NEW ORDER – DIE NEUE WELTORDNUNG/NUEVO ORDEN
Michel Franco liefert eine extrem präzise und extrem düstere Studie zu den Revolutionsbestrebungen in seinem Heimatland Mexiko
Während in einem der besseren Stadtteile der mexikanischen Hauptstadt eine der führenden Familien des Landes die Hochzeit der Tochter vorbereitet, laufen in der Innenstadt Demonstrationen zusehends aus dem Ruder. Krankenhäuser werden gestürmt, die Polizei greift zu immer härteren Mitteln, um der Lage Herr zu werden, das Militär steht bereit, einzugreifen.
Dies ficht die Familie und ihre Gäste jedoch nicht an. Obwohl ein Paar auf dem Weg zur Feier angegriffen und das Auto mit grellgrüner Farbe beschmiert wurde, obwohl aus den Armaturen in der Küche des Hauses plötzlich ebenso grünes Wasser hervorgeschossen kommt und obwohl die Nachrichten aus der Stadt immer gefahrvoller anmuten, sind die Dame des Hauses und ihr Gatte damit beschäftigt, all die Würdenträger zu empfangen, die heute ihre Aufwartung machen. Darunter ist auch ein enger Freund des Hausherrn, der ein hohes Amt in einer der staatlichen Institutionen bekleidet. Als die Nachrichten aus der Innenstadt zunehmend bedrohlich klingen, ruft er seine Familie zusammen und verlässt die Feierlichkeiten.
Die Dame des Hauses hat andere Probleme: Neben den für eine Hochzeit typischen Kleinigkeiten – sind die Tische gedeckt, ist jeder Gast mit Getränken versorgt, wird die Standesbeamtin rechtzeitig zur Trauung erscheinen? – wird sie irgendwann vor die Tore des Anwesens gerufen. Dort erwartet sie ein alter Angestellter, der die Familie verließ, um ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Nun braucht er dringend Unterstützung, da aufgrund der Unruhen in der Stadt eine lebensnotwendige Operation bei seiner Frau, die einst ebenfalls für die Familie arbeitete und ein enges Verhältnis vor allem zur Tochter, der heutigen Braut, unterhielt, nicht durchgeführt werden kann. Er bittet um einen hohen Geldbetrag. Die Dame des Hauses bittet ihren Mann um etwas Geld, tut ein wenig eigenes hinzu und will den Mann vorm Tor damit vertrösten. Auch der Sohnemann, der Bruder der Braut, gibt ein paar Pesos, besteht dann aber darauf, daß der Alte das Grundstück nun zu verlassen habe. Lediglich die Braut selbst zeigt sich mitfühlend. Kurzentschlossen nimmt sie ihre Kreditkarte, setzt sich mit ihrem alten Freund ins Auto, um dessen Frau abzuholen, um sie in eine Privatklinik zu bringen und dort die Operation direkt und bar zu bezahlen.
Während der Abwesenheit der Braut wird das Anwesen von Revolutionären überfallen. Sie überklettern die Mauer und beginnen, politische Slogans an die Wände zu sprayen, während die Gäste zusammengetrieben, ausgeraubt und dann mit Kopfschüssen hingerichtet werden. Selbst die Hausangestellten scheinen an der Aktion beteiligt zu sein, haben sie den Aufständischen doch offenbar mitgeteilt, wann hier etwas zu holen ist, zudem haben sie die Türen zum Anwesen geöffnet. Lediglich die persönliche Bedienstete der Dame des Hauses beteiligt sich weder an den Plünderungen, noch an den Morden, im Gegenteil versucht sie, ihre Arbeitgeber zu schützen, was ihr nicht gelingt. Dafür muß sie sich allerdings die verächtlichen Sprüche der Revolutionäre anhören, die sie als Büttel der Mächtigen verhöhnen.
