SO GEHEN WIR DENN HINAB/LET US DESCEND

Jesmyn Ward taucht tief in die amerikanische Geschichte hinab - und bringt den Leser*innen eine eigene, wahrhaftige Mythologie nahe

In ihrem vierten Roman SO GEHEN WIR DENN HINAB (LET US DESCEND; Original erschienen 2023; Dt. 2024) – man kann nur hoffen, dass auch ihr Debut WHERE THE LINE BLEEDS (2008) noch auf Deutsch erscheinen wird – begibt sich die bereits zweimal mit dem National Book Award ausgezeichnete Autorin Jesmyn Ward in die Niederungen der amerikanischen Geschichte, genauer: In die Niederungen des dunkelsten Kapitels der amerikanischen Geschichte, die Geschichte der Sklaverei.

Diese Geschichte wird den Leser*innen von der jungen Annis erzählt. Sie wurde in der Sklaverei geboren, wird früh ihrer Mutter entrissen, die ihr aber einiges beibringen kann, bevor sie für immer voneinander getrennt werden. Annis wurde von „ihrem“ Sire, also ihrem Besitzer, gezeugt, der sie an die „Georgia-Männer“ übergibt. Sie marschiert mit vielen anderen, die ihr Schicksal teilen gen Süden, nach New Orleans, wo sie schließlich bei einer Sklavenauktion an eine strenge Dame verkauft wird, auf deren Anwesen in Louisiana sie ab nun arbeiten muss. Schließlich gelingt Annis die Flucht und die zieht sich tief in die Sümpfe zurück, wo sie allein zu leben beschließt.

Das ist die äußere Handlung von Wards Roman. So einfach, so klar, will man meinen. Doch liegt die eigentliche Handlung tiefer, es ist, man kann es nicht anders sagen, eine Meta-Geschichte. Denn nicht nur versteht es Annis, also letztlich die Autorin Ward, vortrefflich von menschlichen – und damit allgemeingültigen – Gefühlen und Regungen wie Angst, Furcht, Hoffnung, Freundschaft, Fürsorge und schließlich der Liebe in ganz unterschiedlichen Facetten zu schreiben, vielmehr gelingt es ihr, ihren Roman in eine Mythologie einzuschreiben, wie es ihr gelingt, ihm eine Mythologie einzuschreiben. Oder anders, vielleicht besser ausgedrückt: In Ermangelung einer tatsächlich geschriebenen Geschichte der Schwarzen und ihres Leids, macht Ward sich daran, eine Mythologie auszuarbeiten, zu begründen, aus der eine historische Erzählung erwachsen kann. Ihr Roman verleiht Menschen, die in ihrer Zeit als solche nicht anerkannt wurden, die wie Vieh ge- und behandelt wurden, Würde. Ward gelingt es – und damit dockt sie nahezu mühelos an die Größten der Weltliteratur an – in die Geschichte selbst einzugreifen und somit eine echte, eine spürbare Verbindung mit jenen aufzubauen, von denen sie erzählt. Ein geradezu dialektischer Prozess, eine Handreichung über die Zeiten hinweg.

Durch ihre Mutter nicht nur im Stockkampf gebildet – mütterlicherseits entstammt Annis einem Geschlecht von Kriegerinnen, Amazonen, wenn man so will – sondern vor allem mit dem ausgestattet, was wir Heutigen als Oral History zu bezeichnen pflegen, also als mündlich überlieferte Geschichte, kann Annis eine Verbindung mit den Alten aufnehmen, versteht sich als Teil einer genealogischen Kette. Dabei hilft ihr der Luftgeist Aza, der seinen Namen von Annis´ Großmutter entlehnt hat, die schon bei der erzwungenen Überfahrt von Afrika in die Neue Welt von eben dieser Geisterscheinung begleitet wurde. Doch Aza fordert – Anerkennung, Liebe, auch Unterwerfung. Und vor allem fordert sie, dass Annis sich ihr hingibt, nicht den anderen Geistern, dem WASSER (die Großschreibung ist dem Roman entnommen) und auch nicht denen, Die geben und nehmen.

