ÜBER MENSCHEN

Juli Zeh kehrt in die ostdeutsche Provinz zurück und fragt sich, wie man dort mit unliebsamen Nachbarn umgehen soll

Von interessierter Seite gibt es ja seit einiger Zeit den Versuch, links und rechts gleichzusetzen, wenn nicht gar auszutauschen. Entweder es wird darauf verwiesen, daß die Nationalsozialisten eben Sozialisten gewesen seien (ein Euphemismus, ähnlich dem „Demokratisch“ im Namen der ehemaligen DDR), oder aber es wird argumentiert (eher konstruiert), die Angriffe auf die Demokratie von links oder rechts seien gleichzusetzen. Der jüngste Roman der Bestsellerautorin Juli Zeh, ÜBER MENSCHEN (2021), könnte in Gänze durchaus dazu dienen, einen Fundamentunterschied zwischen rechts und links herauszuarbeiten. Denn Linke – zumindest jenes Spektrum, das sich nicht militant gibt – neigen grundsätzlich eher dazu, den eigenen Standpunkt, also sich, zu hinterfragen. Das hat in der Geschichte der Linken immer wieder zu Verwerfungen und Spaltungen geführt. Da wurden jene aus den eigenen Reihen, die man bspw. als zu gemäßigt ansah, eher bekämpft als der politische Gegner. Und manchmal wurde der sogar völlig aus den Augen verloren.

ÜBER MENSCHEN erzählt von einer jungen, urban geprägten Frau namens Dora, die während des Corona-Lockdowns ins Berliner Umland zieht, dort ein Haus erwirbt und ihr stressiges Leben zwischen halbgarer Beziehung, Job als Werbetexterin und der Suche nach dem, wonach die modernen Städter ja angeblich alle suchen – Glück, Optimierung, effektiver Effizienz – hinter sich lässt. Zunächst eher auf Probe, wagt sie den Versuch, in der Provinz Entschleunigung und das „wahre“ Leben in Form von Eigenanbau der Kartoffeln, abendlichen Spaziergängen mit ihrem Hund und den Frieden sommerlicher Felder zu finden. Doch wie es das Schicksal so will – es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn der böse Nachbar es nicht will. Und der ist, man ahnt es gleich, ein Nazi. Grote, so sein Name, ist unfreundlich, obwohl er sich offenbar bemüht, der neu Zugezogenen beim Start zu helfen, indem er immer wieder in ihr Haus eindringt und ihr ungefragt Möbel und Pflanzen hinstellt, er ist ein Proll, der nachts mit Kumpels am Lagerfeuer das Horst-Wessel-Lied singt, auf Ausländer schimpft und auch schon mal das ebenfalls im Dorf lebende Schwulenpärchen anpöbelt. Zudem hat er, wie Dora bald herausfindet, wegen eines Überfalls mit schwerer Körperverletzung eine Zeit lang im Knast gesessen. Allerdings – und nun wird’s emotional kompliziert – wohnt seine zehnjährige Tochter Corona-bedingt bei ihm. Und obwohl er seinen Vaterpflichten nicht gerade gerecht wird, liebt die kleine Franzi ihn und findet er immer wieder – trotz aller Alkoholexzesse, unsympathischer Eigenschaften und ebenso unsympathischen Freunden – Zugang zu der Kleinen.

