600 MEILEN/600 MILES

Gabriel Ripstein bietet eine kalte und distanzierte Analyse der mexikanischen Gegenwartsgesellschaft

Arnulfo Rubio (Kristyan Ferrer), ein mexikanischer Teenager, und Carson (Harrison Thomas), ein junger Amerikaner, haben ein veritables Geschäft aufgezogen: Carson erwirbt in den grenznahen Städtchen entlang der mexikanisch-amerikanischen Demarkationslinie legal Waffen in den zahlreichen Geschäften, die diese gerade in Texas anbieten, Arnulfo schmuggelt sie für ein Kartell, in dessen Diensten auch sein Onkel steht, nach Mexiko.

Eines Tages mischt sich der Agent der ATF (Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives) Hank Harris (Tim Roth) während eines der Käufe ein und will Arnulfo stellen. Carson kommt hinzu und schlägt den überraschten Harris nieder. Dann macht er sich wortlos aus dem Staub.

Arnulfo, verwirrt und auch verängstigt, packt den bewusstlosen Agenten panisch in den SUV und flieht mit ihm über die Grenze gen Mexiko.

Zunächst gibt es nur wenig Kommunikation zwischen den beiden. Langsam nähern sie sich aber an, sowohl Harris als auch Arnulfo werden offener. Irgendwann erzählt Harris, dass seine Frau einige Monate zuvor gestorben sei, sie hätten leider nie Kinder bekommen, nun sei es zu spät. Arnulfo zeigt Mitgefühl und weist darauf hin, wie wichtig Kinder, gerade männliche, und die Familie in Mexiko seien.

Die beiden geraten in eine Straßensperre eines konkurrierenden Kartells. Arnulfo hat Angst, dass er erkannt wird und die Männer ihn töten, ein Exempel an ihm und seinem Gefangenen statuieren. Doch erstaunlicherweise kann Hank die Fremden überzeugen, dass er mit ihren Chefs Geschäfte macht. Dabei erwähnt er verschiedene Namen, von denen Arnulfo weiß, dass sein Onkel mit ihnen verfeindet ist. In Arnulfo wächst der Verdacht, dass es sich bei Hank doch um einen korrupten Agenten der DEA (Drug Enforcement Administration) handelt.

Nach einem Zwischenstopp bei seiner Familie, fahren Arnulfo und Hank weiter gen Süden.

Als sie zu Arnulfos Onkel kommen, reagiert dieser vollkommen anders, als der Junge es erwartet hatte. Anstatt ihn zu loben und sich zu freuen, aus einem amerikanischen Agenten Informationen herauspressen zu können, ist der Onkel sauer.

Arnulfo habe nicht nur dafür gesorgt, dass die Amerikaner auf die Machenschaften des Kartells aufmerksam wurden, sondern er hat auch zu Ärger unter den Kartellen beigetragen. Nun fordert der Onkel, dass Arnulfo Hank erschießt und die Leiche anschließend verschwinden lässt. Als Arnulfo nicht auf Hank schießen will, wendet sich der Onkel selbst dem gefesselten Agenten zu, um ihn zu erschießen. Doch bevor es dazu kam, tötet Arnulfo seinen Onkel.

Hank und der Junge fliehen. Nun fahren sie wieder nordwärts. Unterwegs nimmt Hank Kontakt zu seiner Behörde in den USA auf und will mit ihnen einen sicheren Übergang in die Vereinigten Staaten aushandeln. Ein weiterer Onkel des Jungen bietet ihnen ein sicheres Versteck, wo Hanks Leute die beiden abholen können.

Doch der Onkel hat das Kartell informiert und deren Männer dringen in das Haus ein. Es gelingt Hank, aus dem Haus zu fliehen, wobei er den Onkel tötet. Doch können die restlichen Männer Arnulfo zu fassen bekommen. Der soll nun sterben, doch Hank kehrt zurück, tötet alle Angehörigen des Kartells und flieht mit Arnulfo in dessen Wagen in die Wüste.

Der Junge ist auf der Rückbank des SUV eingeschlafen. Mitten in der Wüste zwischen Mexiko und den USA hält Hank an, weckt Arnulfo und fordert ihn auf auszusteigen. Dann startet er den Wagen und lässt den verstörten Jungen in der Einöde zurück.