So eindringlich, drastisch realistisch und in dieser Realistik für die Leser*innen nur schmerzhaft zu ertragen jene Passagen sind, in denen Annis von ihrem Passionsweg erzählt, so metaphysisch, schon esoterisch muten jene Teile des Romans an, die von Annis Auseinandersetzungen mit Aza handeln. Das gleitet tatsächlich hier und da in Kitsch ab, doch sollte man sich deutlich vor Augen führen, dass Ward das genau so gewollt haben wird. Dieser Roman als Emanzipationsgeschichte ist eine Ermächtigung, er ist eine Emanzipationsgeste, eine Selbstbehauptung. Und genau so darf, ja muss sich die Autorin der Sprache bedienen, die sie für angemessen hält, die ihr zufällt, um einer als Erzählung überwältigenden Geschichte weißer Vorherrschaft eine bisher im Vergleich winzige schwarze Geschichte entgegenzuhalten. Eine Geschichte, die immer da war, immer da ist, die aber als Narrativ noch immer erst im Werden begriffen ist, die erst ausformuliert werden muss und die sich zu behaupten hat. Und die eine eigene Sprache zu definieren hat. Eine Sprache, die sich erschließt, manchmal aufdrängt, keine Sprache, deren Ecken und Kanten durch Hunderte Stunden Literaturunterricht abgeschliffen und bearbeitet wurde – auf die Bedürfnisse einer weißen Leserschaft hin. Hier entsteht etwas Neues, etwas noch Unfassbares.

Mythisch ist das nicht nur, wenn der Geist Aza, mit sehr menschlichen Stärken und Schwächen ausgestattet und damit eher einer Naturreligion entstammend als einem linearen Narrativ wie dem christlichen, ihr Recht einfordert. Das Recht auf Verehrung, das Geistern zustehe. Diese Auseinandersetzung – wie manche Regung Annis´, manche ihrer emotionalen, psychologischen Motive – ist für Leser*innen oft nur schwer nachvollziehbar und manchmal auch nur schwer zu ertragen, kann man der Argumentation doch kaum rational folgen, die hier zwischen Mensch (Annis) und Geist (Aza) ausgetauscht wird. Und manchmal ärgert man sich auch, weil es teils überflüssig wirkt, was da verhandelt wird. Und dann wieder begreift man, dass hier eben nicht nur eine historische Emanzipation stattfindet – eine junge Sklavin befreit sich aus dem Joch der Unterdrückung – sondern auch eine gesellschaftliche, weil hier letztendlich auch eine Frau sich aus patriarchalen Strukturen befreit, wenn sie sich entschließt, Aza nicht in die Stadt zu folgen oder sich den in den Sümpfen lebenden Abtrünnigen anzuschließen, sondern allein zu bleiben auf ihrer Lichtung, das Kind, das sie in sich trägt, allein zu gebären und groß zu ziehen. Leser – bewusst die männliche Form gewählt – werden begreifen müssen, dass hier in der Geste der Selbstbehauptung einer schwarzen Frau auch eine neue Sprache, eine andere Semantik greift, die das Rationale sprengt, ohne sich dabei in die Niederungen der reinen Genreliteratur zu begeben. Dies erinnert nicht nur an Werke der Weltliteratur wie Toni Morrisons MENSCHENKIND (1987), an Werke des magischen Realismus wie Gioconda Bellis BEWOHNTE FRAU (1988), es korrespondiert sehr selbstbewusst mit eben diesen. SO GEHEN WIR DENN HINAB reiht sich mühelos ein in diesen Reigen.

