DIE REISE ZUM RISS

Peter Maxwill vermisst den vermeintlichen Riss in der deutschen Gesellschaft

Man liest die letzte Zeile, schließt das Buch, legt es zur Seite und stiert Löcher in die Luft. Wie man es bereits so häufig getan hat in den letzten Jahren. So viele Bücher, kluge und weniger kluge, die uns darüber belehrt haben, wie man mit Rechten reden solle, uns die Logik für Demokraten nahegelegt, den Hass und die Hetze erklärt haben, Bücher, die anklagten, Bücher die zur Diskussion anregen wollten, Erfahrungsberichte, Stimmungsberichte, wissenschaftliche und weniger wissenschaftliche Werke. Und jedes Mal saß man am Ende einer solchen Lektüre da und fragte sich: Und nun? Was tun? Ratlosigkeit blieb eigentlich immer das vorherrschende Gefühl.

Peter Maxwill hat nun mit DIE REISE ZUM RISS (erschienen im August 2019) einen weiteren Bericht zur Lage der Nation vorgelegt, der auch keine Hilfe bietet, dem es aber zumindest – in wohltuender Abgrenzung zu vielen seiner Vorgänger – gelingt, ein wenig Hoffnung allein dadurch zu verbreiten, indem er deutlich zeigt, daß man es nirgends mit in sich homogenen Gruppen zu tun hat. Weder auf der Rechten, noch auf der Linken, nicht in der Mitte und auch nicht bei Angehörigen des muslimischen Glaubens.

Maxwill, der seit 2015 für die SPIEGELonline-Redaktion arbeitet, hat das Land bereist, kreuz und quer, von West nach Ost, von Nord nach Süd, und dabei Menschen getroffen. Menschen, die wütend sind, Menschen, die sich nicht gehört fühlen, Menschen, die schreckliches Leid erleben mussten, Menschen, die sich sorgen, Menschen, die sich engagieren und versuchen, dem im Titel  behaupteten „Riss“ etwas entgegen zu setzen. Da gibt es ebenso durchschnittliche Bürger, vielleicht früher durchaus sozialdemokratisch orientiert, die mittlerweile ein Unwohlsein angesichts angeblich unbegrenzter Massenzuwanderung verspüren, wie es echte Reichsbürger gibt, die zur Waffe greifen, um sich des „Systems BRD“ zu erwehren, es gibt sogenannte „Prepper“, die sich bei aller vermeintlich apokalyptischen Weltsicht als durchaus pragmatisch und zugänglich erweisen. Es gibt jene, die in Hamburger Stadtteilen seit Jahren erfolgreich versuchen, das umzusetzen, was so gern und so indifferent „Mulit-Kulti-Gesellschaft“ genannt wird, es gibt Beispiele für gelungenes dörfliches Leben ebenso, wie es Beispiele dafür gibt, was geschieht, wenn die Zivilgesellschaft, gerade im ländlichen Raum, nicht mehr funktioniert und das Feld den Radikalen überlässt. Und es gibt Beispiele dafür, wieso Menschen gern daheim bleiben und das Bekannte dem Unbekannten vorziehen – und weshalb auch das vollkommen menschlich und in Ordnung ist. Maxwill hat Seenotretter und Migrationskritiker an einen Tisch gebracht, er hat das Projekt „Deutschland spricht“ begleitet und beobachtet, er ist immer wieder zu Prozessen wie den um die „Gruppe Freital“ gereist und hat jene Räume – in diesem Fall eben Dresden und Umgebung – besucht, die am rechten Rand auszufransen drohen und der Bildung terroristischer Vereinigungen Vorschub zu leisten scheinen.

In vier großen Kapiteln – ALLE IN ANGST. DIE SORGENREPUBLIK; HALLO HASS. DIE QUELLEN DES ZORNS; LAND OHNE LINIE. DIE IDENTITÄRSKRISE; KOLLEKTIVE KRISE. DER RECHTSRUCK – bietet er eine Unmenge an Beispielen für Hass und Hetze wie für Sorgen und auch berechtigte Wut, aber eben auch für gelungene Integration, gelungene Projekte und gelingendes Miteinander. Manches ist dem aufmerksamen Leser des SPIEGEL und dessen Onlineablegers bereits bekannt, wurden doch einzelne Texte dort im Laufe der vergangenen Jahre veröffentlicht. Zu jeden der vier Kapitel hat Maxwill zudem einen meist eher kurzen, jedoch prägnanten analytischen Essay verfasst.

Letztlich kommt er zu dem Schluß, daß gerade im Lager derer, die von der liberalen Gesellschaft als Bedrohung wahrgenommen werden – also der Hetzer, der Pöbler, der Lügner und Verleugner und jener, die von diesen Gefühlen profitieren, wie die AfD – bei Weitem nicht jene Hegemonie herrscht, wie es oft den Anschein hat. Aufgrund dieses Befundes ruft Maxwill zu sehr viel mehr Gelassenheit im Umgang mit dem um, was medial so gern als „Riss“ proklamiert wird, er fordert auf, miteinander im Gespräch zu bleiben, grenzt allerdings auch ab, wo ein Gespräch wirklich nicht mehr möglich scheint.

Man kann gerade dieser Schlußfolgerung nur zustimmen und dem Autor dankbar sein, daß er die Mühe auf sich genommen hat, all diese kleinen Geschichten, die Beispiele, die mal mehr, mal weniger bekannten Meldungen, zusammen zu tragen, die Orte der Geschehnisse aufzusuchen und mit den Protagonisten zu sprechen. Manches dürfte anstrengend gewesen sein, manches gefährlich, manches, wie bspw. das Treffen mit der Familie Genç, die 1993 Opfer eines fürchterlichen Brandanschlages auf ihr Wohnhaus in Solingen wurde, emotional aufwühlend. Besonders dankbar sollte man Maxwill sein, daß er Beispiele dafür gefunden hat, daß nicht jeder, der „besorgt“ ist gleich zum „Nazi“ mutiert, aber auch, wie es möglich ist, mit zugleich liberalen und harten Methoden ein gedeihliches Miteinander zu fördern, wie im belgischen Mechelen.

Und doch stellt sich, nachdem man die letzten Zeilen des Buches gelesen und es geschlossen hat eben wieder jene auch lähmende Stille ein. Wer liest das? Wen erreicht jemand wie Maxwill mit all seinen Bemühungen? Es sind letztlich immer diejenigen, die nach Lösungen suchen, die hinterfragen und zweifeln, eher nicht jene, die bereits eine eherne Meinung haben und sowieso meinen, im Recht zu sein. Und so kann man nur hoffen, daß einmal ein Buch wie dieses größere Wirkmacht entfaltet und muß doch befürchten, daß es an 12. oder 21. oder 27. Stelle im Regal eingereiht wird, neben all den andern gutgemeinten Ratgebern zur Logik, Gesprächsanleitungen, Erklärungen. Und daß das, was da postuliert wird – ein Riss in der Gesellschaft, der eben nicht zwischen Ost und West, oben und unten, arm und reich, sondern sehr viel diffuser und schwerer nachvollziehbar verläuft – schlicht nicht mehr aufzuhalten sein wird. Eine gruslige Vorstellung.

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