DAS UNZUFRIEDENE VOLK. PROTEST UND RESSENTIMENT IN OSTDEUTSCHLAND VON DER FRIEDLICHEN REVOLUTION BIS HEUTE

Detlef Pollack wirft einen differenzierten Blick auf die Entwicklungen in den neueren Bundesländern

Einunddreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, dreißig Jahre Wiedervereinigung – und immer noch kein Land in Sicht?

Die DDR besteht nun dreiviertel der Zeit, die es sie überhaupt gegeben hat, nicht mehr.

Wenn man je die Möglichkeiten hatte, in Echtzeit zu beobachten, daß Geschichte sich nicht wiederholt, dann in diesen dreißig Jahren. Wie viele hatten auf ein Wirtschaftswunder gehofft, wie es das nach dem 2. Weltkrieg und der Währungsreform 1948 in der Bundesrepublik gegeben hatte? Und was bedeutet es, daß Vergleichbares ausgeblieben ist? Im Grunde nichts. Geschichte entfaltet sich unter den spezifischen Bedingungen, die sie vorfindet. Wir können sie immer nur von hinten betrachten, wie der Benjamin´sche Engel der Geschichte. Und dann? Dann ist eine der wesentlichen Fragen: Wer spricht?

Wer eignet sich Geschichte an? Zynische Antwort derer, die nie vertrauen wollen: Die Gewinner schreiben die Geschichte. Mag sein. Manchmal betrachten aber auch die vermeintlichen Verlierer (wenn sie sich denn als solche empfinden) die Geschichte und finden Differenz. Detlef Pollack, der sich, 1955 in Weimar geboren und noch zu DDR-Zeiten in Leipzig promovierte, sicher nicht als Verlierer begreift, tut dies in einem schmalen, aber lesenswerten Band. Er wirft noch einmal ein Schlaglicht auf die Jahre unmittelbar vor und während der Wende (der Revolution), sowie auf die Nachwendejahre und – unter Berücksichtigung eines breiten Spektrums von Studien, Untersuchungen und Analysen der frühen 1990er Jahre bis in die Gegenwart hinein –versucht zu verstehen, was da eigentlich wem zugestoßen ist. Wer wie involviert war. Wer profitiert hat, wer den Nachteil hatte. Ein Psychogramm des Ostens? Oder der Ostler? Mitnichten. Der Versuch einer Erklärung, das schon.

Pollock ist Religionssoziologe, hat aber immer auch über Bereiche abseits der Theologie geforscht. Unter anderem auch über die Geschichte der DDR und die politische Kultur im Lande. So hat es den Anschein, daß mit diesem Band auch eine Art Quintessenz seiner Studien und Forschungsergebnisse zur Lage und Zufriedenheit in Ostdeutschland vorliegt.

DAS UNUZUFRIEDENE VOLK. PROTEST UND RESSENTIMENT IN OSTDEUTSCHLAND VON DER FRIEDLICHEN REVOLUTION BIS HEUTE (2020) lautet der etwas sperrige Titel seines Buchs. In drei großen Abschnitten untersucht er die „Rolle der ostdeutschen Bevölkerung in der friedlichen Revolution“, „im Prozess der Wiedervereinigung“ und „die schwierige Ankunft der Ostdeutschen in Deutschland“. Für den Soziologen mögen dabei vor allem das abschließende Kapitel und das Fazit von Interesse sein, der Historiker hingegen wird vor allem das erste Kapitel – die Untersuchung zur Rolle der ostdeutschen Bevölkerung unmittelbar vor und während der Wende – aufschlußreich finden. Hier nämlich wird noch einmal die Diskrepanz zwischen „dem Volk“ (was immer das sein mag – Pollock stellt den Begriff stark in Frage), der Öffentlichkeit, der Partei und jenen Dissidenten, die vor allem in den späten 70ern und die 80er Jahre hindurch eine starke, oft kirchlich grundierte Opposition aufgebaut hatten, aufgearbeitet.