Aus dieser Konstellation also müht Juli Zeh sich nun, ein Extrakt gegenwärtiger gesellschaftlicher Sollbruchstellen zu filtern. Sie fragt sich, wie umgehen mit diesen Gräben und Rissen in der Gesellschaft? Zumal unter den erschwerten Bedingungen einer Pandemie. Zeh, die selbst seit einigen Jahren in einem Dorf in Brandenburg lebt, mit dem Millionenseller UNTERLEUTEN (2016) wohl auch eigene Erfahrungen mit dem Zusammenprall von Stadt und Land, West und Ost und auch der Generationen verarbeitete, hat den Lockdown genutzt, um sich eines Themas anzunehmen, das sie wohl umtreibt, welches sie allerdings – ein sehr geschickter Schachzug – im früheren Roman ausgespart hatte. Denn in UNTERLEUTEN gab es keine Nazis, weder im Roman, noch im titelgebenden Dorf. Vielleicht wäre das zu viel gewesen in jenem Buch, vor allem aber konnte man der Autorin hoch anrechnen, daß sie die Konflikte, die sie beschrieb, eben nicht auf dieses Thema runterbrach, das so oder so alle anderen überstrahlt hätte. Womit sie ihre Geschichte zugleich der Gefahr entzog, als reine Ost-West-Konfrontation gelesen zu werden.

ÜBER MENSCHEN ist da deutlich weiter. Denn dieser Konflikt spielt in den beschriebenen Auseinandersetzungen keine Rolle mehr. Dora ist ein Kind der westdeutschen Provinz, Tochter eines wohlhabenden Arztes, doch sind Herkunft und sozialer Background für die geschilderten Ereignisse nicht wesentlich. Bestenfalls markieren sie, ohne daß der Text allzu sehr mit Erklärungen aufgebläht wird, eine gewisse Distanz der Zugezogenen zu den Einheimischen So kann die Autorin sich ganz auf die Frage konzentrieren, wie man damit umgeht, wenn im Garten hinter der Mauer einer haust, dessen Ansichten man ablehnt, dessen Weltbild man gar verabscheut, der sich aber im alltäglichen Umgang als zwar grummeliger, manchmal unmöglicher Mensch, aber eben auch als hilfsbereit und aufmerksam entpuppt.

ÜBER MENSCHEN ist, man muß das wohl so sagen, ein Schnellschuß. Wie auch anders, bedenkt man, wann der Roman erschienen ist (Frühjahr 2021), wann er spielt, welche immer noch gültigen Corona-Regeln er aufgreift und wie er immer noch aktuelle Diskussionen um das Für und Wider dieser Maßnahmen spiegelt. Allerdings spielen die dann im Fortgang der Geschichte kaum mehr eine Rolle. Die Pandemie wird hier eher zu einem Auslöser dafür, daß sich Dora aus der Beziehung zu einem dem Klischee des großstädtischen Hipsters entsprechenden Kerl lösen kann, der sich zum Corona-Nerd entwickelt und seiner Freundin schließlich sogar das Gassigehen mit der Hundedame Jochen-der-Rochen verbieten will. Es ist Zeh aber sichtlich auch nicht darum gegangen, über die Pandemie und die Folgen zu schreiben. Die dahingehenden Gedanken werden eher pflichtschuldigst abgehandelt. Vielmehr geht es eben um die viel grundlegendere Frage – die freilich in den Auseinandersetzungen um die Corona-Regeln erneut aufbrechen und enorme Tragweite erhalten – wie wir noch miteinander umgehen wollen, noch miteinander reden, wie wir uns verstehen wollen, wenn wir einander immer unversöhnlicher gegenübertreten, einander keinen Glauben mehr schenken und eigentlich immer schon im Voraus wissen, was der andere meint, sagt oder denkt. Und wir zudem immer schon wissen, was wir davon halten, was der andere meint, sagt und denkt. Nämlich nichts.