Die Lage in der Stadt wird immer unübersichtlicher, es bleibt unklar, wer die Macht hat und wer eigentlich genau gegen wen kämpft.
Für die Braut ist dies gleich, sie will ihr altes Kindermädchen retten. Doch geht die ganze Aktion schief. Die Braut wird von Angehörigen der Soldateska, die nun offensichtlich zumindest die Straßen beherrscht, festgenommen, ausgeraubt und dann in ein notdürftig eingerichtetes Gefangenlager verbracht.
Hier findet sie sich unter etlichen Jugendlichen, Söhnen und Töchtern der besseren Gesellschaft von Mexiko-Stadt wieder. Sie alle werden strengen Verhören unterzogen, bei denen zunächst der Eindruck entsteht, es mit sogenannten „Volksgerichten“ zu tun zu haben, die den Gefangenen ihren dekadenten, gehobenen Lebensstil vorwerfen. Doch wird immer deutlicher, daß die, die diese Verhöre – und die damit verbundenen Folterungen – durchführen, keinesfalls Revolutionäre sind, sondern ganz profan dem Militär angehören. Und die zunächst ideologisch geprägten Verhöre werden mehr und mehr zu reinen Lektionen der Willkür und Demütigung der Opfer. Vor allem die Frauen haben zu leiden, werden sie doch regelmäßig vergewaltigt und zu allerhand sexuellen Handlungen gezwungen.
Derweil wird der Familie der Braut – die Mutter wurde bei dem Überfall auf die Festgesellschaft getötet, der Vater konnte trotz mehrerer Schußverletzungen überleben und wird nun vom Sohn in einem scheinbar abgeschotteten Areal in einer Klinik versorgt – eine Lösegeldforderung überbracht. Es stellt sich heraus, daß die scheinbar revolutionär Umtriebigen einen lukrativen Menschenhandel betreiben, bei dem keine Rücksicht mehr auf Herkunft oder Abstammung der Auszulösenden genommen wird.
Die persönliche Hausangestellte der nun toten Dame des Hauses, die weiterhin loyal zu ihren Arbeitgebern steht, wird ihrerseits von eben jenen Soldaten aufgesucht, die die Braut gefangen genommen haben. Offenbar versuchen diese Armeeangehörigen auf eigene Rechnung von dem Geschäft zu profitieren. So werden die Angestellte und ihr Neffe zu Botengängern in einem undurchschaubaren Spiel, bei dem die Familie direkt mit den Kidnappern verhandelt, was wiederum den engen Freund des Brautvaters, jenen Vertreter der Macht, erzürnt, da er alle Hinweise auf den Verbleib seiner Patentochter sofort zu erhalten wünscht.
Während die Verhandlungen laufen und die Kidnapper auf eigene Faust immer mehr Geld verlangen, spitzt sich die Lage in den Gefängnissen zu. Die Insassen sind mittlerweile vollkommen verängstigt und nahezu gebrochen durch den andauernden Terror und die willkürlichen Demütigungen, denen sie ausgesetzt sind.
Schließlich gelingt eine Geldübergabe. Doch mittlerweile konnten die Armeeangehörigen, die da auf eigene Faust Geld verlangen, von ihren Vorgesetzten ausgemacht werden. Sie werden erschossen, die Geldübergabe wird fingiert, das Geld verschwindet in dunklen Kanälen. Die Braut wird von einem Soldaten erschossen, ebenso der Neffe der Hausangestellten. So kann man die loyal empfindenden Angestellten schließlich als eigentliche Täter hinstellen und läuft nicht Gefahr, von den Entlassenen beschuldigt oder gar entlarvt zu werden.
Bei einer Massenhinrichtung werden etliche Personen, die im Laufe des Films vorgestellt wurden, gehängt. Der enge Freund der Familie der toten Braut nimmt als Ehrengast an den Exekutionen teil.