Während der Abspann läuft sehen wir Hank zurück in seinem Haus, wo seine Frau ihm Gesellschaft leistet, während er frühstückt und sich auf einen neuen Arbeitstag im Büro vorbereitet…

Das vielleicht Bemerkenswerteste an Gabriel Ripsteins Kriminaldrama 600 MILES (2015) sind sicherlich die jugendlichen Darsteller. In den ersten fünfzehn Minuten des Films werden uns zwei Jungs vorgeführt – der Mexikaner Arnulfo Rubio und der Amerikaner Carson – , die gemeinsam Waffen aus den USA, wo sie sie legal erwerben, nach Mexiko schmuggeln, wo Arnulfo sie an seinen Onkel, ein Bandenboss der Narcos, verkauft. Gespielt werden die beiden von Kristiyan Ferrer (Arnulfo) und Harrison Thomas (Carson) – und sie bewegen sich derart natürlich vor der Kamera, dass der Zuschauer lange nicht weiß, ob er hier einen Spielfilm betrachtet oder aber einer Dokumentation ansichtig wird. Selbstverständlich ist dieses kleine Wunder auch Ripsteins Inszenierung zu verdanken. Dass wir es tatsächlich mit einem Spielfilm inklusive einer Handlung zu tun haben, wird mit letzter Sicherheit erst deutlich, als Tim Roth, der den Film auch mit produzierte, auftritt und so etwas wie eine Story in Gang kommt.

Doch gelingt dem Regisseur und seinen Hauptdarstellern zuvor wahrlich Erstaunliches. Denn ohne dies dezidiert zu betonen, bekommen wir die Charakteristik einer Freundschaft und die Psychogramme zweier Jungen vorgeführt. Ohne viel Dialog, wenn, dann sind es nichtssagende Fetzen von Alltagsgesprächen, lediglich durch Gesten, die Mimik der Jungs und ihre aufeinander bezogenen und sich manchmal verweigernden Handlungen, begreifen wir die Hierarchie zwischen den beiden, sind aber auch überrascht, wie schnell sich die Verhältnisse wandeln können. Unsicherheiten und Aufschneiderei, freundschaftliches Gebalge aber auch ehrlich empfundene Angst sind die natürlichen Begleiter der beiden und lange bleibt unklar, ob wir es bei ihnen mit Teenagern zu tun haben, die nicht wirklich wissen, was sie tun oder aber mit wirklich gewieften und abgebrühten Jungkriminellen, die keine Skrupel kennen. Ripstein bietet, bevor er mit dem Auftauchen des Agenten Hank Harris in die eigentliche Handlung einsteigt, ein sehr genaues Bild juvenilen Machotums und dessen Auswirkungen. Es ist, man kann es wirklich nicht oft genug betonen, außergewöhnlich, wie diese beiden jungen Darsteller dies zu vermitteln verstehen.

Ripstein, der selbst das Drehbuch verfasste und den mexikanischen Regisseur Michel Franco – was noch gesondert zu erwähnen sein wird – als ausführenden Produzenten gewinnen konnte, inszeniert ein Sozialdrama, das fast aus der Zeit gefallen wirkt, so ernst nimmt es sich seiner Problematik an. Das führt dazu, dass der Zuschauer einen Film sieht, der ihn frontal angeht, da er seine Thematik nicht hinter wohlfeilen Wendungen der Story oder hintersinnigen Plot-Strategien versteckt, auch nicht ablenkt durch filmtechnisch gewiefte Spielereien, sondern sie von der ersten Einstellung an offen zeigt und darlegt: Gewalt und wie sie eine Gesellschaft zersetzt, wie sie bereits aus den jüngsten ihrer Mitglieder knallharte Zyniker macht, die nur an persönlichem Gewinn interessiert sind und schnell ihre Menschlichkeit, bzw. menschliche Regungen wie Mitleid, verlieren oder ganz bewusst aufzugeben bereit sind. Arnulfo gelingt es mit Carlsons Hilfe, den ATF-Agenten (Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives) Hank Harris, von Roth gespielt, zu überwältigen. Der Junge verfrachtet seinen Gefangenen kurzerhand in seinem für einen so jungen Kerl viel zu großen SUV, Symbol der (zu) frühen Macht in seinem Leben, zugleich aber auch Zeichen der späteren Überforderung, wirkt er dich sehr verloren hinter dem Lenkrad, und bringt ihn die titelgebenden 600 Meilen zu seinem Onkel. Arnulfo nimmt an, dass sein Onkel ihm dankbar sein müsse, weil man den ATF-Mann foltern und so allerlei Wissenswertes aus ihm herauspressen könnte, doch es kommt anders: Der Onkel will seinen Neffen, den er für einen Dummkopf hält, zwingen, Harris zu töten. Es kommt in der Folge zu einigen ausgesprochen brutalen Zwischenfällen, bis Harris mit dem Jungen die Flucht gelingt.

