DAISY MILLER
Henry James kompakt
Henry James? Ja, da war doch was. Ein paar Filme Ende der 70er, zu Beginn der 80er Jahre, inszeniert von einem Mann namens James Ivory. Ach, das waren Literaturverfilmungen…dann sollte man sich also mal der Literatur von Henry James widmen, auch wenn sie in den vergangenen Dekaden eher selten noch für Aufsehen sorgte. Also – irgendjemand, der einen Einstieg in die Literatur des Henry James sucht? Gut, zu empfehlen wäre da DAISY MILLER (Original erstmals 1878 erschienen; Deutsch hier in der Übersetzung von Armin Fischer und Wulf Persson). Ein kurzer Text, eine Novelle, griffig und gut zu lesen und zudem enthält sie alles, was James auszeichnete, was seine Literatur so berühmt, was sie ausmachte. Psychologische Genauigkeit, das (Spannungs-)Verhältnis zwischen den „modernen“ USA und dem „alten“ Europa und eine sehr genau gezeichnete, moderne Frauenfigur, eben die titelgebende Daisy Miller.
Die ist eine junge, recht lebenshungrige Dame aus den USA, die der ebenfalls noch recht junge Frederick Winterbourne bei einem Aufenthalt bei seiner Tante im schweizerischen Vevey kennenlernt. Schnell verfällt er ihr und die Zuneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Doch irgendwann muß Winterbourne wieder abreisen, wesentliche Geschäfte treiben ihn zurück nach Genf, wo er seit geraumer Zeit lebt. Ein halbes Jahr später reist Winterbourne nach Rom, wissend, daß seine Angebetete dort mit ihrer Familie weilt. Doch muß er feststellen, daß es mittlerweile sehr hartnäckige Nebenbuhler gibt – und Daisy Millers Zuneigung offenbar nicht mehr nur ihm gilt, sondern ebenso ihrem italienischen Verehrer. Und genauso, wie zuvor Frederick darauf hingewiesen wurde, daß Daisy Miller aufgrund ihrer Herkunft, mehr noch aufgrund ihres Verhaltens nicht für ihn in Frage komme, wird sie nun – auch von Frederick selbst – neuerlich aufgrund ihres Verhaltens gesellschaftlich geächtet…
Henry James präsentiert diese auktorial erzählte Geschichte in einem nahezu ausschließlich amerikanischen Setting in Europa. Eine bestimmte, zu seiner Zeit vergleichsweise neue amerikanische Oberschicht, der es durch neuen Wohlstand möglich war, ausgedehnte Europareisen zu unternehmen, stellt das Personal seiner Novelle. Man gibt sich kulturbeflissen, zugleich ist der Abstand zu den Europäern, die als „veraltet“ wahrgenommen werden, immer zu spüren, wird auch betont. Man verkehrt in besseren Kreisen, doch größtenteils bleibt man unter sich. Doch bedeutet dies keineswegs, daß auch amerikanischer Liberalismus und eine gewisse Freigeistigkeit von diesen Menschen ausgehen. Vielmehr zeichnet James sie so, daß der Eindruck einer ebenfalls neuen amerikanischen Aristokratie entsteht. Diese Menschen definieren sich dabei allerdings nicht über ihre Abstammung, sondern vielmehr über ihr Bankkonto. Geld – und da schaut Henry James so genau auf das Verhalten seiner Landsleute, wie es Anthony Trollope und vor ihm Jane Austen in der britischen Literatur taten – bestimmt den Rang und die Stellung einer Person. Aber sie muß sich auch zu benehmen wissen. Wer sich, wie Daisy Miller, unkonventionell, gar libertär benimmt, der fällt durch das gesellschaftliche Raster und wird gebrandmarkt, wenn nicht gar ausgestoßen. In einer langen Szene, eine Feier bei Mrs. Walker, einer Freundin von Winterbournes Tante, wird beschrieben, wie selbst wohlgesonnene Gäste – und die Gastgeberin – sich über Daisy Millers Verhalten empören.