Es ist eine der schwierigsten Aufgaben für einen Filmemacher, eine Geschichte zu erzählen, die Allgmeingültigkeit hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen behauptet. Man muß, um den Zuschauer dramaturgisch abzuholen, dringend Identifikationsfiguren inszenieren, womit meist etwas, das eher analytisch-essayistisch behandelt werden müsste, auf eine emotionale, individuelle Ebene gehoben wird und dann irgendwann seine politischen Aspekte verliert, bzw. sie lediglich als Hintergrund nutzt, um eine spannende Story zu erzählen. Da, wo Filmemacher versucht haben, es anders zu machen, schienen die Ergebnisse meist etwas steif, oft thesenhaft. Der Regisseur Costa-Gavras versuchte diese Problematik in Filmen wie Z (1969) oder ÉTAT DE SIÈGE (1972) dadurch zu umgehen, indem er sich direkt mit den politischen Verantwortlichen beschäftigte; ähnlich versuchte es Henri Verneuil in I…COMME ICARE (1979). Gerade der italienische Politthriller der 70er Jahre beweist aber auch immer wieder, daß man zwar spannende Geschichten erzählen, letztlich aber nur schwer allgemeingültige Aussagen zu einer politischen Entwicklung machen kann, die nicht in purem Zynismus enden sollen.
Andere Filmemacher griffen zu immer drastischeren Maßnahmen, um ihren Anliegen Ausdruck zu verschaffen. George A. Romero schuf zumindest mit NIGHT OF THE LIVING DEAD (1968) und dessen Nachfolger DAWN OF THE DEAD (1978) zwei eminent politische Werke, die sich allerdings mit ihren Splatter-Elementen vielleicht keinen allzu großen Gefallen taten, da viele potentielle Zuschauer nicht hinschauen mochten. Ähnlich erging es dem serbischen Regisseur Srdjan Spasojević mit seinem extrem drastischen Thriller A SERBIAN FILM (2010), den zu diskutieren sich die meisten weigern, wenn sie gesehen haben, was da geboten wird. Einer der wenigen, denen es gelang, wirklich überzeugend die filmische Analyse eines historischen Vorgangs und seiner Nachwirkungen zu inszenieren, war der Italiener Pier Paolo Pasolini, der mit SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975), seiner letzten Regiearbeit, den italienischen Faschismus historisch einzuordnen verstand und zugleich die Mechanismen der Macht ebenso klar wie drastisch für seine zeitgenössische Gegenwart entlarvte. Doch auch hier gab es etliche Stimmen – nicht zuletzt aus der katholischen Kirche – die den Film allein aufgrund seiner expliziten Gewalt- und Ekeldarstellungen sowie der vielen nackten Haut, die er zeigte, ablehnten. Basierend auf einem Schauspiel des Marquis de Sade hatte Pasolini hier ein Meta-Werk geschaffen, dessen Bedeutung bis heute den meisten wahrscheinlich nicht wirklich bewusst geworden ist.
Michel Francos Film NUEVO ORDEN (2020) könnte man zwischen Pasolinis Film und dem von Spasojević einordnen, ohne deren extremste Gewaltdarstellungen zu übernehmen. Was allerdings nicht bedeutet, daß nicht auch hier teils Bilder geboten werden, die verstören und dem Zuschauer noch lange im Kopf herumschwirren und zudem eine Atmosphäre generiert wird, die so bedrückend ist, wie man es selten in einem Film jüngeren Datums zu spüren bekommen hat. Der mexikanische Regisseur, einer breiteren cineastisch interessierten Öffentlichkeit spätestens mit seinem ersten englischsprachigen Film CHRONIC (2015) ins Bewußtsein getreten, bietet hier eine wilde Dystopie, die sehr explizit die spezifische Situation in Mexiko anspricht, zugleich aber genau den Hoffnungen, die in einer globalisierten Linken nach wie vor gehegt werden, eine Abfuhr erteilt. Revolution, Aufstand, Reformen und Umwälzungen münden, folgt man Franco, immer in autoritärer Herrschaft, führen zu nackter Gewalt, Willkür und Machtmißbrauch.