Doch ist Ripstein definitiv nicht an der Darstellung von Gewalt oder gar einem Actionfilm gelegen. Er zeigt Gewalt, wo diese dramaturgisch notwendig ist, und wenn sie dann auf der Leinwand schier explodiert, wird sie dennoch distanziert inszeniert. Allerdings schockiert ihre Unmittelbarkeit. Action bietet 600 MILES im Grunde gar nicht. Nein, Ripstein ist vielmehr an der Konfrontation des Jungen mit dem älteren Agenten interessiert und daran, zu zeigen, dass die Gewalt, von der er erzählt, zumeist strukturell ist. So definiert sie – auch, wenn der Zuschauer dies erst am Ende des Films begreift – auch das Verhältnis der beiden. Es beginnt mit den schier endlosen – und zugegebenermaßen zu Beginn des Films in ihrer Wiederholung etwas eintönigen – Waffenkäufen, die nahezu alle an Originalschauplätzen in Texas gedreht wurden und einen guten Eindruck von einer Gesellschaft vermitteln, in der Waffen fetischisiert werden und nahezu immer und überall zugänglich sind. Gerade für europäische Betrachter, die mit der amerikanischen Waffenkultur weniger vertraut sind, dürften die Bilder der riesigen Waffenhandlungen, an deren Wänden vom Revolver bis zum Sturmgewehr nahezu alles zu bestaunen ist, was schießt, rumst und ballert, äußerst beeindruckend sein. Es setzt sich fort in Arnulfos schon routinierten Schmuggelfahrten und der Gewohnheit, mit der er, ein vielleicht maximal Fünfzehnjähriger, die Waffen dann in Mexiko an seine Mittelsmänner übergibt. Und es kulminiert allerspätestens in der Szene, in der der Onkel ihn zwingen will, sein Opfer – in einer Dusche an die Armaturen gefesselt und also vollkommen hilf- und wehrlos – zu erschießen. Womit Arnulfo natürlich auch in der Hand seines Onkels wäre, hätte dieser doch ein Druckmittel gegen ihn als Täter in der Hand. Gewalt ist nun plötzlich ein Mittel der Kommunikation, ein Initiationsritus, etwas Verbindendes.

Ripstein geht noch weiter, denn auch Hank Harris ist mit allen Wassern gewaschen. Er stellt den juvenilen Täter wie einen Schwerverbrecher und weiß später, wenn er gefesselt im Fond des SUV sitzt, alle möglichen Tricks anzuwenden, um Arnulfos Vertrauen zu gewinnen. So tischt er ihm eine lange und traurige Geschichte darüber auf, dass er und seine Frau keine Kinder haben konnten, was mittlerweile aber eh egal sei, da seine Frau sechs Monate zuvor an einem Schlaganfall gestorben sei. Eine Story, die sich dank des Abspanns des Films als völliger Humbug erweist, wenn wir sehen, wie Hank, wieder zuhause, an einem gewöhnlichen Morgen ein alltägliches Gespräch mit ihr führt, sie sich also als quicklebendig erweist. Arnulfo, der eben auch immer noch ein leicht zu beeindruckender Teenager ist, empfindet Mitgefühl für seinen Gefangenen, nicht zuletzt, weil er selbst als Mexikaner einer Kultur entstammt, in der die Familie, die Kinder – vor allem die männlichen – nahezu kultisch verehrt wird. Umso verstörender, wenn sein Onkel ohne jede Form des Mitgefühls verlangt, dass Arnulfo zum eiskalten Mörder wird. Dass Arnulfo dann recht einfach in der Lage scheint, den Onkel zu erschießen, führt den ganzen Kult um die Familie vollkommen ad absurdum. Es zeigt aber auch, wohin es führt, wenn Waffen immer vorhanden, eben alltäglich sind, und der Umgang mit ihnen schon etwas geradezu Spielerisches hat. Hank seinerseits beweist seine Kaltschnäuzigkeit, als er und Arnulfo im Haus eines weiteren Onkels des Jungen erneut in eine Falle gelockt werden sollen – Arnulfo gilt innerhalb seiner Familie und des Kartells mittlerweile als Aussätziger, weil er sein eigen´ Fleisch und Blut kaltblütig ermordet hat – und er, Hank, seine Widersacher problemlos und ebenfalls gnadenlos erschießt.