Das sind wichtige Fragen, Fragen die durchaus das Potential haben, eine Gesellschaft, ihren Diskurs, zu sprengen. Es sind aber vielleicht nicht unbedingt Fragen, die man in einem Roman verarbeiten sollte, zumindest in keinem, der, schnell geschrieben, in Manchem gar ein wenig hingefudelt wirkt. Juli Zeh ist eine gute Schriftstellerin, ohne Frage. Sie ist sicher keine Nobelpreisanwärterin, ihr literarisches Schaffen wird wohl eher wegen der Geschichten, die sie erzählt, wegen der Themen und Fragen, die es aufwirft, in Erinnerung bleiben, denn wegen ihres sprachlichen, rein literarischen, Vermögens. Sie schreibt meist konventionell, vergleichsweise einfach und klar an Story und Plot entlang. Sie sagt, sie sei Unterhaltungsschriftstellerin, was diese Herangehensweise an ihre Sujets durchaus erklärt. Juli Zeh ist, nimmt man ihren Beitritt in die SPD als Maßstab, als Person eher im links-liberalen Spektrum zu verorten. So hat sich Zeh immer wieder als öffentliche Person positioniert, allerdings kam diese Haltung in ihrem Prosawerk bisher nicht so deutlich zum Ausdruck. Und wie „links“ die SPD nach der Agenda 2010 und dem damit einhergehenden Hartz-IV-Konzept noch ist, sei einmal dahingestellt.

Damit wäre man nun wieder am Anfang dieses Textes: Zeh hinterfragt hier offensichtlich höchst eigene Positionen hinsichtlich der neuen Sprachlosigkeit über gesellschaftliche Gräben hinweg. Sie stellt sich und ihre eigenen Überzeugungen in Frage, sucht nach einem Ausweg aus dieser Sprachlosigkeit, aus Hass und Hetze, vorgefertigten Meinungen, und findet ihn, vereinfacht gesagt, schließlich darin, es schlicht besser zu machen als die anderen. Menschlichkeit und Humanismus als ein absolutes Gegenmodell zu jedweder Verdammung, jedwedem Hass, ohne Ansicht der Person und ihrer Überzeugungen. Damit einher geht eine tiefe Erkenntnis des reinen Seins, des Da-Seins. Das Begreifen der Natur, vielleicht der Schöpfung, als das Allumfassende, das uns umgibt, das uns aber eben auch hält. Und Sinn einschreibt.

Das klingt natürlich erstmal großartig. Ist es auch, als Idee. Bleibt eben die Frage, wie man solche Erkenntnis in Romanform gießt. Kann man das anhand einer Alltagsgeschichte? Und welche Figuren braucht es, um zu verdeutlichen, was man sagen will, worum es geht? Zeh scheint nach ihrem absoluten Antipoden, dem Antagonisten schlechthin, gesucht zu haben. Und das ist, siehe da, ein Nazi. Ein richtig übler Nazi. Einer, wie er im Bilderbuch steht. Oder vielleicht nicht im Bilderbuch, jedoch einer, wie er in zahlreichen Dokumentationen, Dossiers und Gerichtsunterlagen zu finden und beschrieben ist. Und der sich dann doch als menschliches Wesen mit allen Vor- und Nachteilen entpuppt, die menschliche Wesen so an sich haben. Er kann nett, ändert dadurch aber noch lange nicht seine politische Haltung (wenn es denn wirklich eine solche ist). Und dann entpuppt er sich auch noch als zwar oft hilfloser, überforderter, aber eben doch auch als liebender Vater. Und dann umweht ihn, passend, eine gewisse Tragik hinter seiner Sprachlosigkeit. Zeigt seiner neuen Bekannten die Reste des Hofs, auf dem er einst aufwuchs. Verlustgeschichten. Dann wird er krank. Sterbenskrank. Und außer Dora (Juli Zeh?) steht ihm niemand bei.

Es ist ein Drama. Nein, es ist ein Melodram. Im besten wie schlechtesten Sinne, den der Gattungsbegriff bereithält. Überlebensgroß, eben tragisch, trotz der scheinbaren Alltäglichkeit ostdeutschen Provinzlebens, bar eines Happyends, voller Gefühl in dem etwas zu leicht zu durchschauenden Versuch, den Leser – eher jenem Milieu zuzuordnen, dem auch Zeh selbst entstammt – dahingehend zu manipulieren, wie Dora das eine oder andere Tränchen hinsichtlich dieses grausigen Schicksals zu verdrücken. Woraufhin er, der Leser, sich natürlich fragen muß, wie kann das sein? Um Nazis weinen! Womit aus Juli Zehs Perspektive wahrscheinlich schon viel gewonnen wäre.