Besonders geschickt ist James´ Charakterisierung der jungen Dame selbst. Man könnte gar von einer Nicht-Charakterisierung sprechen. Denn Daisy Millers Verhalten ist erratisch, wird nie erklärt, weder durch den Erzähler, noch durch die junge Dame selbst. Sie scheint mit den Gefühlen der Menschen – der Männer, wenn man so will – zu spielen, sie erscheint egozentrisch, vollkommen ich-bezogen und ohne Skrupel, andere gegeneinander auszuspielen. Hinzu kommt, daß sie sich dann, wenn sie in die Ecke gedrängt wird, mit ihrem Charme aus eben dieser heraus zu lavieren sucht – und ihr dies meist wohl auch gelingt. So bleibt die Erzählung immer prekär, keine der auftretenden Figuren ist wirklich positiv oder rein negativ besetzt. Offenbar genießt diese junge Frau ihre Freiheit, die ihre Abstammung als Amerikanerin ihr sozusagen wie selbstverständlich verschafft, die möglicherweise aber auch durch die Fremde definiert ist, in der sie sich aufhält.
James nutzt ein nahezu melodramatisches Ende – Daisy Miller infiziert sich bei einem abendlichen Spaziergang mit ihrem italienischen Verehrer mit dem „römischen Fieber“ und stirbt – um seine Heldin der Analyse und Erklärung komplett zu entziehen. Durch diesen Tod bleibt sie ein Rätsel, ein Enigma, aus dem schlau zu werden, keinem der Hinterbliebenen, am wenigsten Winterbourne, gelingt. Da Winterbourne an jenem Abend, da Daisy Miller mit ihrem Verehrer ins Kolosseum spazieren ging anwesend war und sie mehrfach vor der Gefahr, sich dort anzustecken, gewarnt hatte, bleibt sogar ein Restverdacht, daß die Amerikanerin gar eine dunkle Todessehnsucht umgetrieben haben könnte. Besser, in großen Gefühlen unterzugehen, als in einem trüben Leben dahinzusiechen. Doch sollte man nicht zu weit gehen mit dieser Interpretation, James deutet sie allerhöchstens an. Winterbourne allerdings ahnt, daß sein Urteil über Daisy Miller ein Fehler gewesen sein könnte, daß er ihr mir seinen letztlich den Konventionen entsprechenden Vorurteilen nicht gerecht geworden ist.
Zu James´ schriftstellerischer Kunst allerdings gehört, daß er ein melodramatisches Ende gänzlich ohne Melodramatik, ohne Pathos erzählt. Daisys Tod wird fast nebenbei erwähnt, wesentlicher scheint die Reaktion ihrer Verehrer, so bspw. die ruhige Gewissheit des Italieners, der sich sicher war, daß sie ihn niemals geheiratet hätte, vielmehr habe ihre Liebe einem andern, einem amerikanischen Landsmann gehört. Winterbourne kann sich nur denken, kann nur hoffen, daß damit seine Wenigkeit gemeint war. Und er wird sein Leben in dem Wissen leben müssen, daß er zwar glaubte, in ihr eine Liebe gefunden zu haben, diese Liebe aber leichtfertig verschmäht hat, da er sich den oben erwähnten Vorurteilen hingegeben hatte.
Wer einen Einstieg in das Werk des Henry James sucht, der findet ihn hier geradezu exemplarisch: Die James´schen Themen, seine genaue Betrachtung der menschlichen Konditionen, der Unterschied, das Spannungsfeld zwischen Amerikanern und Europäern, die ausgesprochen genau beobachteten psychologischen Bedingungen seiner Zeitgenossen – all das ist hier vorhanden. Vorhanden in einem kurzen, griffigen Text, der sich gut an einem langen, herbstlichen Sonntagnachmittag lesen und genießen lässt.