Einige – sicher auch einige liebgewonnene – Ansichten werden dabei über den Haufen geworfen. Pollack konstatiert, daß es in der DDR im Grunde keine Öffentlichkeit, wie wir sie kennen, gab. Es gab den Staat, der durch die Partei, die SED, bestimmt und definiert wurde, und es gab eine Bevölkerung, die sich ihren jeweiligen Reim auf das machte, was sie sah, hörte und erlebte. Aus dieser Widersprüchlichkeit heraus ergibt sich auch seine Schlußfolgerung, daß jene Demonstrationen, die im Sommer 1989 begannen und bis zum Herbst des Jahres immer größer und bedeutsamer wurden, eben kein zentral begriffenes Ereignis waren, nicht von einer organisierten Opposition gesteuert wurden, sondern sich aus unterschiedlichen – wenn überhaupt zentral, dann anhand der nachgewiesenen Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989 kulminierenden – Gründen und Motiven speisten. Und oft vollkommen unabhängig voneinander auf die die Initiative einzelner, selten organisierter Oppositionsgruppen, zurückgingen.

Anhand von fünf Beispielen – Plauen, Arnstadt, Dresden, Berlin und Leipzig – kann er diese Diversität nachzeichnen und erklären. Mal waren es einzelne, auf die die Organisation oder, besser, die Initiative zum Protest ausging, mal waren es spontane Reaktionen, nur gelegentlich waren wirklich oppositionell Organisierte der Motor. Dieses Muster sieht Pollack auch bei den Massendemos im Herbst 89. Diese seien weitestgehend an den Dissidenten und Bürgerrechtsgruppen vorbei zustande gekommen. Allerdings leitet er genau daraus auch die (Wirkungs)Macht ab, die von den Demos ausging. Für die SED und die Stasi waren dies eben keine kontrollierbaren Oppositionsgruppen mehr, die man weitestgehend im Auge hatte (von den kirchlich organisierten einmal abgesehen, die schwerer zu beobachten und zu infiltrieren waren), sondern wirkliche Volkserhebungen. Das erklärt auch, weshalb die Bürgerrechtler – obwohl immer wieder gefordert wurde, dem „Neuen Forum“ Mitspracherecht zu geben – von der Dynamik der Entwicklung letztlich überrollt wurden und ihre Vorstellungen eines erneuerten Sozialismus, einer reformierten DDR, eines „dritten Weges“, nie wirklich eine Chance hatten, Gehör zu finden oder gar als reelle Möglichkeit in Betracht gezogen zu werden.

Pollack selbst war in jenen Tagen erlaubt worden, nach Zürich zu reisen und er schreibt diese eigenen Erfahrungen – auch die, gerade in einem Moment abzureisen und ein Privileg in Anspruch zu nehmen, als sich in der Stadt Leipzig, damals sein Wohnort, Entscheidendes tat – dem Text durchaus ein. Das ist an sich redlich und interessant, durchkreuzt aber gelegentlich seine ansonsten strickt an wissenschaftlichen Ergebnissen von Umfragen und Analysen ausgerichteten Beobachtungen.

Die Nachwendejahre, vor allem die frühen 90er, bereitet Pollack differenziert auf, allerdings kommen hier auch noch einmal all jene bekannten Topoi zur Sprache, die hinlänglich bekannt sind: die Treuhand und die aus deren Politik der rigorosen Privatisierung resultierende Massenarbeitslosigkeit; die psychische Belastungen durch den raschen und kompletten Verlust von Heimat und Verbindlichem; die Abwanderung von jungen Menschen, vor allem Frauen; die Radikalisierung junger Menschen nach rechts als Ausdruck von radikaler Unabhängigkeit und eines gewissen radical chic. Interessant an diesen Untersuchungen sind die damals erhobenen Umfragen, die bis 1993/94 sogar eher von einem im Ganzen gesehen positiven Blick auf das neu entstehende Land gerade im Osten werfen. Und es ist, aus Sicht des Westdeutschen, interessant, daß Pollock darauf verweist, daß die Ostdeutschen mit den Wahlen vom März 1990 immerhin eine Möglichkeit hatten, über die Zukunft und die Art der Wiedervereinigung abzustimmen. Sie wählten jene Kräfte, die dann von Helmut Kohl vereinnahmt wurden. Die Westdeutschen wurden weder direkt noch indirekt je zu diesen Aspekten befragt. Die Wiedervereinigung wurde ihnen in gewissem Sinne mehr aufgedrückt, als den Ostdeutschen. Deshalb lehnt Pollack Begriffe wie „Kolonialisierung“ oder gar „feindliche Übernahme“ rigoros ab.