Vor allem gelingt es Franco, der seinen Film auch selbst geschrieben hat, im besten Sinne also als Auteur arbeitet, die oben benannten Fehler zu umgehen und dennoch nur indirekt die politische Ebene zu sondieren. Er schafft ein Szenario, das glaubwürdig den Zusammenprall jener mexikanischen Oberschicht, die sich sicher wähnt hinter hohen Mauern, in gepanzerten SUVs und hinter den Waffen der Security-Männer, und einem wilden, irgendwie revolutionären Mob beschreibt, der sich mit Gewalt selbst ermächtigt und scheinbar die Macht im Staate übernimmt. Noch besser aber gelingt es Franco, aufzuzeigen, daß eine potentiell revolutionäre Situation in den seltensten Fällen jenen dient, die sie in Szene gesetzt haben, sondern jene Nutznießer sind, die im Hintergrund bleiben und wirken – meist das Militär. Und dies um jeden Preis. Doch die wirklich grandiose Leistung dieses Films ist es, auf sehr subtile, ja, man kann schon sagen: subversive Art und Weise darzulegen, daß im Klassenkampf immer auch ein gerüttelt´ Maß an Sexismus – wenn nicht gar ein Geschlechterkrieg – mitspielt. Im, wie man heute gern sagt, Klassismus ist der Geschlechterkampf immer schon angelegt.
Die Subversion setzt sich dann in Francos Bildsprache und in den Kameraeinstellungen fort. So wird NUEVO ORDEN zu einem gesamtsubversiven Meisterwerk, das keine Partei vom Haken lässt, sondern vor allem einem sehr, sehr düsteren Menschenbild Ausdruck verleiht. Erstaunlicherweise wird Franco dabei nie, nicht eine Sekunde lang, zum Zyniker. Vielleicht kann man Resignation spüren, vielleicht auch eine grundlegende Wut, nicht aber eine Haltung, die von Verachtung zeugt. Hier hat ein intellektueller Filmemacher, der sein Medium für weitaus mehr nutzen will als zur reinen Unterhaltung, eine ebenso brillante wie ernüchternde Studie vorgelegt und kommt abschließend zu einem vernichtenden Urteil.
Mexiko hat eine lange Geschichte revolutionärer Umtriebe und immer noch wird dieser Staat, bei dem nie ganz klar ist, ob er als solcher noch funktioniert oder als dysfunktional zu betrachten ist aufgrund der Machtkämpfe mit den Narcos, den Drogenkartellen, immer wieder von Aufständen und Revolten heimgesucht. Nun mag die Revolution den letzten Romantikern im linken Lager immer noch wie der Königsweg zur Herrlichkeit allgegenwärtiger Gerechtigkeit gelten; die, die sich mit der Geschichte der Revolution, mehr aber noch mit den Fähigkeiten des Kapitalismus beschäftigt haben, sich auch noch den letzten revolutionären Gestus einzuverleiben (man denke an die Che-Guevara-T-Shirts, die vor ca. 15 Jahren plötzlich in den Einkaufspassagen der Großstädte in den Läden der großen Ketten wie H & M auftauchten), ahnen schon lange, daß es damit schlicht nicht mehr getan ist. Weshalb die Idee eines gewaltsamen Aufstands oder Umsturzes, um die herrschenden Verhältnisse zu ändern, in den vergangenen 20 Jahren auch eher auf der Rechten zu finden war, wo man glaubt, irgendeine tradierte Freiheit – letztlich ist die uneingeschränkte und nicht zu hinterfragende Herrschaft des weißen Mannes gemeint – wieder herstellen, verteidigen und beschützen zu müssen.
