möchte St. Ives grundlegend als Gentleman reisen, sucht Parfum, wo keines zu haben ist und mokiert sich nur allzu gern über britische Essgewohnheiten, die natürlich diametral zur berühmten französischen Küche stehen. Der Roman ist voller kleiner Anspielungen, auch auf tagespolitisches Geschehen und historische Ereignisse, über die dankenswerter Weise ein ausführlicher Anhang den weniger bewanderten Leser der neuen Ausgabe informiert und aufklärt. So wirkt er lebensnah und lebensecht und zugleich ironisch distanziert und lebensklug.

Die Geschichte verläuft im Grunde in mehreren weiten konzentrischen Kreisen, die St. Ives immer wieder an den Ausgansgort seiner Flucht und der Begegnung mit der wundervollen Flora zurückbringen. Episodisch erzählt, bieten diese Bewegungen Stevenson die Möglichkeit, allerhand regionale und landestypische Eigenarten vorzuführen und zu beschreiben, sich schreibend ihrer zu entsinnen, solte man wohl eher sagen, denn das Buch wirkt durchaus wie die Erinnerungsarbeit eines Mannes, der weiß, daß er die Heimat nicht wiedersehen wird. So lässt der Autor einen Reigen von Figuren und Charakteren auftreten, die St. Ives manchmal nur kurz, einmalig begegnen, manchmal länger begleiten und derer einige die Handlung vorantreiben und zu späteren Zeitpunkten wieder auftauchen und wichtige Funktionen einnehmen. Diese Typen würden zum Teil einem Dickens zur Ehre gereichen, mit soviel liebevollem Witz, mit so viel Eigenart und Charakter sind sie ausgestattet und damit überzeugend gezeichnet.

Da wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun haben, der sich eines ausgesprochen flotten Tons befleißigt, besteht am letztendlich guten Ausgang der Geschichte nie ein wirklicher Zweifel, was uns und den Autor das Augenmerk auf Nebensächlichkeiten lenken lässt. Die Story hat zwar Tempo und Dynamik, auch ein gewisses Action-Potential ist ihr nicht abzusprechen, doch ist ihr Verlauf im Grunde unwichtig. Wichtig sind eben die Nebensächlichkeiten und die ungeheure Formulier- und Fabulierlust, die Stevenson seinem Erzähler angedeihen lässt. Obwohl vielleicht für heutige Lesegewohnheiten ein wenig zu lang bei zu wenig Inhalt, macht die Lektüre ungeheuren Spaß, ist es ein reines Vergnügen, St. Ives bei seinen Schilderungen und Abschweifungen zu folgen.

Und es bleibt zu sagen, daß auch die letzten sechs Kapitel, die der Autor selber nicht mehr verfassen konnte, sich in Sprachduktus und Erzählstil dem Stevenson´schen Oeuvre anpassen. Quiller-Couch hat seinen Auftrag nahezu meisterhaft erfüllt, auch diesen letzten, immerhin noch fast Einhundert Seiten, folgt man gern und aufmerksam.

ST. IVES verdient es, einem breiteren Publikum vorgestellt zu werden, es reiht sich mustergültig in die Reihe von Stevensons späten, von vielen Kritikern gern als seine reifer betrachteten Werke ein und führt in gewisser Weise noch einmal zusammen und vor, was diesen Autor so außergewöhnlich machte. Ob er, wie Nohl im Nachwort schreibt, nie so bei sich war, wie hier, allein, weil er seiner Heimat eine Reminiszenz erweist, sei einmal dahingestellt, es bedarf solcher Einordung auch gar nicht. Ganz sicher aber muß es dem Autor große Freude bereitet haben, schreibend, sinnierend und fabulierend noch einmal die Wege seiner Heimatstadt gegangen zu sein, die Ausblicke seiner Kindheit und Jugend genossen zu haben und sich – im Geiste – die Meeresbrise, den der strenge Wind vom Firth of Forth mit sich trägt, in der Nase, im Haar und auf der Haut gespürt zu haben.

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