Schließlich und endlich findet hier auch eine kulturelle Emanzipation statt. Der Roman, den man in Händen hält, ist Teil dieser kulturellen Emanzipation. Indem Jesmyn Ward genau die Sprache nutzt, die sie nutzt (und an dieser Stelle dank an Ulrike Becker, die den Roman kongenial übersetzt hat), genau die Geschichte erzählt, die sie erzählt, gelingt es ihr, Annis in die (Literatur)Geschichte einzuschreiben als ein Wesen, welches sich stemmt gegen historische Betrachtung und dieser eine eigene Wahrnehmung und eben Mythologie entgegensetzt. Annis mag eine literarische Figur sein – wie die Figuren Dickens´, wie eine Scarlett O´Hara, wie ein Oskar Matzerath wird auch sie den literarischen Rahmen übertreten und in eine weiter gefasste Ordnung eintreten, in welcher sie für einen Schritt stehen wird, der eine kulturelle Weiterentwicklung bedeutet. Sie wird ein Bindeglied sein zwischen Mythos und Geschichte. Sie wird den einen hinter sich lassen und die andere betreten – und verändern.

Der Titel des Romans ist einer der wesentlichen christlichen und einer der wesentlichen Erzählungen der Neuzeit entnommen: Dantes GÖTTLICHER KOMÖDIE. Er verweist auf das INFERNO und das PURGATORIUM dieses zentralen Werks der Menschheitsgeschichte. Und somit verweist es auf einen Moment in der kulturellen Entwicklung an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit, da der Mensch als Subjekt in die Geschichte eintrat. Annis kennt diese Erzählung, weil sie auf der Plantage auf der sie geboren und aufgezogen wurde, dem Lehrer ihrer weißen Halbgeschwister lauschen konnte, als der diesen Dantes großen Gesang nahezubringen versucht. Und Annis begreift später, dass das, was sie auf dem Marsch nach New Orleans und auf dem Sklavenmarkt erlebt, genau dem entspricht, was sie einst erlauscht hatte. Und so beginnt ihr Leidensweg als einer, der dem abendländischen Narrativ entspricht. Selbst im Leiden gehören diese Menschen noch einer fremden Macht. Umso wesentlicher also, dass sich Annis in der Auseinandersetzung mit Aza und den anderen Geistern (die freilich nicht zu ihr sprechen und erst recht nicht mit ihr) auch und gerade aus dieser – ebenso weißen wie patriarchalen – Umklammerung befreit. Es ist genau diese Befreiung, die der Roman SO GEHEN WIR DENN HINAB leistet und bezeugt. Ward setzt bei dieser Befreiung schließlich auf das Matriarchat als mögliche (und mythische) Hoffnung. So kommen in ihrem Roman die Ebenen der weiblichen, der gesellschaftlichen und der kulturellen Emanzipation zur Deckung.

Das ist keine leichte Kost, das ist trotz seiner gerade einmal 300 Seiten Fließtext Arbeit und es ist für weiße und (in diesem Fall) männliche Leser eine doppelte Herausforderung. Denn immer wieder wird man mit dem eigenen Unwillen, der eigenen Bequemlichkeit konfrontiert. Immer wieder wird man geradezu darauf gestoßen, was männliche Macht bedeutet und wie man möglicherweise selbst in eben diese verwickelt ist. Dies in Zeiten eines Donald Trump und einer historisch gesehen reaktionären Phase der Geschichte so deutlich präsentiert zu bekommen, ist eigentlich das höchste Lob für einen Roman. Doch geht dies weit darüber hinaus. Es ist ein widerständiger Roman, der seine Leser*innen während der Lektüre immer wieder herausfordert. Auch beleidigt, verletzt, bespuckt, abstößt und dann doch wieder mitzieht. Bei all seiner Widerständigkeit, all dieser Herausforderung – nein, genau deswegen! – ist die ein literarisches Ereignis. Denn es hat ja nie jemand behauptet, dass Literatur einfach oder gar eingängig sein müsse. Sie muss wahrhaftig sein. Das genügt.

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