TOMÁS NEVINSON

Javier Marías hinterlässt ein großartiges Vermächtnis in Form dieses letzten Romans

Dass die Fiktion uns die Wirklichkeit oftmals weitaus besser nahebringt, uns Wahreres zu erzählen hat als jede noch so akkurate Dokumentation, jedes Sachbuch, jede Geschichtsstunde – diese Weisheit haben uns in den vergangenen sechzig Jahren verschiedene und ganz unterschiedliche Künstler, Autoren, Maler, Filmschaffende, versucht zu vermitteln. Die Wissenschaft selbst – vor allem die Philosophen, die sich da schon lieber ‚Theoretiker‘ nannten, und auch einige Historiker – war schließlich versucht, sich fiktional zu begreifen, ist doch jeder Bericht über die Vergangenheit immer auch eine Narration, eine Anordnung zwar akribisch zusammengetragener Fakten, die aber immer dem Gestaltungswillen desjenigen unterliegen, der sie einordnet, klassifiziert, in Kapitel und Unterkapitel und überhaupt in eine chronologische, lineare Erzählung fügt, obwohl die berichteten Geschehnisse zumeist doch gleichzeitig oder nur leicht zeitversetzt zueinander stattgefunden haben.

Aufgrund solcher Überlegungen kann man argumentieren, dass die Wirklichkeit dort am deutlichsten mit der Fiktion zur Deckung kommt, wo von allem Anfang an die Mimikry herrscht, das Narrativ, die Fiktion. Und wo wäre dies eher der Fall als dort, wo die geheimen Dienste agieren? Da, wo erfundene Lebensläufe und gefälschte Biographien, wo Verkleidung, Verstellung, wo Täuschung und Verrat selbstverständliche Instrumente, anerkannte Werkzeuge der Agierenden, der Agenten, sind? Und welche Gattung der Literatur könnte also Wahreres berichten, als der Spionageroman? Und in welcher Gattung wäre es also sinnvoller und geeigneter, nach der Wirkmacht, aber auch der inneren Grammatik der Profession des Geschichtenerzählers zu suchen, als in eben dieser Gattung?

All diese Fragen mögen Javier Marías dazu veranlasst haben, sich in den letzten Romanen, die zu schreiben ihm vergönnt gewesen sind, eben diesem Metier – dem Agentenroman, von einem „Thriller“ zu sprechen ginge zu weit und führte auch auf falsche Fährten – zuzuwenden. 2017 erschien (im Original; Dt. 2019) BERTA ISLA. Ein Roman, der sich derer annahm, die zurückbleiben, wenn ein Mensch – ein Mann – auszieht, einer unbekannten Macht zu dienen, einer geheimen Macht. Die titelgebende Figur war eine Frau, die Jahre, Jahrzehnte gar auf eben diesen Mann wartete, der ein geheimes Leben führte. Der Nachfolger ist nun TOMÁS NEVINSON (Original 2021; Dt. 2022). Der war der große Abwesende des Vorgängerbandes, nun wendet sich Marías seinem Leben zu, wie es sich gestaltet, nachdem er zum Ende des vorherigen Romans zu Berta und den gemeinsamen Kindern, Teenager mittlerweile, zurückgekehrt war. Noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, fristet er nun ein eher belangloses Leben als Angestellter der britischen Botschaft in Madrid. Als sein ehemaliger Vorgesetzter ihn kontaktiert – Nevinson wurde seinerzeit durch eine Falle in den Dienst der britischen Geheimmächte gepresst – folgt er dessen Aufforderung sich zu treffen zunächst nur halbherzig, muss aber bald erkennen, dass er die Arbeit, die er einst verrichtete, ihm doch auch fehlt. Einmal drin, kommt man nicht mehr raus, kann man sich nicht entziehen. So willigt er ein, einen letzten Job zu übernehmen: Er zieht für eine Weile in eine „Stadt im Nordwesten“ Spaniens, wo er sich drei Frauen annähern soll, von denen eine für zwei fürchterliche Attentate der ETA Ende der 80er Jahre verantwortlich sein soll und möglicherwiese als Schläferin erneut tätig werden könnte. Da es zwischen ETA und IRA enge Kontakte gebe, die Frau wahrscheinlich sogar gebürtige Nordirin sei, sei gerade ein Mann wie Nevinson – dessen Spezialgebiet Sprachen, Dialekte, regionale Idiome sind – geeignet für diesen Job. Er soll die Frau identifizieren, genügend Beweise sammeln, um sie vor Gericht bringen und auch verurteilen zu können, sollte letzteres nicht gelingen, soll er die von ihm Identifizierte „aus dem Spiel nehmen“, sprich töten.