Doch Ripstein setzt dem ganzen die Krone auf, wenn er am Ende des Films, aber noch vor dem so entlarvenden Abspann, zeigt, wie Hank den auf der Rückbank schlafenden Arnulfo weckt und irgendwo im Niemandsland zwischen Mexiko und den USA aus dem Wagen wirft und den völlig verstörten Jungen einfach zurücklässt. Rache? Vielleicht. Eher aber der Wunsch, sich unangenehmen Bürokram vom Hals zu halten. Und sicher auch, sich vor etwaigen Vorgesetzten nicht für das rechtfertigen zu müssen, was ihm zugestoßen ist. Vor allem aber – und dazu trägt dann eben auch der Abspann bei, der uns zunächst die morgendliche Szene am Harris´schen Frühstückstisch zeigt, bevor die Leinwand schwarz wird und wir nur noch dem Dialog der beiden lauschen und vollkommenen Belanglosigkeiten zuhören – ist es eine eklatante Abneigung, Verantwortung zu übernehmen, die hier sichtbar wird. Für Hank Harris ist sein Job genau das – ein Job. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob der Job als Polizeiagent im Auftrag des ATF eben wirklich nur ein Job ist, ob ein solcher Job solch gnadenlose Menschen wie Harris hervorbringt oder ob es solche Menschen braucht, um solche Jobs zu erledigen. Antworten gibt Ripsteins Film darauf nicht.

Und genau das macht ihn nahezu unerträglich und lässt den Film mit den Werken seines Produzenten Michel Franco korrespondieren: 600 MILES analysiert. Wie in Francos Film NUEVO ORDEN (2020) führt auch Ripsteins Werk eine kühle Analyse der mexikanischen Gesellschaft und ihrer Dysfunktionalität vor und deckt ihre Schwächen, ihre strukturellen Brüche und die tiefsitzenden kulturellen Verwerfungen auf. Es ist ein kalter, distanzierter Film, der seinen Blick auf eine Wirklichkeit richtet, die sowohl in den USA, als auch in Mexiko längst völlig normal geworden ist. Gewalt beherrscht den Alltag nördlich wie südlich der Grenze, nur ist sie südlich davon vielleicht noch etwas virulenter, ganz sicherlich offener ein kommunikatives Mittel. Mögen sich all die Waffennarren in den USA irgendwie noch hinter Sportsgeist und ähnlich seltsamen Gedanken verstecken, um ihrer reinen Mordlust nicht ins Gesicht schauen zu müssen, sind die Menschen südlich der Grenze – gleich ob Narcos, Grenzbeamte, Polizisten oder „ganz normale Bürger“ – längst völlig mit dem Virus der Gewalt infiziert. Doch holen die Menschen nördlich der Grenze deutlich auf, wie die endlosen Schulmassaker, die Schießereien an Tankstellen, in Discos und sogar Kirchen jedweder Konfession deutlich zeigen. Dass Waffen im Norden derart leicht zugänglich sind, dass zwei Jugendliche daraus ein veritables Geschäft machen können, zeigt die strukturelle Verwandtschaft, ja geradezu dialektische Beziehung dieser beiden Länder nördlich und südlich des Rio Grande. Und ganz nebenbei führt Ripstein die Idee einer Mauer zwischen den USA und Mexiko, auch wenn der Film vor Donald Trumps Präsidentschaft entstand, die solche Einfälle mit sich brachte, ad absurdum. Aber das ist sicherlich nur ein Nebeneffekt. Die hier beschriebene und analysierte Problematik weist weit über Trump und seine seltsamen Ideen hinaus.

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