Aus unübersichtlichen Verhältnissen, dem Verlust von Recht und Ordnung, der Macht des Mobs, man muß es so benennen, gehen meist jene als Sieger hervor, die bereit sind, die größte Gewalt ebenso rücksichts- wie skrupellos anzuwenden. Es setzen sich diejenigen durch, die über die Kampfkraft und die technische Ausrüstung verfügen, die es braucht, irgendeine Ordnung herzustellen. Es sind also meist jene Institutionen, die diese Fähigkeiten a priori besitzen – Armee und Polizei – und die zudem behaupten können, nur ihrem Auftrag nachzukommen, wenn sie die Macht, zumindest vorübergehend, übernehmen. Das alles ist hier eher Ausgangspunkt der Analyse, denn deren Ergebnis. Denn Franco, es wurde oben bereits angedeutet, gelingt es, tieferliegende Mechanismen und Strukturen dieser Machtergreifungen offenzulegen.
Ausgangspunkt des Films ist eine Hochzeitsfeier in der Oberschicht von Mexiko-Stadt. In einem der besseren Viertel der Stadt findet sich nach und nach die bessere Gesellschaft ein, es gibt im Hintergrund die typischen innerfamiliären Spannungen, Muttern will alles unter Kontrolle haben, der Vater vor allem repräsentieren, der Sohnemann verteilt unter seinen Freunden die Drogen und tut weltmännisch dabei, die Tochter – die Braut – ist aufgeregt und verliebt. Franco zeigt das alles ca. 20 Minuten lang so, daß man es für die Vorbereitung einer Komödie à la Ruben Östlund (THE SQUARE/2017) halten könnte. Doch flicht Franco schon früh allerlei Hinweise auf Kommendes ein: In den im Hintergrund plärrenden Radios hört man von Demonstrationen in der Innenstadt, die in Gewalt ausarten; die ersten Bilder des Films, noch bevor wir die Hochzeitsgesellschaft kennenlernen, zeugen von einem Überfall auf ein städtisches Krankenhaus, wo etliche von Kugeln und Schlagstöcken Verletzte eintreffen und die eigentlich für Operationen vorbereiteten Patienten verdrängen; aus einem der Wasserhähne im Haus der Feiernden ergießt sich plötzlich grünes Wasser aus den Hähnen, ein Ehepaar trifft ein und wurde unterwegs offenbar Opfer eines Farbanschlags, sind doch sowohl die Dame als auch der Wagen mit einer Flüssigkeit beschmiert, die farblich der entspricht, die das Wasser aus den Hähnen angenommen hat. Doch versteht Franco es, die Aufmerksamkeit des Zuschauers immer wieder von diesen kleinen Ungereimtheiten und Hinweisen abzuziehen und auf die scheinbar so gewöhnlichen Probleme der Gastgeber eines großen Festes zu lenken.
Als ein ehemaliger Angestellter des Hauses am Tor erscheint und um Geld bittet, da durch die Erstürmung des Krankenhauses seine Frau eine lebenswichtige Herz-OP nur in einer Privatklinik erhalten kann, versuchen Mitglieder der Familie ihn mit ein paar Pesos abzuspeisen, versichern ihm und seiner Frau ihre Zuneigung. Doch als der Mann beharrlich bleibt, versucht der Sohnemann, ihn des Grundstücks verweisen zu lassen. Nur die Tochter, die Braut also, zeigt sich menschlich ausgereift, setzt sich in ihren SUV und fährt los, um die Frau, die ihr viel bedeutet, auf eigene Faust in die Klinik zu bringen und die Operation vor Ort zu bezahlen.