Geradezu hart gegenüber seinen ehemaligen Landsleuten wird Pollack dann vor allem im letzten Teil seiner Untersuchung. Die Entwicklung des „Wutbürgers“, des „kleinen Mannes“, der sich „abgehängt“ fühlt und „nicht gehört“, führt er auf etwas zurück, was man – nicht seine Worte! – als eine Art kollektives Aufmerksamkeitsdefizit benennen könnte. Psychologisch führt er das auf ein Selbstbewußtsein zurück, das sich auch aus der DDR-Erfahrung speist: Es besser zu wissen, weil man selbst an der Basis seine Beobachtungen macht und das „wahre Leben“ erfährt, „die da oben“, das „Establishment“, jedoch jedweden Kontakt zu diesem „einfachen Leben“ längst verloren haben. Es ist dies eine verkürzte Darstellung seiner weitaus differenzierteren Analyse. Die Dreistigkeit, die auch und gerade in der Selbstermächtigung jener „Spaziergänger“ liegt, die sich seit Jahren als PEGIDA in Dresden zu Montagsversammlungen treffen, benennt er klar. Der Rückgriff auf den – von Pollack schon zu Zeiten der Oktober- und Novemberdemonstrationen 89 kritisch gesehenen und auch da als eine Selbstermächtigung, gemessen an den wirklichen Teilnehmerzahlen gerechnet auf die Gesamtbevölkerung der DDR, betrachteten – Slogan „Wir sind das Volk!“ ist in seinen Augen sowohl ein Ausdruck von Selbstüberschätzung (in mancherlei Hinsicht), als auch eine Provokation.

Es ist dieser letzte Teil, der – u.a. in einer Besprechung von Stefan Mau in der Süddeutschten Zeitung vom 13-10-2020 – Unmut hervorruft, einen Unmut, den Pollack allerdings antizipiert. Man kann, gerade an der Fülle von Analysen und Studien gemessen, die sich mit PEGIDA und anderen eher rechtslastigen, demokratiefeindlichen Entwicklungen im Osten beschäftigen, durchaus der Meinung sein, daß Pollack hier allzu hart mit seinen ehemaligen Landsleuten ins Gericht geht. Allerdings sollte man nicht überlesen, daß er auch immer wieder um Differenzierung bemüht ist. Er verweist darauf, daß die heutige Bevölkerung der neuen Bundesländer bei Weitem nicht mehr vergleichbar jener ist, die sich 1989/90 aufmachte, in ein anderes Land und ein anderes System einzutreten, daß sich sowohl die Struktur als auch die Zusammensetzung verändert haben und vor allem, daß auch gemessen an absoluten Zahlen eine Mehrheit mit dem demokratischen System zufrieden ist und auch mit dem ökonomischen System der Marktwirtschaft.

Alles in allem ist dies eine interessante und lesenswerte Studie zur Entwicklung in der ehemaligen DDR. Und es tut – auch das sei einmal zugegeben – gut, wenn einmal kritische Anmerkungen zu einigen Entwicklungen von jemandem kommen, der selbst jener Gesellschaft des Ostens entstammt. Denn so kann nicht wieder der Vorwurf des „Besserwessis“ gebracht werden, der den Ostdeutschen mal eben ihre Geschichte und Entwicklung erklärt. Anders als bspw. Jana Hensel, die immer wieder ein „neues ostdeutsches Bewußtsein“ einfordert, dabei, zurecht, auch eine Auseinandersetzung mit dem Unrecht der DDR, fordert Pollack vielmehr ein Voranschreiten auf dem Weg einer wirklichen Einheit. Man muß mit seinem Fazit nicht zu Einhundert Prozent übereinstimmen, doch sollte man durchaus sehen, daß hier eine weitere interessante Stimme zu einem Gesamtbild beiträgt.

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