DEMOKRATIE UNTER SCHOCK

Martin Debes bereitet das Thüringer Wahldesaster noch einmal auf

Anderthalb Jahre, nachdem Thomas Kemmerich sich im Thüringer Landtag mit Hilfe der AfD zum Ministerpräsidenten des Landes wählen ließ, weiß der geneigte Beobachter nicht so recht, ob es sich dabei um den allseits beschworenen Skandal handelte, der in einem furchtbaren Tabubruch die Republik erschütterte, oder vielleicht doch einfach um eine Provinzposse in einem der „neuen“ Bundesländer, die eben auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch auf der Suche nach Maß und Mitte sind. Hängengeblieben ist in erster Linie – auch, weil die äußerste Rechte dies dankbar in ihr Narrativ von der „Merkel-Diktatur“ einbaute – das Wort der Kanzlerin, es handele sich um einen Fehler, der umgehend korrigiert werden müsse. So gesprochen während ihrer damaligen Auslandsreise nach Südafrika, wo sie auf einer Pressekonferenz nach ihrer Einschätzung der Vorgänge in Thüringen gebeten wurde.

Martin Debes, Chefreporter der Thüringer Allgemeinen, daneben aber auch Autor für Spiegel, Zeit, Zeitonline und den Cicero, vor allem aber in seiner Funktion bei der Thüringer Allgemeinen nah an den Ereignissen, fasst diese in seinem Buch DEMOKRATIE UNTER SCHOCK (2021) noch einmal zusammen. Er liefert einen minutiösen Ablauf der Tage vor und nach der Wahl Kemmerichs, beleuchtet auch die späteren Entwicklungen, die Erschütterungen in der CDU, den Abgang von Annegret Kramp-Karrenbauer als Vorsitzende der vielleicht letzten Volkspartei, erläutert allerdings auch die Hintergründe vor allem innerhalb des Thüringer Landesverbands der CDU, die Intimfeindschaften zwischen dem damaligen Chef und Fraktionsvorsitzenden Mike Mohring und seinen Widersachern, darunter der heutige Fraktionsvorsitzende in Thüringen, Mario Voigt. Auch die weiter zurückreichenden Verstrickungen und Beziehungen zu seinen Vorgängern, der Ex-Ministerpräsidenten Dieter Althaus und dessen Nachfolgerin Christine Lieberknecht, wird von Debes noch einmal nachgezeichnet.

Es sind vor allem diese Zusammenhänge, die das Buch interessant machen. Denn wer – außer eben Thüringern – hat sich in den vergangenen 20 Jahren wirklich mit dem Kleinklein der dortigen Landespolitik auseinandergesetzt, wenn er es nicht unbedingt musste? Die Konfliktlinien und Verwerfungen innerhalb der Partei zu erkennen, trägt dann allerdings maßgeblich dazu bei, das Desaster, das der 5. Februar 2020 vor allem für die CDU bedeutete, nachzuvollziehen. Hybris und Naivität, so scheint es, vor allem der Unglaube, wie perfide die AfD handeln könnte, um das Parlament, ja, den Parlamentarismus an sich, vorzuführen, waren vor allem dafür verantwortlich, daß es zur Wahl eines Mannes zum Ministerpräsidenten kam, dessen Partei mit den knappsten 5%, die man sich vorstellen kann – lediglich 76 Stimmen trugen die FDP damals über die 5%-Hürde – ins Parlament eingezogen war.

Debes beleuchtet natürlich auch die Rollen aller anderen Beteiligten, wobei ein wenig zu kurz kommt, daß man sich bis heute auch fragen kann, weshalb Bodo Ramelow, erster und bisher einziger Landesvater aus den Reihen der Linken, in eine Wahl ging, für die er keine gesicherte Mehrheit hatte. Was Debes allerdings gut herausarbeitet, sind Ramelows teils hektische, manchmal von persönlicher Verletztheit bestimmten, teils nachvollziehbar kompromissbereiten Versuche, das Beste für das Land herauszuholen und zugleich sein Gesicht zu wahren. Ein wenig blass bleibt auch Debes´ Beschreibung und Analyse der Rolle, die Björn Höcke – immerhin Vorsitzender einer Landespartei, der gerichtsfest und unwidersprochen als „Faschist“ bezeichnet werden darf – im Ablauf der Ereignisse spielte. Hier, wie auch in anderen Zusammenhängen, gibt Debes schlicht wieder, was der aufmerksame Beobachter damals auch den überregionalen Tageszeitungen und beim Nachrichtensender Phoenix oder in den sozialen Medien erfahren konnte.

Vielleicht ist das alles also nicht so neu, vielleicht wird Vieles aufbereitet, das allgemein bekannt ist, sind vor allem die Vorgeschichten der beteiligten CDUler wirklich interessant, da nicht jedem geläufig. Doch hat Martin Debes einen (meist) gut lesbaren Polit-Thriller direkt aus der Wirklichkeit geschrieben, der informativ und unterhaltsam das damalige Geschehen aufbereitet und reflektiert. Das Gefühl aber, es letztlich eben doch mit einer Provinzposse zu tun zu haben, wird hier eher bestärkt als entkräftet. Man wird – wie damals, in Echtzeit – schlicht den Eindruck nicht los, daß da eine Riege von Provinzpolitikern, die zumeist vor allem an der eigenen Karriere und am eigenen Fortkommen interessiert sind, mit einer sie letztlich überfordernden Situation überhaupt nicht mehr klarkommen. Daß Bodo Ramelow nahezu als einziger – nimmt man einmal Björn Höcke aus der Rechnung heraus, der in seiner Partei sowieso machen kann, was er will – der Beteiligten recht unbeschadet aus dem Ganzen hervorging, wirft ebenfalls ein bezeichnendes Licht auf die Vorgänge.

Wirklich deutlich wird hier auch noch einmal die Situation, in die bestimmte Bundesbeschlüsse von Parteien wie der CDU – hier der Nichtvereinbarkeitsbeschluß gegenüber der AfD und der Linken – einzelne Landesverbände bringen kann. Denn so sehr bspw. Mohring auch laviert haben mag, er steckte auch in einer Falle, aus der er sich nicht befreien konnte. Das gleiche Schicksal droht so manchem CDU-Ostverband, solange die AfD in den „neuen“ Bundesländern wirklich wie eine Volkspartei auftreten kann und zugleich immer wieder Vorstöße aus der CDU kommen, es doch mal mit einer Koalition mit den Rechtsaußen zu versuchen.

Wenig wird auch zu dem neuerlichen Skandal erklärt, daß sich die CDU nun, anderthalb Jahre nach den Ereignissen, weigert, Neuwahlen zuzulassen, obwohl dies so vereinbart wurde, als man sich mit der Linken, der SPD und den Grünen auf die Tolerierung (die so nicht genannt werden durfte) einer, von den dreien gebildeten, Minderheitsregierung einließ. Denn dieses Manöver ist derart durchschaubar, ist derart an der Sicherung eigener Pfründe ausgerichtet, daß sich nun wirklich niemand mehr zu wundern braucht, wenn die Bürger – nicht nur des Landes Thüringen – immer größere Zweifel an der Ehrlichkeit von Politikern bekommen. Und damit auch die Zustimmung zum demokratischen Gesellschafts- und Staatsmodell an sich leidet. Dafür braucht es dann gar nicht das hanebüchene Narrativ von der Kanzler-Diktatorin, die par ordre de mufti mal eben so, nolens volens, eine demokratische Wahl rückgängig machen könne. Den Glauben an die Demokratie zerstören manchmal ein paar unwillige Landespolitiker. Ganz allein.

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