Während ihrer Abwesenheit bricht nun also die Revolution aus, die Villa wird überfallen, die Gäste getötet, ausgeraubt, die Leichen werden teils verbrannt. Die Tochter ist nun irgendwo dort draußen, wird festgesetzt und landet in einem Lager, von dem nie näher geklärt wird, wer es eigentlich betreibt. Die Revolutionäre? Oder doch die Armee? Oder entspricht das eine längst dem anderen? Franco lässt dies fast den gesamten Rest des Films offen, erst in den letzten Einstellungen entlarvt er die ganze Perfidie dessen, was eine Revolution eben bedeuten kann, oder – in seinen Augen – wohl zwangsläufig bedeuten muß. Dann nämlich erst wird deutlich, daß der einzige Nutznießer des Aufstands der Armen – und Franco macht anhand der Kostüme und der Ausstattung deutlich, daß die ursprüngliche Revolte ganz offenbar durch minderprivilegierte, oft als indigen markierte Menschen ausgelöst wurde – jene staatlichen Institutionen sind, die immer schon unter dem Verdacht stehen, die Macht um ihrer selbst willen übernehmen zu wollen. Also die Dienste, die Armee und die Polizei.
Die, die die Villa überfallen – und die ganz offensichtlich von Teilen des Personals eingeladen wurden, hier zuzuschlagen – sind eindeutig Sozialrevolutionäre. Sie schmieren ihre Parolen an die Wände und exekutieren ihre Gefangenen entsprechend den „Volksgerichten“ der Sandinistas und anderer revolutionärer Bewegungen Lateinamerikas. Doch schon in jenen Szenen, in denen die absente Tochter von Soldaten festgesetzt wird, verschwimmen diese vermeintlichen Sicherheiten. Irgendwie glaubt der Zuschauer, die Gesichter der Soldaten auch unter denen der Aufständischen gesehen zu haben – und die beiden, die die Tochter verhaften, fordern dann auch gleich sämtlichen Schmuck und andere Wertgegenstände für sich selbst ein. Die Korruption – oder die Korrumpierbarkeit – macht also auch nicht vor jenen Halt, die für sich höhere, weil hehre Ziele in Anspruch nehmen. Später werden diese Soldaten die Frau/Braut auf eigene Faust deren Eltern gegen Lösegeld anbieten. Bestraft und aufgehängt werden dafür aber nicht nur sie, sondern noch einige andere, die mit dem ganzen Vorgang nichts zu tun hatten, aber gut ins Bild vermeintlicher Täter passen.
Mit einer ungeheuren Präzision gelingt es Franco so, genau darzustellen, wer die Nutznießer und wer die Opfer dieser revolutionären Zustände sind. Sowohl jener Mann, der wegen seiner Frau das Fest stört, als auch eine der wenigen Hausangestellten, die zu ihrem Arbeitgeber halten und so in die Machenschaften um die Entführung der Tochter verwickelt werden, sind Unschuldige in dem Sinne, daß sie weder an der Revolution teilnehmen, noch antizipieren. Sie repräsentieren das einfache Volk, das niemand fragt, das sich zu ergeben hat und die gerade herrschenden Machthaber in der Annahme der eigenen Machtlosigkeit akzeptiert. Sie beugen sich der „Neuen Ordnung“, die der Film im Titel postuliert. Diese „Neue Ordnung“ ist und bleibt aber unübersichtlich, vage, unbestimmt, bis eine (neue/alte) Ordnungsmacht sie etabliert und damit sich als Herrscher/Machthaber etabliert. Die Sozialrevolutionäre, deren Demonstrationen und lokalen Aufstände Auslöser für die Umwälzungen waren, werden nun genauso verfolgt und hingerichtet, wie jene, die man als Plünderer oder Entführer überführt zu haben glaubt – oder denen man schlicht die Schuld für was auch immer – auch mit fingierten Beweisen – in die Schuhe geschoben hat. Säuberungen brauchten noch nie einen veritablen Grund oder Evidenz, sie wurden immer schon mit den fadenscheinigsten Begründungen durchgeführt, wie nicht zuletzt die Geschichte des Stalinismus gelehrt hat.