Das ist die Ausgangssituation für Marías. Doch der wäre nicht einer der größten zeitgenössischen Schriftsteller gewesen, wenn er einen solchen Stoff nicht auf seine ganz eigene Art und Weise behandeln und bearbeiten würde. Und so wird der geneigte Marías-Leser nicht nur mit einer für den Autor typischen Eröffnungsszene – der nahezu 140seitigen Begegnung zwischen Nevinson und seinem Führungsoffizier Bertram Tupra; ein Feuerwerk an Sprachwitz, Bildung und Bösartigkeit, wenn die beiden Männer einander belauern, aufs Glatteis zu locken, einander mit Literaturzitaten, vornehmlich Shakespeare, auszustechen versuchen und der eine dem andern einen Job schmackhaft machen will, der an Perfidie kaum zu überbieten ist – belohnt, sondern auch mit endlosen Reflektionen über den Tod, das Töten, das Morden, mit mal philosophischen, mal eher banalen Betrachtungen zum Wesen der menschlichen Beziehung zu- und untereinander, mit Meditationen zu Einsamkeit und Geselligkeit, der Frage nach dem richtigen Leben im falschen und umgekehrt, immer wiederkehrenden Überlegungen über das Wirken der Geheimdienste und ein vertanes Leben in deren Fron und mindestens einer brillanten Szene, in welcher Marías uns nahezu alles über das Wirken und Werken eines professionellen Schriftstellers mitteilt. Und das Werden, das Entstehen von Literatur.

Nevinson, der in der Kleinstadt als Lehrer an einer Schule arbeitet, da eine der Kolleginnen als Verdächtige gilt, gibt gegenüber dem lokalen Radiomoderator zu erkennen, dass er eigentlich einen Kleinstadtroman zu schreiben beabsichtige. Tatsächlich bringt er den eitlen Partylöwen dazu, ihm allerhand Klatsch und Tratsch über nahezu jeden in der Stadt zu erzählen, der oder die in der Stadt etwas zu sagen hat. So kann er Erkundungen über die Damen einziehen, die er beobachten soll. Der Mann besteht allerdings darauf, selbst Teil des Romans zu werden, ja, selbst die Situation, in der er mit Nevinson spricht, soll eine Szene des entstehenden Romans sein – was sie in dem Moment, in dem der Leser sie liest, ja auch ist. Dieses Spiel mit den Ebenen und Metaebenen des Schreibens und Rezipierens macht Marías sichtlich Spaß. Dass dabei kein ernstzunehmender Spionageroman entstanden ist, versteht sich fast von selbst. Hier erlaubt sich ein Meisterautor alle Freiheiten, die er braucht, um eine tiefgreifende – seine tiefgreifende – Aussage über die Conditio humana zu treffen. Die Conditio humana im Angesicht des Todes, des eigenen (sollte Marías geahnt haben, dass dies sein letzter Roman wird? Sollte er eine Ahnung davon gehabt haben, dass er selbst Opfer jener Pandemie werden würde, die Europa jahrelang in Geiselhaft hielt?), mehr aber des Todes der anderen, eines Todes jedoch, den man selbst herbeiführen wird.

Tupra setzt Nevinson unter erheblichen Druck, als er ihm verdeutlicht, dass, sollte er nicht die gewünschten Ergebnisse liefern, alle drei Damen Opfer geheimdienstlicher Tätigkeiten werden. Und so muss der Titelheld, der kein Held sein will und auch keiner ist, Entscheidungen treffen und letztlich gegen die eigenen Überzeugungen handeln. Das ist spannend und Marías gelingt es, diese Spannung trotz seiner manchmal eher einem Zeitlupentempo ähnelnden Erzählweise aufrecht zu erhalten. Wenn Nevinson schließlich zur Tat schreitet, sich für eine der drei Damen entschieden hat – nicht zufällig wohl für jene, mit der er am intimsten wurde – und Vorbereitungen trifft, ihrem Leben ein Ende zu setzen, dann wirkt es, als habe zuvor nie ein Autor beschrieben, wie ein Mord begangen wird. Marías gelingt dieses Kunststück. Seine Schilderungen jener Nacht, in der Tomás Nevinson ernst macht, sind atemberaubend und sie sind atemberaubend schrecklich. Lange hat Literatur, zumindest bei diesem Rezipienten, nicht derart tiefgreifende Gefühle ausgelöst. Gefühle von Ekel und Entrüstung, von Empörung und Bedauern – und von uneingeschränkter Bewunderung dafür, was Literatur kann, was sie auszulösen in der Lage ist, wie sie funktioniert und welche Macht sie entfaltet, wenn man sich auf ihre Wirkung einlässt.

So ist hier letztlich einfach ein grandioser Roman über nichts anderes als Literatur und ihre Wirkung, ihr Werden, ihre Macht entstanden. Es ist ein gebildeter Roman, ein unterhaltsamer Roman, ein tiefsinniger Roman, ein witziger Roman und ein tieftrauriger Roman. Es ist der Roman eines großen Könners, der sich hier aufgeschwungen hat – im Nachhinein lässt sich so einfach sagen: Ein letztes Mal aufgeschwungen hat – um der Weltliteratur ein großes Geschenk zu machen. Ein Geschenk, in dem sie sich selbst erkennen, spiegeln, reflektieren und letztlich auch bewundern kann. Mit den letzten Lesern wird die Kunst des Romans, der fiktiven Wirklichkeit, die so viel mehr zu vermitteln versteht als jede Dokumentation, jedes Sachbuch, verschwinden. Die Kunst des Lesens wird verschwinden – oder ein geheimes Leben führen, im Verborgenen, nur noch verbreitet unter den letzten Liebhabern – denn es wird kaum mehr jemanden geben, der die Feinheiten begreift und auch die Grobheiten versteht, die sich die Literatur manchmal herausnehmen muss. Es wird aber immer noch Regale geben voller Bücher wie diesem. Die sind ein guter Schlussstein – und ein hervorragender Anfang.

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