Den Menschen hinter dem Bild erkennen, ganz gleich, was er auch von sich geben mag, zu welchen Taten er fähig ist oder war: Es ist und bleibt ein Mensch. Was ja auch stimmt. Nur ist das für einen Roman dann vielleicht doch eine etwas dürftige Erkenntnis. Zumal für einen Roman, der seiner Leserschaft fast durchgängig Klischees bietet. Die Figuren sind eben solche, wie es auch die ganze Situation ist, die Zeh schildert. Dabei hat es hier immer wieder spannende Ansätze, da werden allemal Stränge angelegt, die man gern weiter verfolgen würde. Wer ist der seltsame Kerl von gegenüber, der sich ebenfalls immer mal wieder ungefragt Hilfe anbietend in Doras neues Heim drängt? Was für ein Typ ist der Obernazi, der da in Gotes Garten hockt und ansonsten auf Youtube völkisches Gedankengut verbreitet? Und wie geht es weiter mit Sadie, die sich als alleinerziehende Mutter zweier Kinder in Nachschichten aufreibt, um 4 in der Früh heimkommt, zwei Stunden auf der Couch pennt, um dann die Kinder wieder zur Schule zu bringen? Juli Zeh greift allerhand mittlerweile selbst schon zu Klischees geronnene, dennoch wahre Gegebenheiten auf, die so typisch sind für die Wut der rückständigen Regionen: Die fehlende Infrastruktur, der mangelnde ÖPNV, die schlechte bis nicht vorhandene ärztliche Versorgung etc. Und doch ist all das hier letztlich nur Kulisse, Hintergrund, um diese Geschichte zu bebildern und auszuschmücken.

Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, der Frage, wie Liberale, vermeintlich Linke, wie Demokraten mit der Sprachlosigkeit, dem Unmut über die Verhältnisse im Land und in der Gesellschaft umgehen, in einem Langessay nachzugehen und, wenn man sie in einen Roman verpacken will, etwas mehr Zeit und Genauigkeit auf Figuren und die zu erzählende Geschichte zu verwenden. So bleibt ein Roman, der literarisch deutlich abfällt gegenüber früheren Werken und nicht überzeugen kann, weil der geneigte Leser sich ununterbrochen von diesen Figuren, die letztlich Abziehbilder sind, zu distanzieren versteht. Zu einfach sind die Lösungsangebote, ein wenig zu schlicht die Erkenntnisse, die Dora Frieden mit ihrer und der Gesamtsituation allgemein finden lässt.

Am 17. Juli 2021 brachte die Sueddeutsche Zeitung in ihrer Wochenendrubrik Buch Zwei ein Dossier über elf Fälle höchst interessanter Gerichtsurteile, in denen offensichtlich rechtsideologisch motivierter Straftäter mit recht milden Urteilen davonkamen. Anlaß für diesen Beitrag war das Urteil zu einem Überfall auf eine Kirmesgesellschaft in Ballstädt im Jahr 2014. Obwohl offensichtlich ein politisch motivierter Hintergrund vorlag (oder vielleicht genau deshalb?), wurde der Prozess nahezu sieben Jahre verschleppt und den mutmaßlichen Tätern wurden schließlich Deals angeboten: Bewährungsstrafen gegen Geständnisse. In ihrer Urteilsbegründung konnte (oder wollte) die Richterin u.a. keine eindeutig politische Motivation erkennen. Einige der Opfer wollten vor Gericht nicht mehr aussagen, zu lang sei das alles her. Zu groß war aber offensichtlich auch die Herausforderung, die Angst, sich dem feixenden Mob noch einmal zu stellen. Es mag also sein, daß hinter all den Tätern traurige Geschichten und Härtefälle stecken. Sie alle sind definitiv Menschen. Aber ihr Wirken in der Wirklichkeit hinterlässt Schmerz, Angst und ohnmächtige Wut. Selbst wenn sie alle nette Kerle sind.

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