Doch die eigentliche Subversion des Films besteht nicht nur in dieser inhaltlichen Analyse, die so neu auch nicht mehr ist. Nein, die eigentlich subversive Aktion dieses Films ist seine Bildsprache und wen er in welcher Rolle in Szene setzt. Franco nutzt die Kamera – meist konventionell, seltener als Handkamera eingesetzt – um einen Blick zu etablieren, der sich konsequent den Opfern widmet – und da ist es keine Frage, daß spätestens, wenn es zu Gewalt kommt, sich alle Opfer gleich sind. Franco bleibt in den allermeisten Fällen, in denen Gewaltakte gezeigt werden – gleich ob es „wilde“ Akte sind, wie die scheinbar willkürlichen Erschießungen in der Villa, oder „organisierte“ Akte, wie die der Folter im Lager – auf dem Gesicht und damit auf Augenhöhe der Opfer, er zeigt den Schmerz, vor allem die Demütigung, die es bedeutet, vollkommen der Gewalt und Macht eines andern ausgeliefert zu sein. Die Täter, gleich in welcher Camouflage sie gerade auftreten, bleiben sich letztlich gleich: Sie sind brutal, sie sind gnadenlos, sie wähnen sich im Recht, neigen zur Verallgemeinerung, was dazu führt, daß schnell verwischt, für wen oder was sie eigentlich kämpfen. Bis sich schließlich in der systematischen Entführung, Folterung und Lösegelderpressung offensichtlich durch die neuen Machthaber der sich hier erfüllende reine Selbstzweck all dessen offenbart. Es geht letztlich um Geld und Bereicherung, es läuft immer auf dasselbe hinaus, man kann dem ‚Weltinnenraum des Kapitals‘ (Peter Sloterdijk) nicht entkommen. Ganz gleich, wie gut und ernst die Anliegen vielleicht einmal gemeint waren. Alles und jeder – auch jede Situation, ist korrupt, auch und erst recht die Revolution.
Daß wir dabei vor allem Opfer aus der Oberschicht ansichtig werden, verdichtet das subversive Element des Films. Denn es sind die Töchter und Söhne der besseren Familien, die letztlich von ihren eigenen Leuten, den eigenen Vätern und Onkeln interniert werden. Schließlich ist mit ihnen das meiste Geld zu machen. So wird auch die ehemalige Braut nun verscherbelt. Nicht allerdings, ohne zuvor oral, anal und wahrscheinlich auch vaginal mehrfach vergewaltigt zu werden. Franco konfrontiert sein Publikum mit Bildern der Folter und dabei vor allem jener, die von Männern (seltener Frauen) an Frauen begangen wird. Und auch Vergewaltigungsszenen erspart er dem Zuschauer nicht. Er geht nicht soweit, wie es Spasojević in A SERBIAN FILM tat, der dem Zuschauer Bilder zumutete, die jedwede gut gemeinte Botschaft fast zwangsläufig auslöschten in ihrer Drastik, doch auch Franco vergibt sich nichts. Wobei er mehr noch als Bilder der Gewalt solche bietet, die äußerste Beklemmung hervorrufen, weil sie eher von der Angst vor der Folter, der Gewalt und dem Schmerz erzählen, als beides unmittelbar zu zeigen.
Wesentlich ist vielleicht etwas ganz anderes: Es ist fast immer Gewalt, die gegen Frauen ausgeübt wird, derer wir ansichtig werden. Franco schreibt der revolutionären Situation also nicht nur das eher schlichte Element der Gewalt ein – was der gestandene Revolutionär wahrscheinlich als Kompliment auffassen würde – sondern er zeigt vielmehr, daß diese Gewalt sich seit jeher immer die gleichen Opfer sucht, ganz gleich, welcher Schicht oder Klasse sie entstammen. Es sind immer die Schwächeren und damit nahezu automatisch Frauen (und Kinder, dieser Aspekt wird hier lediglich gestreift; Kinder sind sozusagen Kollateralschäden der Revolution, sie kommen einfach unter die Räder). Und genau darin bestätigt sich für Franco nicht nur der Gewaltaspekt als Willkürherrschaft, sondern auch die Korrumpierbarkeit jedweder guten Idee. Diese Frauen werden aus profanen Gründen entführt – sie bringen Geld, sie stellen also eine Ware dar, die es zu veräußern gilt; zugleich macht sich in dieser Veräußerung (sprich: Einer Lösegeldforderung) aber eben auch das korrupte Element jeder utopischen Idee bemerkbar. Denn jede Idee ist nur so gut, wie die, die sie umsetzen. Und diese sind am Ende Menschen in all ihrer Fehlbarkeit. Gewinnsüchtige Wesen, die für einen (monetären) Vorteil jedes Ideal zu verraten bereit sind. Es führt also selbst die sozialste Revolution immer nur zurück in den Kreislauf des Kapitals.
Daß es aus diesem Kreislauf, der in Francos Analyse immer wieder auf sich selbst und also auf den oben zitierten ‚Weltinnenraum des Kapitals‘ verweist, keinen Ausweg gibt, nie einen Ausweg gab, verdeutlichen die Schlußsequenzen des Films. Nahezu jeder, den wir im Laufe der Handlung kennen gelernt haben, wird in einer öffentlichen Zeremonie hingerichtet. Dieser Zeremonie sitzt eben jener Mann vor, den wir auf der Hochzeit zu Beginn des Films gesehen haben und der diese zeitig verließ. Offenbar ein ranghohes Mitglied de Militärs/der Armee, hält er seine schützende Hand auch über die, die für die Entführung der Tochter seines Freundes verantwortlich waren. Um der Gerechtigkeit genüge zu leisten, werden stattdessen eine Menge Menschen hingerichtet, die sich im Kontext des Films eher für das entführte Mädchen eingesetzt haben. Schuldige zu finden, war noch nie schwierig, schon gar nicht unter den Bedingungen der Folter.
NUEVO ORDEN hinterlässt ein extrem ungutes Gefühl bei seinem Publikum. Es gibt scheinbar keinen Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt, es gibt keine Ideale, die man nicht für Geld und Macht verraten könnte, es gibt folglich auch keine Revolution – es sei denn, die Revolution ginge immer schon von der Macht, den Mächtigen selbst aus. Stürze eine Gesellschaft ins Chaos und du wirst als Retter empfangen, wenn der Druck im Kessel nur hoch genug ist, egal zu welchem Preis. Letztlich trifft sich Francos zugrundeliegende Analyse mit jener, die Pasolini an einer entscheidenden Stelle in SALÒ O LE 120 GIONATE DI SODOMA einen der dort als Subjekte handelnden Faschisten formulieren lässt: Die eigentlichen Anarchisten sind immer nur jene, die die Macht bereits in Händen halten, denn sie sind die Herren über den Ausnahmezustand, sie allein können die Regeln ungestraft brechen und neue Regeln festlegen. Der Souverän, wie auch immer er definiert wird (und in diesem Fall wäre es eine für die Rechts- und Staatstheorie eines Carl Schmitt typische), steht über allen Regeln und Gesetzen, indem er über den Ausnahmezustand verfügen kann. Und das, was Franco in seinem Film zeigt, ist letztlich nichts anderes, als die Zementierung des Ausnahmezustands als „neue Ordnung“.
Gerade dieser Aspekt deutet allerdings direkt auf die herrschende Situation in Mexiko hin, einem Land, nominell eine Demokratie, das längst zum Spielball krimineller Kräfte geworden ist, unter denen der Staat nur einen der Beteiligten darstellt. Wahrscheinlich sollte man aus dieser Perspektive sogar davon ausgehen, daß Michel Francos Film nicht einmal eine reine Dystopie, sondern in gewisser Weise schon eine Bestandsaufnahme der Herrschaftsverhältnisse in seinem Heimatland darstellt. Was umso beunruhigender ist.